Miteinander sprechen - Einander zuhören
Neue Ansätze für einen Dialog mit Russland
Empathie, die Fähigkeit, sich in die Lage des Anderen hinein zu versetzen, ist dank der Spiegelneuronen tief in der Biologie des menschlichen Gehirns verankert. Entsprechend selbstverständlich erscheint im Privatleben immer wieder der Ratschlag, die eigene Perspektive für einen Moment zu verlassen und die erlebte Situation aus dem Blickwinkel des Partners oder des Freundes zu betrachten. So hilfreich und natürlich die menschliche Angewohnheit zum Perspektivwechsel für das tägliche Miteinander ist, so erstaunlich abwesend erweist sie sich in der Erinnerung an historische Ereignisse und in der Politik.
Dialog unter Schwerhörigen
"Hören wir doch endlich damit auf, uns ewig von Nationalgeschichte zu Nationalgeschichte zu unterhalten, ohne uns gegenseitig zu verstehen", mahnte der französische Historiker Marc Bloch schon vor rund einhundert Jahren. Bis heute sind wir der Gewohnheit verhaftet, Geschichte jeweils aus dem eigenen nationalen Blickwinkel zu erinnern und zu gedenken. Bloch warnte daher vor einem "Dialog unter Schwerhörigen", wenn zwei unterschiedliche nationale Erinnerungen auf einander prallen.
Um einen Ausweg aus dem "Dilemma der Schwerhörigen" zu ermöglichen hat Aleida Assmann, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Jan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, das "dialogische Erinnern" bewusst dem "monologischen Erinnern" entgegengestellt. In "Der europäische Traum" schreibt sie:
Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt, bietet die dialogische Erinnerung ebenfalls Platz für eigenes Leiden, aber sie nimmt auch den Nachbarn zugefügtes Leid mit ins eigene Gedächtnis auf. Dialogisches Erinnern meint keinen auf Dauer gestellten ethischen Erinnerungspakt, sondern das gemeinsame historische Wissen um wechselnde Täter- und Opfer-Konstellationen in einer geteilten traumatischen Gewaltgeschichte. Ein vereinigtes Europa braucht kein einheitliches, wohl aber ein kompatibles europäisches Geschichtsbild.
Aleida Assmann
Bewusstsein für die Perspektive des Anderen
Ebenso wie im Geschichtsbewusstsein viel zu oft eine "historische Empathie" für die Erfahrung anderer Länder oder Gruppen fehlt, so ist die Fähigkeit zum Perspektivwechsel in der Politik und in der politischen Analyse selten. Gerade im Gespräch zwischen dem Westen und Russland ist der Versuch des Perspektivwechsels leider die Ausnahme. Der Dialog auf offizieller Ebene scheint aktuell komplett festgefahren. Immer mehr gleicht die herrschende Kommunikation einer Dauerschleife gegenseitiger Beschuldigungen.
Interessanterweise stellt sich aber die Erkenntnis ein, dass ein wirklicher Dialog zwischen dem Westen und Russland nicht ohne den Perspektivwechsel möglich sein kann.
Wolfgang Ischinger, deutscher Spitzendiplomat und Leiter Münchner Sicherheitskonferenz, erkannte bereits Ende 2015, dass divergierende Narrative über die jüngste Vergangenheit "ein zentrales Problem der heutigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen" seien.
Das "Panel of Eminent Persons" der OSZE mit dem sprechenden Titel "Back to Diplomacy", dem Ischinger vorsaß, hat entsprechend einen interessanten und originellen Ansatz gewählt. Ziel des Panels war gleichermaßen die Darstellung der westlichen, aber auch der russischen sowie der Perspektive der Länder Osteuropas. Die Begründung hierfür ist ebenso schlicht wie überzeugend:
Anstatt nach einem unmöglich zu erreichenden Konsens-Narrativ zu streben, sind wir der festen Überzeugung, dass eine nüchterne Diskussion historischer Erkenntnisse und Interpretationen, die sich auf archivbasierte Forschung und dem Verständnis des historischen Kontextes stützt, notwendig ist, um Lehren aus der Vergangenheit für heute zu ziehen und Wege aus dem gegenwärtigen Stillstand zu finden, wieder Vertrauen zu schaffen und die europäische Unsicherheit zu überwinden.
Panel of Eminent Persons
Auf Anraten des "Panel of Eminent Persons" organisierte die OSZE das Projekt "The Road to the Charter of Paris. Historical Narratives and Lessons for the OSCE Today". Wie der Schweizer Historiker Christian Nünlist, Autor des gleichnamigen Papiers, erklärt, sind "historische Narrative kein Hindernis, um voranzukommen, sondern eine wichtige Ressource für den Dialog über die jüngste Vergangenheit." Weiter schreibt er: "Wir argumentieren, dass der Schlüssel zur Versöhnung in der Steigerung des gegenseitigen historischen Empathie liegt und darin, Nuancen und Komplexität in bereits bestehende vereinfachte und einseitige Narrative hinzuzufügen."
Mediativer Dialogansatz
Einen weiteren vielversprechenden Ansatz verfolgt inmedio peace consult (Berlin), die gemeinsam mit dem Institute for Law and Public Policy (Moskau) zwei viertägige Workshops zum Thema "Dialogue on Conflicting Narratives 'Russia and 'the West'" durchführte. Knapp 20 russische, deutsche und schweizer Experten aus Wissenschaft, Think Tanks und NGOs sowie Journalisten und Kulturaustausch-/Dialogpraktiker nahmen an diesem Dialogprojekt teil, das vom Auswärtigen Amt gefördert wurde.
Mit Hilfe eines mediativen Dialogansatzes sollten die russischen und westlichen Narrative analysiert sowie reflektiert und so ein besserer Dialog erreicht werden; ein Dialog, bei dem es nicht darum geht, Dampf abzulassen und dem Anderen dessen Fehler vorzuhalten, sondern ein Dialog, in dem man miteinander spricht und einander zuhört.
Wissen, wo die andere Meinung herkommt
"Verstehen ist nicht gleichbedeutend damit, einverstanden zu sein", ist ein zentraler Grundsatz der Mediation. Meinungen wurden und sollten nicht bewertet werden. Stattdessen unterstützten die beiden Mediatoren Ljubjana Wüstehube und Dirk Spinter jede Meinung der verschiedenen Teilnehmer in gleicher Weise. Neben dem Fokus auf das Zuhören und dem Raum, den jeder Teilnehmer zur Darstellung seiner Ansicht erhielt, stand auch der persönliche Kontakt im Vordergrund. Dadurch entstand ein Dialog zwischen Menschen und nicht zwischen Meinungen. Ein Teilnehmer beschrieb dies so: "Es ist viel schwieriger, eine andere Person und ihre politischen Überzeugungen zu verurteilen, wenn man weiß, wo sie herkommt."
Durch diesen Ansatz, der grundverschieden von den typischen Konferenzen ist, bei denen politische Akteure auf einandertreffen, wurden hier die Teilnehmer offener für die Meinung des Anderen und seine dahinter stehenden Gefühle. Die Empathie der Menschen erhielt ihren Platz.
Die sogenannte "Conflict Perspectives Analysis" (CPA), die ein zentrales Element des Dialog-Ansatzes von inmedio peace consult darstellt, zielt darauf ab, dass die Teilnehmer nicht nur intellektuell die Interessen und Motivationen der Konfliktparteien verstehen, die die Grundpfeiler der jeweiligen Sichtweise bilden, sondern dass sie versuchen, die dahinter stehenden Wünsche, Ängste und Sorgen der Parteien zu erspüren. Also, nicht nur die wichtige Frage zu beantworten, wie die Perspektive des Anderen aussieht, sondern auch, wie es sich anfühlt, in den "Schuhen des Anderen" zu sein.
Kollektive Blinde Flecken
Ein konkretes Resultat dieser Herangehensweise war die Entdeckung sogenannter Blinder Flecken auf westlicher und russischer Seite und der Ausbildung eines Gefühls, was der bisher unbekannte Aspekt in der Lebenswirklichkeit der anderen Seite bedeutet.
Bei dem leicht missverständlichen Begriff des "Blinden Fleckens" gilt es zu berücksichtigen, dass ein Kollektiver Blinder Fleck im Mainstream-Narrativ keineswegs bedeutet, dass auch Experten sich dieses Aspekts nicht bewusst sind. Zudem ist auch wichtig zu betonen, dass es um Kollektive Blinde Flecken in der Gegenwart geht. Bezeichnenderweise gibt es Aspekte, die früher durchaus als Lebenswirklichkeit der anderen Seite wahrgenommen wurden, die heute aber schlicht vergessen oder verdrängt sind. Zudem ist wichtig zu bedenken, dass es bei der Benennung Kollektiver Blinder Flecken weniger darum geht, ob diese aus historischer Betrachtung tatsächlich "wahr" sind, sondern ob sie im Mainstream-Narrativ als "wahr" empfunden werden.
Vergleicht man die Narrative beider Seite, stellt man fest, dass einige zentrale Aspekte in einem Narrativ in der Wahrnehmung der jeweils anderen Seite überhaupt nicht auftauchen. Diese Blinden Flecken dienen daher nicht nur dem besseren Verständnis, sondern können auch als "Brücken zur Verständigung" dienen, indem sie sich auf bisher unbekannte Aspekte konzentrieren, bei der ein Perspektivwechsel vergleichsweise einfach und möglich ist.
Ich sehe was, was Du nicht siehst
Die Liste der entdeckten Kollektiven Blinden Flecken ist lang und findet sich im Abschlusspapier.
Hier jeweils zwei Beispiele für die westliche und die russische Seite:
- Ein zentraler Kollektiver Blinder Fleck des Westens ist die fehlende Wahrnehmung, dass Russland den massiven Eindruck hat, sein entscheidender Anteil am Ende des Kalten Krieges, seine Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung, sein Verzicht auf Anwendung von Gewalt zum Erhalt seiner geostrategischen Einflusssphäre in Osteuropa und seine Zustimmung, dass das wiedervereinigte Deutschland der NATO angehören dürfe, seien nicht gebührend gewürdigt wurden. Das entscheidende Versprechen, gemeinsam mit Russland eine paneuropäische Sicherheitsstruktur aufzubauen, deren Mitglied auch Russland sein würde, wurde nicht eingelöst. Stattdessen fand sich Russland draußen vor der Tür des neuen Europäischen Hauses wieder.
- Ein weiterer wichtiger Blinder Fleck des Westens ist die fehlende Wahrnehmung, welche gravierenden Auswirkungen die ökonomische Schocktherapie auf das Leben der meisten Russen hatte, die unmittelbar nach Auflösung der Sowjetunion begann und vorübergehend einen wirtschaftlichen Niedergang auslöste. Der schwedische Ökonom Anders Åslund berechnete, dass Wirtschaftskraft und Lebensstandard in Russland während der Transformationskrise stärker gesunken waren als in den USA nach 1929. Die Erfahrung der 90er Jahre prägen weiterhin zutiefst das russische Selbstverständnis (die Enttäuschung über die "westlichen Werte" und die Zweifel der Demokratie, die mit einem verheerenden wirtschaftlichen Niedergang verbunden war). Dies spielte aber in der westlichen Wahrnehmung keine Rolle.
- Auf russischer Seite hat sich das Narrativ eingebürgert, dass es nach 1989 eine kohärente Agenda auf Seiten der USA und des Westens gegeben hätte, Russland sicherheitspolitisch keinen Platz zu geben und die NATO bis an die Grenze Russlands auszudehnen. Auch wenn aus russischer Sicht sich die historische Entwicklung als eine logische Abfolge präsentieren mag, so übersieht sie, dass viele politische Entscheidungen das Resultat einer ganz bestimmten konkreten Situation waren und sich teilweise sogar widersprochen haben.
- Das russische Narrativ vermag auch nicht wahrzunehmen, welche Schockmomente die Ermordung von Anna Politkoswskaja, die Verurteilung von Michail Chodorkowski und die beiden Tschetschenien-Kriege im Westen ausgelöst haben. Während sie im Westen Hinweis und Bestätigung auf eine mangelnde Menschenrechts-Situation und fehlendes Demokratieverständnis zu sein schienen, sind diese Aspekte in Russland Teil der Innenpolitik und der Souveränität Russlands. Die außenpolitische Bedeutung innenpolitischer Entscheidungen wird im russischen Narrativ aber nicht wahrgenommen.
Dialog ist lebensnotwendig
William Perry, ehemaliger US-Verteidigungsminister von 1994-97, erhielt von seinen Kollegen, denen er die russische Perspektive wiederholt darlegen wollte, oftmals die genervte Reaktion: "Wen interessiert es, was die Russen denken? Sie sind eine drittklassige Macht." Eigentlich sollte es auf der Hand liegen, dass zwischen Ländern genau so wenig Verständnis und Vertrauen hergestellt werden kann, wie zwischen Menschen, wenn man schlicht aus Selbstgefälligkeit nur Desinteresse für die Lebenswirklichkeit und die Perspektive des Anderen hat.
Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier betonte immer wieder die Notwendigkeit, mit Russland den Dialog zu suchen und im Dialog zu bleiben. Er unterstreicht: "Ganz unabhängig von Putin - wir dürfen nicht Russland insgesamt, das Land und seine Menschen, zum Feind erklären. Es gibt praktisch keine Vertrauensbasis mehr - auf beiden Seiten. Dieser gefährlichen Entfremdung entgegenzuwirken, ist die eigentliche Herausforderung und Aufgabe verantwortlicher Politik."
Damit dieses wichtige Ansinnen auch gelingen kann, ist zu wünschen, dass zum einen die politischen Akteure bereit sind, das Narrativ der anderen Seite anzuerkennen und zu verstehen zu versuchen, und zum anderen, dass auch die zentrale Bedeutung der Empathie, deren Potential sich gerade im mediativen Ansatz offenbart, endlich ihren zentralen Platz im Dialog und der Völkerverständigung findet.
Der Autor war Teilnehmer des Workshops "Dialogue on Conflicting Narratives 'Russia and 'the West'".
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