Mrs. Jekyll und Mrs. Hyde
Die "Berliner Erklärung" zum Jubiläumsgipfel der EU sollte der Höhepunkt der deutschen Ratspräsidentschaft werden. Heraus kam ein schaler Aufguss von Altbekanntem
Nach dem Willen der EU-Spitzen soll die Gemeinschaft auf eine neue vertragliche Basis gestellt werden. Allerdings wird das Vertragswerk nicht mehr Verfassung heißen. Der entscheidende Satz steht am Ende der Berliner Erklärung: "Deshalb sind wir heute, 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, in dem Ziel geeint, die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen", heißt es in dem Papier, zu dessen Verabschiedung die Spitzenpolitiker der 27 EU-Mitgliedstaaten eigens zu einem "informellen" Treffen in die Bundeshauptstadt eingeflogen waren.
Was dies praktisch bedeutet, verstehen vermutlich nur Eingeweihte: Die nach den Nein-Referenden im Frühjahr 2005 in Frankreich und der Niederlande auf Eis liegende EU-Verfassung kommt unter neuem Namen zur Wiedervorlage. Dass das Dokument dann vermutlich nur noch Vertrag heißen wird, ist eher psychologischer Natur. Offensichtlich spekuliert man in Brüssel und den EU-Hauptstädten darauf, unter dem Motto: "Ein Vertrag ist ja nicht so wichtig wie eine Verfassung" das Interesse der Bevölkerung an dem Papier zurückzuschrauben.
Das ist durchaus gewünscht. Eine geplante Auseinandersetzung darüber, weshalb das Papier bei den französischen und niederländischen Volksabstimmungen durchgefallen ist und selbst im traditionell EU-freundlichen Luxemburg nur eine knappe Mehrheit bekam, lässt sich noch nicht einmal ansatzweise aus der „Berliner Erklärung“ herauslesen. Ebenso sicher ist, dass weiter verhandelt wird. Und zwar hinter verschlossenen Türen.
Bis zu den letzten Tagen vor dem Jubiläumsgipfel hatten nicht nur die Regierungsfraktionen im Bundestag über den Inhalt des Dokuments gerätselt. Noch am Sonntagvormittag erneuerte Tschechiens Präsident Vaclav Klaus seine Kritik an Merkels Geheimdiplomatie: "So kann man das wirklich nicht machen." Offensichtlich hatte das aufgeregte Bemühen der EU-Kommission unmittelbar vor dem Treffen, die Hinterzimmer-Gespräche der Kanzlerin als normale Arbeitsmethoden darzustellen, nicht gefruchtet. Zumal selbst die Kommissionsvizepräsidentin Margot Wallström in einem Pressegespräch deutlich verärgert auf "Verhandlungen hinter verschlossenen Türen im kleinen Kreis" reagierte.
Dass es in den Kamin-Runden weniger um die Vorbereitung der „Berliner Erklärung“ ging, ist anzunehmen. Denn diese liest sich wie ein Sammelsurium verschiedener Werte und Ziele, die zu verschiedenen Zeitpunkten in der EU-Geschichte diskutiert wurden - und die zumeist Deklarationen blieben. Differenzen gab es eher im Detail. So wehrte sich London gegen ein Lob auf den Euro, Spanien setzte den Kampf gegen illegale Einwanderung mit auf die Aufgabenliste der EU und Warschau hatte - vergeblich - einen Gottesbezug in der Erklärung verlangt.
Auch der Zeitplan für die vertragliche Erneuerung steht faktisch bereits. Im Programm der drei aufeinander folgenden Ratspräsidentschaften von Deutschland, Portugal und Slowenien sind die Eckpunkte bereits vorgegeben. Der deutsche EU-Vorsitz wird dem Europäischen Rat im Juni konkrete Vorschläge vorlegen, die möglicherweise schon bis Jahresende zu einem überarbeiteten Textentwurf führen könnten. Bis Ende 2008 soll der neue Vertrag vorliegen. Dabei wird es Frankreich sein, das das Vertragswerk endgültig unter Dach und Fach bringt. Geschehen soll dies nach bisherigen Planungen über eine noch in diesem Sommer zu bildende Regierungskonferenz, die in eineinhalb Jahren enden soll. Zu dieser Zeit wird Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Weder Nicolas Sarkozy noch Ségolène Royal als mögliche künftige Staatschefs haben der Diktion der vorliegenden EU-Verfassung bislang eine klare Absage erteilt.
Dass es gerade Deutschland und Frankreich sind, die den Verfassungsprozess fortsetzen wollen, hat seine Gründe: Die vier "Großen" - Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland - verfügen derzeit über je 29 Stimmen im Rat der EU, dem eigentlichen Entscheidungsgremium, was gerade einmal acht Prozent der Gesamtstimmen ausmacht. Würde jedoch, wie im vorliegenden Verfassungsvertrag vorgesehen, die Bevölkerungszahl über den Stimmenanteil entscheiden, kämen die vier Staaten auf 53 Prozent. Was das für die Entscheidungsfindung bedeutet, kann man sich trotz einiger einschränkender Bestimmungen vorstellen.
Die Weichen für eine solche Regelung zu stellen, könnte das eigentliche Meisterstück Angela Merkels sein. Denn trotz erheblichen Presserummels hat die deutsche Ratspräsidentschaft bisher kaum Erfolge vorzuweisen. Der bejubelte „Klimagipfel“ Anfang März in Brüssel, auf dem die EU eine 20prozentige Reduzierung der Treibhausgasemission bis 2020 beschloss, erwies sich als Mogelpackung. Laut Greenpeace bleibt unterm Strich gerade einmal eine Verringerung von fünf Prozent. Und auch die mit dem Klimaschutz eng verbundene Energiepolitik wird für die deutsche Ratspräsidentschaft deutlich problematischer - insbesondere wegen der vor dem Hintergrund des geplanten Raketenabwehrsystems angespannten Beziehungen zu Moskau. Russland, einer der Hauptlieferanten für Öl und Gas Richtung Westeuropa, ist ohnehin schon durch die immer engere Verzahnung von NATO und EU beunruhigt. Diese ist in den letzten Jahren forciert worden - nicht zuletzt durch entsprechende Festlegungen in der EU-Verfassung.