Nach Marx ist vor Marx

Seite 2: Kopfstand des Tisches

Wert: Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass Marx den Profit der Kapitalisten von Prellerei, Übervorteilung oder Ausnutzen einer Monopolstellung im Tauschverkehr herleiten würde. Im Gegenteil setzt er methodisch Wert und Preis gleich. Man könnte vom "iustum pretium", dem gerechten Preis sprechen, der in ethischer Hinsicht "Wert" ist. Marxens Diagnosen kommen im modellhaften Fall des Austauschs zweier Waren ohne Preisschwankungen aus. Gesamtgesellschaftliche Oszillationen gleichen sich aus.

Im ersten Band des "Kapital" geht Marx von einer idealisierten Zirkulation aus, der Urformel des Tauschs von Ware A gegen B. Die Ware B, die in der Äquivalentform steht, wird zum Wertausdruck der Ware A. A bekommt einen Tauschwert, ausgedrückt in einer bestimmten Menge der Ware B. Qualitativ: Der Gebrauchswert einer Ware wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts (der Ware A). Das liest sich simpel, enthält jedoch bereits die Spur eines Mysteriums. Marx: "Bisher hat noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt."

Die Tauschlogik geht weiter, von Ware gegen Ware über Ware gegen Geld, vorwärts und rückwärts (Geld gegen Ware), wie der Handel so läuft. Am Ende steht eine merkwürdig verkürzte Formel, die die Welt aus den Angeln hebt: G-G’ ("Strich") Geld tauscht sich gegen Geld und vermehrt sich dabei wundersam. Die Zirkulation schwitzt ständig (mehr) Geld aus.

Marx: Unter allen Waren gibt es eine Ware, die die Eigenschaft hat, Werte zu schaffen, die über das Äquivalent hinausgehen, das zu ihrer Reproduktion notwendig ist. Das ist die Ware Arbeitskraft. Aus Wert wird Mehrwert für diejenigen, welche diese Ware kaufen und verwerten. Erstaunlich: Selbst diese Ware wird über kurz oder lang zu ihrem (Markt-)Wert gekauft. Kein Betrug. Nur Ausbeutung. Das alles ist schon in der einfachen Tauschformel enthalten. Sie täuscht über die Bildung des Mehrwerts hinweg.

Sachen werden zu Waren, indem sie in ihren Werten sich gesellschaftlich zueinander verhalten. Personen werden als Arbeiter zu marktfähigen Sachen. Die Arbeiter verkaufen ihre Arbeitskraft. Diese heckt im Produktionsprozess Mehrwert aus und macht dadurch, durch ihr eigenes Produkt, die Arbeiter um so abhängiger.2 Auf diese sachliche Abhängigkeit, die Verdinglichung, hatte Marx bereits in den "ökonomisch-philosophischen Manuskripten" hingewiesen. Aber diesmal hat er den Beweis aus der "Sache selbst" erbracht.

Fetisch: Sobald der Tisch "als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne."

Fast scheint es, als schriebe Marx das Märchen des Kapitalismus. Die animistischen Fähigkeiten der Waren sind das Produkt der zentralen Verkehrung: Sachliche (entfremdete) Verhältnisse der Personen stehen gesellschaftlichen Verhältnissen der Sachen gegenüber.

Die kapitalistische Produktionsweise und die Organisation der Gesellschaft durchdringen sich. Die Vergesellschaftung manifestiert sich als Versachlichung. Die Waren sind die Träger der Vergesellschaftung. Sie treten untereinander in Verkehr, bilden eigene Umgangsformen aus und treten als etwas Selbständiges, Kapital genannt, gegenüber den Handelnden hervor. Sie richten sich zu einer naturwüchsigen, unkontrollierbaren und krisenhaften Herrschaft auf. Die Rampe, von der aus die Waren zu Höherem und sich Mehrendem abheben, ist ihre Wertform.

Der Tisch kann tanzen. Kann er auch sprechen? Ja, und zwar mit der Zunge des Warenbesitzers und aus dem Holzkopf heraus. Die Waren personifizieren sich wieder. Der Besitzer/Verkäufer wird zum Repräsentanten seiner Ware. Die Vermarktung der Waren gelingt am besten, wenn der Besitzer in ihre Haut schlüpft. Die Ware ist seine Verkleidung. Sie kleidet ihn ein, und er demonstriert ihre Persönlichkeit. Heute wird dieser Prozess Ich-Design genannt. Die menschliche Persönlichkeit wird zum Typus und dieser zur Charaktermaske. Der Verkäufer wird zur Maske seiner Ware. Das nennt Marx Fetischcharakter.

Ist die Mystifikation der Waren – und durch sie die der Menschen – der Regress des Kapitalismus zu vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen? Die Berliner Ausstellung stellt einen afrikanischen Fetisch und einen christlichen Reliquienschrein "gleichberechtigt" nebeneinander.

Damit würden jedoch historische Entwicklungslinien miteinander vermengt. Die dem Kapitalismus angemessene Religion ist der bilderstürmerische Protestantismus, wie ihn Max Weber in seinem Schlüsseltext "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" beschrieben hat. Ein Motiv Webers war, die Juden von der Beschuldigung zu entlasten, für alle Unbilden des Kapitalismus verantwortlich zu sein.

Der Protestantismus leitete eine Säkularisierung der herrschenden christlichen Leitbilder zu Askese und Verantwortungsethik, generell zu Puritanismus und Pietismus ein. Hierarchien wurden verschlankt. Damit ist die Religion mit dem produktiven Kapitalismus kompatibel geworden. Die Union von Kirche und Kapital (besonders in England) führte jedoch nicht die rationale, friedliche Phase des Kapitalismus herbei, vielmehr fiel dieser ideologisch zurück in Spiritualismus, Animismus und Fetischismus. Anfälligkeit dafür besteht bis heute. Man denke an den Bison Man.

Die Gefahr eines Rückfalls ist latent. Populistische Politiker springen auf diesen Zug auf und versuchen, ihn in ihrem Interesse zu lenken. Welche Bilder der Vergangenheit dabei aufgerufen werden, ist relativ egal. Himmler leitete den Ostfeldzug mit den Worten ein: "Wieder reiten die Goten." Der Mythos wird Ersatz für Religion.

Der Fetischcharakter ist die Kippfigur, an der die politisch-ökonomische Analyse sich öffnet für die Sozialpsychologie und psychoanalytische Ethnologie eines Sigmund Freud. In "Totem und Tabu" beschreibt er Totems als symbolische, etwa tierische Verkörperungen einer Stammes-Identität. Sie halten die Gemeinschaft durch strenge Verbote und Rituale zusammen. Markant sind Totempfähle. Bei Fetischen liegen die magischen Kräfte in einem Objekt.

Zum Schluss: "Gewalt"

Nachdem Marx’ Haltung zur Religion erhellt worden ist, bleibt die Gretchenfrage offen: Wie hielt er es mit der Gewalt? Wenn er den "gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung" avisiert, hört sich das sehr radikal an. Bei genauer Betrachtung geht es aber in dieser wie in anderen Formulierungen um den Umsturz der Verhältnisse und Institutionen sowie die Auflösung der Klassen in eine freiheitliche Gesellschaft, in welcher jeder nach seinen Fähigkeiten, schließlich auch nach seinen Bedürfnissen leben kann.

Ließe sich folgern, dass Marx Gewalt gegen Sachen tolerierte, gegen Personen jedoch ausschloss? Noch die Studentenbewegung biss sich an diesem Gegensatz die Zähne aus. Und auch Marx selber sah den Weg zur Glückseligkeit eher dornig. Da bei einer Revolution die Herrschenden und sich den Mehrwert aneignenden Besitzenden so schnell nicht von der Macht und ihrer Profit-Mentalität lassen würden, sei eine "erste Phase der kommunistischen Gesellschaft" notwendig, in welcher die neuen Verhältnisse und Bedingungen politisch durchgesetzt werden müssen.

Eingriffe in das kapitalistische Privateigentum sind nötig, aber das persönliche, nicht auf Ausbeutung und Akkumulation beruhende Privateigentum behält durchaus seine Existenzberechtigung. Marx nannte diese erste Phase, die ansatzweise in der "Pariser Kommune" realisiert wurde, auch "Diktatur des Proletariats". Die Diskussion über Für und Wider mutet etwas rabulistisch an angesichts des Gemetzels, in welchem die Kommune endete. Täter und Opfer sollte man nicht verwechseln. Aber jede Seite bezichtigt die andere der größeren Verbrechen, und wenn alles vorbei ist, kommen die Historiker und schieben mit mehrfach revidierten Zahlen die Toten hin und her.

Marx legte sich vehement mit Michail Bakunin an. Als Anarchist vertrat und praktizierte dieser einen Putschismus, der in seinem unbedingten Kampf gegen jede Form von Staatlichkeit und Autorität Gewalt gegen Personen bereitwillig in Kauf nahm. Dagegen ist Marx gefeit. Für ihn ist die Aufhebung des Kapitalismus in der logischen Struktur des Kapitals enthalten. Er übernimmt Hegels Immanenz-Logik des Sich-selbst-Überbietens.

"Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle." Die Entwicklung der Produktivkräfte, die ständige Entwertung der Arbeitskraft und die Produktion von Mehrwert treiben durch die ihnen eigene Dynamik über die Produktionsverhältnisse hinaus und in die Krise hinein, sodass die Arbeiterklasse nur noch anzueignen braucht, was sie selbst vorbereitet hat. Das läuft wie ein naturgesetzlicher Vorgang ab, bei Engels mehr als bei Marx.

Die Frage, ob Marx für die Verbrechen verantwortlich ist, die postum in seinem Namen begangen wurden, ist zu ernst, um sie nicht ironisch zu beantworten: Marx erfuhr die Gnade der frühen Geburt. Er hat nicht mehr erlebt, was er angerichtet hat.

Eine ausführliche Darstellung siehe unter "Kleines Marx-Lexikon"