"Mond": MMA-Kämpferin trifft arabische Prinzessinnen

Copyright Grandfilm
Aufwühlend: Kurdwin Ayubs Film ist ein phänomenaler, souverän inszenierter Trip, der den Blick für unsere Käfige und Abgründe öffnet. Sehr unterhaltsames Kino.
Ship me somewhere east of Suez, where the best is like the worst, Where there aren't no Ten Commandments and a man can raise a thirst
Rudyard Kipling, "Mandalay"
Ich möchte das Publikum richtig aufwühlen. Manchmal glauben die Leute nämlich nur, sie seien aufgewühlt, sind es aber gar nicht.
Kurdwin Ayub
Wie leben junge Frauen in arabischen Ländern?
Wie kann man existieren in der Welt des 21. Jahrhunderts zwischen globalen Social-Media, kapitalistischem Konsumzwang und dem Überfluss der allpräsenten Shopping-Malls einerseits – und auf der anderen Seite: der traditionalistischen Moral und einem Patriarchat, das oft genug mehr noch als durch Väter durch verunsicherte und auch darum gewalttätigen Brüder repräsentiert wird?
Einen abgründigen Einblick in diese Welt liefert jetzt der Film einer jungen Frau, die weiß, wovon sie erzählt: Die Österreicherin Kurdwin Ayub wurde 1990 im Irak geboren und floh als Kleinkind mit ihren zur kurdischen Minderheit gehörenden Eltern in den Westen.
Schon in mehreren Kurzfilmen und ihrem Langfilm-Debüt "Sonne" (das 2022 bei der Berlinale mit dem Preis für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde) hat Ayub vom Leben zwischen zwei Welten als österreichisch-kurdische junge Frau erzählt.
Das Versprechen des Orients für den Westen: Flucht vor dem Anstandsregime
Der "Orient" ist das Versprechen des Anderen. Die Chiffre steht für unsere exotischen Fantasien.
Sie erzählt uns etwas von unseren uneingestandenen Sehnsüchten. Für Sarah, die junge westliche Frau, die in diesem Film in den Orient reist, steht der Orient auch für die Utopie eines etwas regelloseren Lebens.
Eines Lebens, in dem nicht beim Kampfsporttraining irgendwelche Leute plötzlich Absurdes über eine "Safe Zone" erzählen. Eines Lebens, in dem man sich nicht darüber streitet, ob man die Kaffeetasse auf den Untersetzer stellt oder nicht, garniert mit spießigen Sprüchen wie: "Was glaubst Du, wozu der Untersetzer da ist? Hallo, kannst du bitte die Tasse auf den Untersetzer tun? Der ist ja nicht zum Spaß da, der Untersetzer."
Eines Lebens, in dem nicht jeder Mensch einen Businessplan haben muss – einen Businessplan hat Sarah nämlich keinen.
Sarah (gespielt von der Performance-Künstlerin Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle) ist eine ehemalige professionelle Kampfsportlerin, deren Karriere in einem MMA-Käfig abrupt endet, nachdem sie von ihrer Gegnerin brutal besiegt wird.
Da sie nicht weiß, wie sie nun ihr Leben weiterführen und ihren Lebensunterhalt verdienen soll, nimmt sie ein etwas merkwürdiges, aber auch merkwürdig-verlockendes Angebot an: Sie soll nach Jordanien reisen und dort die persönliche Trainerin dreier Schwestern aus einer sehr reichen jordanischen Familie werden.
Das Versprechen des Westens für den Orient: Flucht vor dem Moralregime
Zunächst scheint dort alles ideal. Es scheint wie ein einfacher Job für gutes Geld, der zudem mit Vorteilen wie einem bezahlten Aufenthalt in einem Luxushotel und viel Freizeit auf einem äußerst komfortablen Anwesen der Familie verbunden ist.
Die Hausregeln sind allerdings strikt. Sarah muss eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben; sie darf nichts fotografieren oder aufzeichnen, mit niemandem aus dem Haus kommunizieren, und die Räume im oberen Stockwerk sind tabu.
Schon bald erkennt sie, dass nicht nur eine kulturelle Kluft, sondern auch ein Generationsgap und ein massiver Klassenkonflikt zwischen ihr und ihren drei Schülerinnen Nour, Shaima und Fatima liegt.
Die Luxusprinzessinnen haben keinen Bock, sich zu quälen und zeigen überaus wenig Interesse am Training mit Sarah.
Sie bevorzugen Shopping, Fernsehen und besonders den Gebrauch von Sarahs Handy, um das Internet zu nutzen. Wenn die Mädchen ausgehen und zum Beispiel in einem teuren Einkaufszentrum shoppen wollen, werden sie von einem Bodyguard begleitet, der eher als Aufpasser statt als Beschützer wirkt. Auch ihre social-media-accounts können sie nur heimlich checken.
Für die jungen arabischen Frauen ist der Westen und der Kontakt mit einer modernen westlichen Frau daher das Versprechen, dem Moralregime und dem Patriarchat zu entkommen.
Bruder mit eiserner Hand
Den Ton im Haus gibt nämlich der Bruder der Girls an, der eine aalglatt-höfliche soziale Fassade zur Schau trägt, aber das Haus mit eiserner Hand regiert. Zunehmend erkennt Sarah, dass die Töchter Gefangene in ihrem eigenen Zuhause sind, das fast ausschließlich von Dienstboten, Leibwächtern und ihrem Bruder bevölkert wird.
Dieser Bruder, dem Ansehen alles ist, wird seinerseits von der rechten Hand des Vaters überwacht, der seine Handlungen stark einschränkt.
Die Welt der Schwestern wird in klaustrophobisch-strengen Bildern gezeigt (Kamera: Klemens Hufnagl): Sie ist immer streng beschränkt, eingegrenzt von Wänden, blinden Fenstern, geschlossenen Türen.
Für "Mond", der beim Filmfestival von Locarno den zweitwichtigsten Preis, den Spezialpreis der Jury gewann, ließ sich die 1990 als Tochter eines Ärztepaares geborene Regisseurin von eigenen Erfahrungen, aber vor allem auch von der Biografie der Prinzessin Latifa inspirieren.
Die Tochter des Emirs von Dubai wurde 2018 international bekannt, weil sie versuchte, vor ihrem Vater zu fliehen. In diese Fluchtgeschichte, die aus einem Hollywood-Film stammen könnte, war auch die finnische Capoeira-Trainerin der Prinzessin verwickelt.
Arbeitsmigrantin als Sklaventreiberin
So ist diese Frau aus dem Westen einerseits eine Arbeitsmigrantin aus Not und in Abhängigkeit ihrer Auftraggeber, wenn auch in umgedrehter Konstellation. Andererseits aber ist sie der verlängerte Arm des Bruders der Schwestern. Sie merkt anfangs gar nicht, dass sie zu einer Art Sklaventreiberin und Kontrolleurin der Schwestern wird.
Denn es ist klar, dass sie in Wahrheit eher als eine Art Babysitter engagiert wurde, der dafür sorgen soll, dass die Mädchen beschäftigt sind, um sich die Zeit zu vertreiben. Doch diese sehen in Sarah die Gelegenheit, aus ihrem "goldenen Käfig" zu entkommen.
Dabei haben sie unterschiedliche Vorstellungen vom Ausbruch und sind bereit, sehr verschiedene Risiken einzugehen – wird sich Sarah darin verwickeln lassen? Welches Risiko ist sie bereit, einzugehen?
Spannendes, kurzweiliges und abgründiges Kino
"Mond" ist souverän inszeniert. Spannende und kurzweiliges Kino. Zwar handelt es sich einerseits um eine Reflexion über Unterschiede zwischen den Kulturen, vor allem, wenn es um die Stellung der Frau geht. Andererseits wird alles aber zunehmend auch zu einem Psychothriller.
Sarah versucht herauszufinden, was wirklich hinter den Mauern des Hauses vor sich geht, während die Schwestern mehr und mehr unter den Verhältnissen leiden.
Die Regisseurin verwischt dabei geschickt die Grenzen, lässt Raum für Interpretation und spielt vor allem auch mit den Erzählkonstrukten westlicher Perspektiven.
"Wenn ich den Film im arabischen Raum zeige", erläutert die Regisseurin, "identifizieren sich die Zuschauer mit den Schwestern und kriegen eine Wut auf die Europäerin, die sich so passiv verhält. Ich wollte über die gegenseitigen Erwartungen aber gar nicht urteilen, sondern nur zeigen: So ist die Realität. Ihr seid alle in irgendwelchen Konstrukten gefangen und seid hilflos und machtlos. Sehr negativ, ich weiß."
Das Resultat dieser Betrachtung ist abgründig.
Goldene Käfige: Schönheitsideale, Konsumkultur, Körper-, Fitness- und Gesundheitskult
Zugleich macht Ayub aus ihrer eigenen Haltung keinen Hehl: Ihr Film zeigt mehrere gleichzeitige Gefängnisse: Einen goldenen Käfig, der die jungen Frauen gefangen hält; einen selbst gewählten Käfig aus Schönheitsidealen der globalen Konsumkultur; aber auch den Käfig des Körper-, Fitness- und Gesundheitskults, der Sarah selbst gefangenhält.
Zwischen diesen beiden Welten gibt es das gemeinsame Element der gesellschaftlichen Gewalt, der diese Frauen gefangen hält.
Allerdings zeigt Ayub auch die Paradoxie, die darin liegt, dass Frauen diese Gewalt oft genug auch im Alltag akzeptieren. Oder sie selbst beflügeln: Aus einem unerklärlichen Grund liebt Sarah es, im MMA-Käfig zu kämpfen und auf seltsame Weise scheint sie ihre Traurigkeit zu genießen.
Jede der drei Schwestern Nour, Shaima und Fatima geht jeweils völlig anders mit der Gewalt um, die sie umgibt.
"Sich nicht einengen lassen von Normen ... Alles vergessen, einfach machen"
Produziert hat diesen Film Ulrich Seidl, der selbst einer der wichtigsten österreichischen Regisseure ist.
"Ayub, Holzinger, Seidl – sie alle gehen mit Vorliebe dorthin, wo es wehtut", schreibt Carolin Weidner treffend in der taz.
In einem bemerkenswerten, sehr offenen und unbedingt lesenswerten Interview in der Zeit beschreibt Ayub ihren Zugang:
Ich komme aus der Ulrich-Seidl-Ecke, seine Filme fand ich cool. Dieses Authentische, dieses Depressive. Mein Idol war aber immer Veronika Franz, die auch Autorin von Seidls Hundstage ist. Das zeigt ein sehr arges Österreich, das fand ich mutig.
Seidl hat mir künstlerische Freiheit beigebracht, im Sinne von: sich nicht einzuengen lassen von Normen oder Markierungen. Er hat gesagt: Alles vergessen, einfach machen. Und wenn ich mehr Drehtage brauche, soll ich sie mir nehmen und nicht aufs Geld schauen. Er vertraut mir einfach.
Kurdwin Ayub
Unverfälschter westlicher Blick
Der indirekte Dialog mit Ayubs vorherigen Filmen, besonders "Sonne" ist einer der interessantesten Aspekte von "Mond", und die Regisseurin baut diesen gut auf – von den politisch unkorrekten, scherzhaften Warnungen ihrer Freunde oder Mitbewohner am Anfang bis hin zu den Einblicken in Sarahs Alltag, sobald sie nach Jordanien zieht.
Kurdwin Ayubs Blick ist wohltuend klar und geprägt durch ihre unverfälschte weibliche, westliche Sicht auf Machtverhältnisse, sowie durch die sorgfältige Auswahl der Drehorte im aseptischen, deprimierend gesichtslosen Stil des neureichen Nahen Ostens.
Erleichterung gibt es trotzdem in diesem herausragenden und sehr unterhaltsamen Film. Sie kommt vor allem aus der pulsierenden Musik, die beiden Welten verbindet: Tanzen ist hier ein Ritual, um sich zu reinigen.