Mit dem Rücken zur Wand

Update: Seit Oktober 2003 versucht Boliviens Präsident Carlos Mesa die sozialen Proteste in den Griff zu bekommen, jetzt hat er nach neuen massiven Protesten seinen Rücktritt eingereicht

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Nur wenige Stunden, bevor der Präsident vor die Fernsehkameras trat, hatte die Opposition erneut zur Ausweitung der Proteste aufgerufen. Seit fast zwei Wochen blockieren Anhänger von sozialen Organisationen, Nachbarschaftskomitees und Gewerkschaften die Straßen nach La Paz, dem Sitz der Regierung. Inzwischen ist das Benzin knapp, Sitzungen des Parlamentes mussten wiederholt abgesagt werden. Ungewöhnlich ist das nicht: Seit Carlos Mesa vor anderthalb Jahren zum Präsidenten Boliviens ernannt wurde, kommt das Land nicht zur Ruhe. In der Nacht zum vergangenen Freitag kündigte er daher landesweite Referenden über regionale Autonomie und Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober an. Die Proteste konnte er damit nicht beenden.

Demonstration in La Paz am 4. Juni. Foto: Indymedia Bolivia

Der Streit zwischen Mesa und den sozialen Organisationen in Bolivien hatte sich erneut entzündet, als Mesa im Mai ein Energiegesetz verabschieden lies. Internationalen Energiekonzernen wurde damit eine Abgabe in Höhe von 18 Prozent und eine Umsatzsteuer von bis zu 32 Prozent auferlegt. Er blieb damit klar hinter den Vorgaben der Bevölkerung zurück. Diese hatte sich in einer Volksabstimmung im vergangenen Jahr für Abgaben von 50 Prozent ausgesprochen. Der Umgang mit den reichen Gasvorkommen ist entscheidend, denn es geht um die Umkehr der antisozialen Privatisierungspolitik der neunziger Jahre. Nach der Öffnung der einst staatlichen Energieindustrie hatte damals ein Ansturm auf das bolivianische Gas begonnen. Gut zwei Dutzend internationale Konzerne haben seither ihre Arbeit in dem Andenstaat aufgenommen, von den Profiten blieb kaum etwas im Land.

Die Proteste gegen den Ausverkauf des natürlichen Reichtums hatten im Oktober 2003 bereits zum Sturz von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada geführt. Als sein Vertreter Carlos Mesa die Amtgeschäfte übernahm, versprach er einen Politikwechsel. Davon ist aber auch anderthalb Jahre später nichts zu spüren.

Fragwürdige Manöver

Während Mesa sich erst nach langem Zögern zur minimalen Auflage von Steuern und Abgaben für die transnationalen Energieunternehmen durchrang, fordern die sozialen Organisationen des Landes inzwischen eine komplette Verstaatlichung der Erdgasvorkommen. Diese Position wird vor allem von Arbeitern und Indigenen vertreten, Mitgliedern der veramten Schichten also. Sie hoffen, dass mit den Einkünften aus der Erdgasindustrie eine neue Sozialpolitik finanziert werden kann. Vor jedem weiteren Schritt müsse daher eine Verstaatlichung dieser Schlüsselindustrie stehen. Abrücken werden sie von dieser Position kaum, denn in dem an Ressourcen reichen Land leben inzwischen schätzungsweise 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Es spricht der Realität Hohn, wenn Carlos Mesa die Proteste als Aufstand einer Minderheit abtut. Auch wenn die Opposition bis zu 30.000 Menschen mobilisieren könne, so Mesa, habe das Land neun Millionen Einwohner. Diese Rhetorik erinnert stark an die Darstellungen seines Amtsvorgängers Sánchez de Lozada. Dieser hatte die sozialen Proteste als „Aufruhr von Vandalen, Extremisten und Radikalen“ abgetan, um Polizei und Armee gegen die Demonstranten zu schicken. Bei den Auseinandersetzungen im Herbst 2003 fanden Dutzende Menschen den Tod, die Zahl der Verletzten ging in die Hunderte. Am Ende musste Sánchez de Lozada trotzdem kapitulieren: Im Oktober 2003 floh er nach Miami, USA.

Solche Repression hat Mesa bisher abgelehnt. Statt dessen versucht er die Lage mit dem vermeintlichen Zugeständnis zu beruhigen. Der politische Nutzen ist strittig. Zwar setzte er per Dekret die Autonomieabstimmungen und die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung für den 16. Oktober fest. Dies war de iure aber nur in der Annahme möglich, dass das Parlament beidem zustimmt. Geschieht dies nicht, bleibt alles beim alten. Auch aus diesem Grund haben die sozialen Organisationen die Proteste aufrechterhalten.

Arme gegen reiche Regionen

Indem Mesa die Forderung nach der Verstaatlichung der Erdgasvorkommen ausklammert, um auf die Forderung nach regionaler Autonomie einzugehen, bezieht er klar Stellung. Auf die (wirtschafts-)politische Selbstständigkeit nämlich besteht allein die Oberschicht der reichen Landesteile. Im südöstlichen Verwaltungsbezirk Santa Cruz hat sich ein „zivil-unternehmerisches Komitee“ gegründet, das maßgeblich von der Industrie- und Handelskammer getragen wird. Auch den Unternehmerkreisen ist klar, dass eine privatisierte Gasindustrie gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung auf Dauer nicht zu halten ist. Eine Autonomie der reichen Provinzen wäre eine Versicherung zur Fortführung des Ressourcenraubes über jeden Regierungswechsel hinweg.

So stehen sich anderthalb Jahre nach dem Sturz von Sánchez de Lozada die reichen und armen Landesteile unversöhnlich gegenüber. Und die Auseinandersetzungen werden härter. Weil Mesa sich der Etablierung eines neuen Sozialpaktes verweigert, weil dazu die Rücknahme der Gasprivatisierung notwendig wäre, trägt er maßgeblich zur Polarisierung bei. Angesicht der demonstrativen Zurückhaltung des Staates nehmen die Konfliktparteien das Schicksal in die eigene Hand. In Santa Cruz traten in den vergangenen Wochen immer wieder paramilitärische Gruppen in Erscheinung. Zunächst anonym, „verbieten“ sie inzwischen offen jede Demonstration, die nicht die Forderung nach politischer und wirtschaftlicher Autonomie unterstützt.

Mesa reicht Rücktritt ein

In der Nacht zum Dienstag nun hat Präsident Carlos Mesa in einer zweiten Fernsehansprache seinen Rücktritt angeboten. Am Vortag hatten die Proteste einen neuen Höhepunkt erreicht. Zehntausende Demonstranten legten den Regierungssitz La Paz lahm. Bei Zusammenstößen mit der Polizei gab es mehrere Verletzte, nach Angaben der Sicherheitskräfte wurden 22 Personen festgenommen. Mesa will sein Abdankungsgesuch nun dem Kongress vorlegen.

Es ist sein zweiter Rückzug binnen weniger Wochen, denn bereits im März wollte Mesa aus dem Amt scheiden. Er nahm das Angebote jedoch zurück, nachdem die Parteien im Parlament eine Reihe seiner Forderungen erfüllt hatten. Die Opposition bezeichnete den damaligen Rücktritt daher als Manöver, um die Regierungsposition zu stärken. Tatsächlich wäre mit einem Rücktritt des Präsidenten auch zum jetzigen Zeitpunkt niemandem gedient. Beide mögliche Nachfolger, Senatspräsident Hormando Vaca Diaz und Parlamentspräsident Mario Cossio, gelten als Verfechter der Privatisierungspolitik.

Die größte Oppositionspartei "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) lehnte das Rücktrittsangebot daher erneut ab. Stattdessen fordert der MAS-Vorsitzende Evo Morales die unmittelbare Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung und Neuwahlen. "Wir sind eine demokratische Bewegung und werden eine demokratische und verfassungsgemäße Lösung unterstützen", sagte Morales. Neuwahlen müssten von Präsidenten den Obersten Gerichtshofes festgelegt werden.