Müssen wir umdenken – und wenn ja, wie?

Wie gesellschaftliche Verhältnisse unser Handeln und Denken bestimmen. Und wie wir uns des Wandels bewusst werden können. Eine philosophiegeschichtliche Anmerkung

Ein "Umdenken" zu fordern, ist eine heutzutage sehr geläufige Art der Gesellschaftskritik. Zugleich ist es Idealismus pur: Die Gesellschaft ist so, wie sie ist, weil die Leute so denken, wie sie denken; um die Gesellschaft zu ändern, ist dieser Auffassung nach nichts weiter nötig, als das Denken zu ändern.

Es hilft wenig, dem nur gleichsam als Glaubenssatz entgegenzuhalten, dass das gesellschaftliche Sein das Denken bestimme, denn um zu überzeugen, muss man auch Gründe angeben, zumal Marx' Satz von der Bestimmtheit des Denkens durch das Sein mit dem entscheidenden Hinweis versehen werden muss, dass das Denken sehr wohl frei ist, über die gegebenen Verhältnisse hinauszugehen, also Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Veränderung zu gewinnen.

Es ist nur so, dass das allein die Verhältnisse noch nicht ändert: dazu ist bewusste kollektive Aktion nötig, oder um mit Marx zu sprechen: "auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift." (MEW Bd. 1, S. 385) Für eine überzeugende Kritik des Idealismus des "Umdenkens" wollen wir dem historischen Entstehungsweg der materialistischen Gesellschaftskritik folgen, denn so wird deren logische Notwendigkeit deutlich.

Wir beginnen mit der Zeit der Aufklärung. Aus Sicht der damaligen Denker war die Kritik an den Institutionen des Feudalismus gleichbedeutend mit einer Kritik "künstlicher" Verhältnisse im Gegensatz zu "natürlichen"; befreien sich die Menschen aus den künstlichen Fesseln der überkommenen Gesellschaftsordnung, so können sie, allein ihrer Vernunft folgend, eine "natürliche" Gesellschaft errichten. So wird Gesellschaft als Ansammlung vieler Einzelner1 verstanden, die sich vernunftgemäß, etwa durch einen Gesellschaftsvertrag, eine dem Wohl aller dienende Ordnung geben könnten.2

Entspricht das nicht dem Standpunkt, der heute mit der Parole vom "Umdenken" ausgesprochen wird? Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen kommen als Forderungen an das Verhalten, also die Moral der Einzelnen daher.

Die Denker der Aufklärung wandten sich gegen die tradierten, vor allem religiösen Begründungen für die feudalen Verhältnisse und forderten dazu auf, sich stattdessen gemäß "natürlichen" Grundsätzen zu verhalten.

Daher galt es, insbesondere die Ethik aus den allgemeinen Bestimmungen des Menschen abzuleiten, wobei klar war, dass nicht alles, was in den Trieben und Anlagen des Menschen liegt, auch unmittelbar als moralischer Leitfaden taugen kann. Das konnte in verschiedenen Varianten ausgesprochen werden: einerseits, indem im Anschluss an Hobbes das Schlechte im Menschen betont wird, das in Zaum gehalten werden müsste; andererseits, indem mit Rousseau die Menschen für von Natur aus gut befunden, und das Böse als Folge der verkehrten, d.h. feudalen Verhältnisse begriffen wird. In beiden Fällen geht es darum, dass die Moral das Böse beschränken müsse und dabei durch staatliche Sanktionen bestärkt werde.

Immanuel Kant

Kant, dessen Kritik der praktischen Vernunft allgemein als Endpunkt der Moralphilosophie der Aufklärung gesehen wird, fasst dies sehr radikal, indem er nur die Vernunft als Grundlage moralischer Gesetze gelten lässt, da die anderen natürlichen Bestimmungen des Menschen gerade das seien, was gegebenenfalls durch die Moral beherrscht werden müsse. Vielmehr müsse, wie es in der Vorrede zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten heißt "der Grund der Verbindlichkeit nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft." (S. 13)

Nur in Bezug auf ihre Anwendung seien empirische Aspekte einzubeziehen, indem die "Gesetze a priori freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteile erfordern, um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen, da diese, als selbst mit so viel Neigung affiziert, der Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen" (ebd).

Damit ergibt sich der Widerspruch zwischen der allergrößten Allgemeinheit der Grundlagen und dem Anspruch, daraus Handlungsanweisungen in jeweils ganz speziellen praktischen Situationen abzuleiten. Kant formuliert bekanntlich einen obersten moralischen Grundsatz, aus dem sich alle weiteren Regeln ableiten lassen sollen, nämlich den Kategorischen Imperativ. Um als oberster Grundsatz über allen möglichen besonderen Anwendungsfällens stehen zu können, muss dieser von der höchsten denkbaren Allgemeinheit sein; er lautet3:

Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

Immanuel Kant

Um auf dieser Grundlage eine einzelne Handlung moralisch zu beurteilen, sind drei Schritte erforderlich:

Erstens: zu der Maxime zu kommen, unter der die Handlung zu subsumieren ist.

Zweitens: diese Maxime (also das subjektive, persönliche Prinzip) als objektives, allgemeingültiges Gesetz auszusprechen.

Drittens: zu beurteilen, ob dieses allgemeine Gesetz Bestand haben kann.

Diese drei Schritte bergen Probleme, die den Anspruch, eine allgemein praktikable Begründung der Moral a priori zu deduzieren, infrage stellen können. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – behandelt Kant dies eher als Trivialität4:

Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden.

An anderer Stelle spricht er sogar davon, dass selbst ein Kind "von etwa acht oder neun Jahren" (Über den Gemeinspruch…, S.132) die nötigen Schlüsse ziehen könne.

Zur ersten Frage: Wie kommt man zu Maximen? Die Maxime ist gegenüber der einzelnen Handlung ein Allgemeines; es muss also die einzelne Handlung unter einen allgemeinen Begriff subsumiert werden. Als Zwischenglied zwischen der einzelnen Handlung und der allgemeinen Maxime ist die Besonderheit eines Begriffs erforderlich.

Ein solcher Begriff muss sich auf die den Gesellschaftsmitgliedern gemeinsamen Verhältnisse beziehen - und damit ist die Maxime, zumal wenn sie als allgemeines Gesetz gefasst wird, gewöhnlich schon mit diesem Begriff gegeben: Man muss Schulden begleichen? Klar, wenn man sie nicht begleichen müsste, wären es keine Schulden! Man muss Eigentum respektieren? Klar, sonst wäre es kein Eigentum.

In diesem Zusammenhang ist das von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft (S. 136) aufgeführte Beispiel des Depositums aufschlussreich. Auch hier könnte man einfach formulieren: "Man darf ein Depositum nicht unterschlagen" und darauf verweisen, dass das schon im Begriff des Depositums liegt. Kant spricht es nicht in dieser unmittelbar tautologischen Form aus, sondern bemüht sich um den Nachweis, dass die Negation dieser Maxime sich selbst ad absurdum führen würde.

Er beginnt damit, dass die bloße Habgier nicht als Maxime zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könne, da sie sich in Interessenkollisionen aufheben würde; sodann nimmt er explizit den Begriff des Depositums in die Maxime auf, und weist darauf hin, dass eine Maxime, die das Einbehalten von Depositen erlaubt, daran gebunden sein müsste, dass dies "sicher" geschehen kann, indem sie nur für Fälle anzuwenden sei, in welchen die Hinterlegung des Depositums nicht beweisbar sei, womit er – nebenbei bemerkt – doch wieder die Empirie in Gestalt der gesellschaftlichen Verhältnisse, die gegebenenfalls zu Strafverfolgung und Reputationsverlust führen, unter der Hand voraussetzt.

Schließlich kommt er zum Schluss, dass eine solche Maxime zum allgemeinen Gesetz erhoben "sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, dass es gar kein Depositum gäbe." (Kritik d. pr. V., S.136). Was hier wie eine simple Schlussfolgerung präsentiert wird, ist keineswegs einfach und bezieht allerlei gesellschaftliche Verhältnisse als gegeben mit ein.5 In der Schrift Über den Gemeinspruch … schmückt Kant dasselbe Beispiel weiter aus: Der Inhaber des Depositums sei ein Menschenfreund und Wohltäter, der jedoch unverschuldet in Not geraten seine Familie kaum ernähren könne, wohingegen die Erben des Eigentümers derart üppig und verschwenderisch leben, "dass es ebenso gut wäre, als ob dieser Zusatz zu ihrem Vermögen ins Meer geworfen würde." (Gemeinspruch, S. 132)

Da ist schon zu fragen, ob denn nicht in den in dieser Ausschmückung genannten Umständen Begriffe aufgefunden werden könnten, die sich für eine alternative, ebenso zum Gesetz erhebbare Maxime eignen würden. Kant sagt indessen nur lapidar:

Und nun frage man, ob es unter diesen Umständen für erlaubt gehalten werden könne, dieses Depositum im eigenen Nutzen zu verwenden. Ohne Zweifel wird der Befragte antworten: Nein! und statt aller Gründe nur bloß sagen können: ­es ist unrecht ­, d.i. es widerspricht der Pflicht. (ebd., Herv. im Orig.)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Hegel bezieht sich in seiner Kritik an Kants Moralphilosophie auf diese mangelnde Vermittlung zwischen dem bestimmten Inhalt der Maximen und der allgemeinen Form des Gesetzes - und hier liegt, wie sich zeigt, auch der Schlüssel zur Frage, wieso Hegel keine "Ethik" hinterlassen hat, sondern deren Stelle durch seine Rechtsphilosophie eingenommen wird.

Wie kommt das? In seiner frühen Schrift Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts findet sich eine kritische Auseinandersetzung mit Kants kategorischem Imperativ. Darin bezieht sich Hegel auch auf das Depositum-Beispiel und merkt dazu an: "Dass es aber gar kein Depositum gäbe, welcher Widerspruch läge darin?" (S. 462)

Ein Widerspruch, so fährt er fort, könnte sich sehr wohl aus anderen "notwendigen Bestimmtheiten" und "Zusammenhängen" ergeben, indem diese die Möglichkeit von Depositen erfordern. Jedoch: "Aber nicht andere Zwecke und materielle Gründe sollen herbeigerufen werden, sondern die unmittelbare Form des Begriffs soll die Richtigkeit der ersten oder zweiten Annahme (nämlich, dass es Depositen gäbe oder nicht) entscheiden" (ebd.) Im Anschluss führt Hegel denselben Gedanken allgemein hinsichtlich des Eigentumsverhältnisses aus6:

Wenn die Bestimmtheit des Eigentums überhaupt gesetzt ist, so lässt sich der tautologische Satz daraus machen: das Eigentum ist Eigentum und sonst nichts anderes, und diese tautologische Produktion ist das Gesetzgeben dieser, der praktischen Vernunft: das Eigentum, wenn Eigentum ist, muss Eigentum sein.

Hegel führt weiter aus, dass in derselben Form auch das Gegenteil gedacht werden kann7:

Aber ist die entgegengesetzte Bestimmtheit, Negation des Eigentums gesetzt, so ergibt sich durch die Gesetzgebung ebenderselben praktischen Vernunft die Tautologie: das Nichteigentum ist Nichteigentum; wenn kein Eigentum ist, so muss das, was Eigentum sein will, aufgehoben werden.

Die in ihrer rein negativen Abstraktheit ein wenig befremdlich klingende Rede vom "Nichteigentum" gewinnt eine unerwartete Anschaulichkeit, sobald man sich aus der Vorstellungswelt der kapitalistischen, durch und durch auf Privateigentum gegründeten Gesellschaften löst. So berichten Ethnologen, die sich bei Naturvölkern aufgehalten haben, "über deren unbefangenes und ausdauerndes Schnorren – und auch über deren eigenwilliges Verständnis von Eigentum, als sie erlebten, wie ihre persönlichen Kleidungsstücke ohne Absprache von Einheimischen getragen wurden." (Asenhuber 2021)

Die Rede ist hier von Jäger-und-Sammler-Völkern, deren Gesellschaft kein Eigentum in unserem Sinn kennt und denen deshalb auch nicht unsere Moralvorstellung hinsichtlich des Eigentums geläufig sind. Ebenso würde es in einer auf Gemeinschaftseigentum beruhenden Hirtengesellschaft als unmoralisch (wenn nicht einfach als verrückt) empfunden, wenn ein Stammesangehöriger auf die Idee käme, bestimmte Tiere der gemeinsamen Herde für sich exklusiv zu beanspruchen, oder gar ein Grundstück als Weide für "seine" Tiere abzugrenzen und einzuzäunen.

Hegel betont also, dass aus dem bloßen Begriff eines allgemeinen Gesetzes die besondere Kategorie Eigentum nicht abgeleitet werden kann. Wenn er nun schreibt "Aber es ist gerade das Interesse, zu erweisen, dass Eigentum sein müsse" (S. 463), so benennt er nur das, was Kant ohne Beweis voraussetzt, zieht es aber selbst ebenfalls nicht in Zweifel.

Jedoch hat sich damit die Frage grundlegend geändert: Jetzt geht es darum, die bestimmten Verhältnisse, auf die sich moralische Maximen und Gesetze beziehen, zu begründen; die moralischen Schlussfolgerungen sind in diesen dann ja enthalten. Gegenstand ist also nicht mehr eine Ethik, in der allgemeine moralische Grundsätze hergeleitet werden, sondern das, was nun Inhalt seiner "Philosophie des Rechts" ist.

Er will die gesellschaftlichen Verhältnisse, von der Familie über die bürgerliche Gesellschaft bis zum Staat, als notwendig darstellen, wobei – und insofern setzt er immer noch das Anliegen der Aufklärung fort – sich deren Notwendigkeit aus den Bestimmungen der Logik, also der Vernunft ergeben soll. Eine separate Ethik erübrigt sich, wie er in der Einleitung zur Rechtsphilosophie anmerkt8:

Ohnehin über Recht, Sittlichkeit, Staat ist die Wahrheit ebensosehr alt als in den öffentlichen Gesetzen, der öffentlichen Moral und Religion offen dargelegt und bekannt. Was bedarf diese Wahrheit weiter, insofern der denkende Geist sie in dieser nächsten Weise zu besitzen nicht zufrieden ist, als sie auch zu begreifen und dem schon an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu gewinnen […]. Das einfache Verhalten des unbefangenen Gemütes ist es, sich mit zutrauensvoller Überzeugung an die öffentlich bekannte Wahrheit zu halten und auf diese feste Grundlage seine Handlungsweise und feste Stellung im Leben zu bauen.

In der Zielsetzung, die gesellschaftlichen Verhältnisse aus reinen Prinzipien der Vernunft abzuleiten, ist also Hegels "berühmt-berüchtigter" Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen schon angelegt. Kritik an den Verhältnissen betrifft nach Hegel nur deren unvollkommene Ausprägung, nicht die in ihnen enthalte Idee. "So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen." (Rechtsphilosophie S.57)9

Karl Marx

Marx, der nach eigenem Bekunden während seiner Studentenzeit im Bann von Hegels Philosophie stand, wurde bald zu einem seiner entschiedensten Kritiker. In seinem unvollendeten, posthum herausgegebenen Manuskript Kritik des Hegelschen Staatsrechts schreibt er:

Man hat Hegel vielfach angegriffen über seine Entwicklung der Moral. Er hat nichts getan, als die Moral des modernen Staats und des modernen Privatrechts entwickelt. […] Es ist vielmehr ein großes, obgleich nach einer Seite hin (nämlich nach der Seite hin, dass Hegel den Staat, der eine solche Moral zur Voraussetzung hat, für die reale Idee der Sittlichkeit ausgibt) unbewusstes Verdienst Hegels, der modernen Moral ihre wahre Stellung angewiesen zu haben.

MEW 1, 313

Das ist eine der wenigen Stellen in dieser Schrift, wo Lob über Hegels Philosophie anklingt; das Lob bezieht sich auf die Erkenntnis, dass die Moral nur ausspricht, was in den Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staats begrifflich schon enthalten ist, sowie auf die systematische Ordnung, in der er diese Verhältnisse darstellt.

Allerdings kritisiert Marx die von Hegel gegebenen Begründungen und Ableitungen durchgehend und grundsätzlich. Denn Hegel stellt die Sache stets so dar, als wären Gesellschaft und Staat selbst nichts anderes als die Realisierung der sittlichen Idee, wobei "Realisierung der Idee" nicht so zu verstehen ist, dass jemand das, was er im Geist erdacht hat, also eine "Idee" im alltagssprachlichen Sinn, in die Realität umsetzt, sondern so, dass die Idee als logische Wesenheit selbst es sein soll, die sich da realisiert.

Die ganze Ableitung der gesellschaftlichen Verhältnisse von der Familie über die bürgerliche Gesellschaft bis zum Staat erscheint demgemäß als nichts anderes als die stufenweise Selbstverwirklichung der logischen Idee.

Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist [bei Hegel] das philosophische Moment

MEW 1, 216

Jedoch: wie soll der bestimmte Inhalt der gesellschaftlichen Verhältnisse sich aus den ganz allgemeinen Formen der Logik begründen lassen? Man steht auch hier wieder – nicht anders als wir es bei Kant gesehen haben – vor der Frage, wie sich die Besonderheiten aus der Allgemeinheit der reinen Vernunft ableiten lassen sollen; es überrascht also nicht, wenn sich die betreffenden Argumente in Hegels Rechtsphilosophie bei genauerem Hinsehen als – man kann es so nennen – rhetorische Tricks erweisen, mit welchen unter der Hand der gewünschte Inhalt hineingeschmuggelt wird. Marx stellt diese Kritik mehrfach anhand einzelner Textstellen dar, etwa wenn er zitiert

§262. Die wirkliche Idee, der Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet, um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein, teilt somit diesen Sphären das Material dieser seiner endlichen Wirklichkeit, die Individuen als die Menge zu, so dass diese Zuteilung am Einzelnen durch die Umstände, die Willkür und eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt erscheint.

und dazu schreibt:

Der Staat ist es, der sich in sie [die beiden Sphären] scheidet […], und zwar tut er dieses, "um aus ihrer Idealität für sich unendlicher, wirklicher Geist zu sein". "Er scheidet sich um." Er "teilt somit diesen Sphären das Material seiner Wirklichkeit zu, so dass diese Zuteilung etc. vermittelt erscheint" Die sogenannte "wirkliche Idee" […] wird so dargestellt, als ob sie […] zu bestimmter Absicht handle. Sie scheidet sich in endliche Sphären, […] und sie tut dies zwar so, dass das gerade ist, wie es ist.

MEW 1, 205, Hervorhebungen im Original

Das "und sie tut dies so, dass das gerade ist, wie es ist" bezeichnet den rhetorischen Trick: alles, was Bezug zum tatsächlich betrachteten Gegenstand, also der bürgerlichen Gesellschaft hat, wird einfach aus der Realität aufgenommen, aber dann in dieser verkehrten Weise als Ausfluss der Selbstbewegung der Idee besprochen. Oder, wie Marx weiter schreibt:

Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen. Die gewöhnliche Empirie hat nicht ihren eigenen Geist, sondern einen fremden zum Gesetz, wogegen die wirkliche Idee nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein hat.

MEW 1, 206

Dieses Verfahren eröffnet die Freiheit, alles - was auch immer sein spezifischer Inhalt sein mag - in dieser Weise "herzuleiten", denn es genügt, die Realität einfach als das zu benennen, wofür die Entwicklung der Logik im jeweiligen Fall stehen soll:

Das einzige Interesse ist, "die Idee" schlechthin, die "logische Idee" in jedem Element, sei es des Staates, sei es in der Natur, wiederzufinden, und die wirklichen Subjekte, wie hier die "politische Verfassung", werden zu ihrem bloßen Namen, so dass nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden ist.

MEW 1, 211

Der Übergang wird also nicht aus dem besondern Wesen der Familie etc. und dem besondern Wesen des Staats, sondern aus dem allgemeinen Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit hergeleitet. Es ist ganz derselbe Übergang, der in der Logik aus der Sphäre des Wesens in die Sphäre des Begriffs bewerkstelligt wird. Derselbe Übergang wird in der Naturphilosophie aus der unorganischen Natur in das Leben gemacht. Es sind immer dieselben Kategorien, die bald die Seele für diese, bald für jene Sphäre hergeben. Es kommt nur darauf an, für die einzelnen konkreten Bestimmungen die entsprechenden abstrakten aufzufinden.

MEW 1, 208f

Zusammenfassung

Fassen wir zusammen: auch Hegel will die moralischen Gesetze rein aus der Vernunft ableiten, jedoch – und das ist der gedankliche Fortschritt – nicht mehr, indem er das Handeln der Einzelnen betrachtet, sondern indem er von den gesellschaftlichen Verhältnissen als dem Bestimmungsgrund des Handelns ausgeht; allerdings will er diese wiederum rein aus der Vernunft begründen.

Damit ist die Unmöglichkeit, auf jeweils bestimmte Gegebenheiten bezogene Gesetze aus den allgemeinen Bestimmungen der Vernunft, also aus der Logik, abzuleiten, nicht aufgehoben. Marx' Kritik an Hegels Rechtsphilosophie zeigt die Fehler auf, mit denen Hegel dieses der Sache nach unmögliche Vorhaben dennoch auszuführen meinte.

Marx zieht die Konsequenz, dass man bei den wirklichen Gegebenheiten anfangen und deren Gesetzmäßigkeiten auffinden muss. Die bürgerliche Gesellschaft erscheint nun nicht mehr als naturgegeben, sondern als besondere historische Gesellschaftsform.

Allerdings unterscheidet sich diese Gesellschaftsform von allen anderen dadurch, dass in ihr die Rolle der Individuen nicht an die Person gebunden ist – wie das im Feudalismus besonders ausgeprägt war –, sondern nur an deren privates, veräußerbares Eigentum; die Personen erscheinen daher formal und rechtlich gleich, und diese Gleichstellung ist es, was im Bewusstsein der in diesen Verhältnissen befangenen Menschen den Schein erweckt, als wäre der gesellschaftliche Zusammenhang nichts weiter als ein Zusammenleben vieler Einzelner; seit den Anfängen des Kapitalismus, also seit der Zeit der Aufklärung bis heute hat diese Betrachtungsweise die Festigkeit eines allgegenwärtigen Vorurteils.

Demgegenüber zeigt Marx auf, dass die Unterschiede im Eigentum sehr wohl genügen, um Klassenunterschiede zu begründen, denn wer nicht genug Eigentum hat, kann an das Lebensnotwendige nur durch Verkauf seiner Arbeitskraft kommen. Das Klassenverhältnis schließt ökonomische Gesetzmäßigkeiten ein, die den einzelnen Akteuren durch die Konkurrenz als Zwänge gegenübertreten.

Deshalb bestimmen nicht die vielen Einzelnen durch ihr Denken die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern umgekehrt bestimmen die gesellschaftlichen Verhältnisse deren Handeln und damit auch deren Vorstellungen, die jene – solange sie nicht begriffen sind – als naturgegeben erscheinen lassen.