Nach Raketeneinschlag: Die Gefahr der Fehleinschätzungen
Ukraine-Krieg: Die Führung in Kiew ging von einem russischen Angriff auf polnisches Territorium aus. Polens Präsident Andrzej Duda hält eine fehlgeleitete ukrainische Abwehrrakete für wahrscheinlicher. Die Neigung, Schnellschüsse zu produzieren, ist hoch.
Gestern Abend schlug eine Rakete in einem landwirtschaftlichen Betrieb im polnischen Dorf in Przewodów, unweit der Grenze zur Ukraine, ein und tötete zwei Menschen, von denen man in den Medien bislang nichts weiter erfahren hat, als dass sie offensichtlich zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Ort und Umstände lassen vermuten, dass es sich um Menschen handelt, die keine Krieger waren, also unschuldige Zivilisten, die einen bösen Krieg, für den sie nichts können, mit ihrem Leben bezahlt haben.
In den Regierungen in Polen, in der Ukraine, in westeuropäischen Hauptstädten, in der Nato, auf dem G20-Gipfel und in den Redaktionen der Medien löste der tödliche Raketenbeschuss (anfangs wurde der Einschlag von zwei Raketen gemeldet) höchste Aufregung aus. Dabei stellte sich – nicht zum ersten Mal – heraus: Die Neigung, Schnellschüsse zu produzieren, ist hoch. Einerseits. Anderseits: Es gibt auch militärische Fehlschüsse im sowieso dummen Krieg.
Was sich nämlich im Laufe des heutigen Tages immer mehr zur wahrscheinlichsten Erklärung verdichtete, ist die Annahme, dass es sich um eine fehlgeleitete Rakete der ukrainischen Flugabwehr handelte und nicht um einen gezielten russischen Raketen-Angriff auf Nato-Gebiet.
"Absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlicher Angriff auf Polen war", sagte der polnische Präsident am Mittwoch vor Journalisten. "Höchstwahrscheinlich war dies eine Rakete, die in der Raketenabwehr eingesetzt wird, das heißt, dass sie von den ukrainischen Verteidigungskräften eingesetzt wurde", sagte Duda.
Spiegel online
Auch die Nachrichtenagentur AP zitiert Duda mit der Beschreibung "unfortunate accident" (unglücklicher Unfall), also kein beabsichtigter Angriff.
Anschuldigungen
Schon Stunden zuvor hatte US-Präsident Joe Biden die hochgeheizte Nachrichtenlage deeskaliert. Nach seinen Informationen würde die Flugbahn der Rakete nicht die Annahme stützen, wonach es sich um einen Angriff aus Russland handele.
"Es gibt erste Informationen, die das bestreiten. Ich möchte das nicht sagen, bevor wir das nicht vollständig untersucht haben. Aber in Anbetracht der Flugbahn ist es unwahrscheinlich, dass sie aus Russland abgefeuert wurde." Er fügte hinzu: "Aber wir werden sehen, wir werden sehen."
US-Präsident Joe Biden, zitiert vom Guardian
Die Anschuldigungen, dass es sich – zweifellos – um einen russischen Angriff auf polnisches Territorium handele, kamen aus der ukrainischen Führung. Das ist nicht verwunderlich, da die Ukraine vom russischen Militär überfallen wurde und die Führung in Kiew angesichts der Brutalität im Krieg dem Angreifer jegliche Grenzüberschreitung pauschal zutraut und zur Last legt. Dazu kommt, dass Kiew weiter um Waffenhilfe bittet, speziell gegen russische Luftangriffe.
Verwunderlich ist allerdings schon die Bestimmtheit der frühen Beschuldigungen aus Kiew. So twitterte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba gestern (in englischer Sprache):
Russland verbreitet nun eine Verschwörungstheorie, dass es angeblich eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr war, die auf die polnische Theorie(!) (i.O. "polish theory"; gemeint ist wahrscheinlich: "Territorium"; Anm. d. Verf.) fiel. Das ist nicht wahr. Niemand sollte russische Propaganda kaufen oder ihre Botschaften verstärken. Diese Lektion sollte seit dem Abschuss von #MH17 längst gelernt worden sein.
Dmytro Kuleba
Der Tweet wurde, wie es der Verschreiber nahelegt, in hektischer Aufgebrachtheit losgelassen. Der Vorwurf mit dem Info-Kampf-Label "Verschwörungstheorie" wendet sich nun gegen Kulebas Voreiligkeit.
Zwar behauptete das russische Verteidigungsministerium schnell, dass es sich um ukrainische Flugabwehrraketen des S-300-Systems handele und man stützte sich dabei auf Fotos der Raketenteile (siehe z.B. hier), die aus Przewodów übermittelt wurden, ohne das beweiskräftig zu unterlegen.
Aber westliche Nachrichtenagenturen, die als seriöse Quellen gelten, stützten die sogenannte russische Verschwörungstheorie. Die AP zitierte drei US-Offizielle, die vorläufige Einschätzungen abgaben, wonach "die Rakete von den ukrainischen Streitkräften auf eine ankommende russische Rakete abgefeuert wurde, die am Dienstag eine vernichtende Salve gegen die ukrainische elektrische Infrastruktur abfeuerte".
Reuters präzisierte später mit einer Aussage des polnischen Präsidenten Duda:
Nach den Informationen, die wir und unsere Verbündeten haben, handelte es sich um eine S-300-Rakete aus der Sowjetunion, eine alte Rakete, und es gibt keinen Beweis dafür, dass sie von russischer Seite abgeschossen wurde.(…) Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie von der ukrainischen Flugabwehr abgefeuert wurde.
Andrzej Duda, Reuters
Gänzlich geklärt ist die Sache noch nicht.
Fakten und die Möglichkeit des Fehlalarms
Nach einem Telefongespräch mit Duda am Dienstag betonte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, es sei "wichtig, dass alle Fakten festgestellt werden". Auch er teilt die Einschätzung, wonach die Rakete "höchstwahrscheinlich" von der ukrainischen Luftabwehr stamme.
Stoltenberg betonte jedoch auch: "Russland trägt die letzte Verantwortung, weil es seinen illegalen Krieg gegen die Ukraine fortsetzt."
Zu hoffen ist, dass nicht nur Journalisten beherzigen, wozu der österreichische Russland-Spezialist Gerhard Mangott rät: "Bitte noch abwarten.(…) Wir brauchen mehr Informationen und weniger Aufregung. Muss mich da selber mehr disziplinieren." Gestern sah Mangott noch Russland in Erklärungsnot. Auch eine Politikerin mit dem Anspruch auf verteidigungspolitische Kompetenz musste zurückrudern.
Heute Morgen noch insistierte der Moderator eines Nachrichtenmagazins des Bayerischen Rundfunks in einem Interview mit der mehrmals wiederholten Frage, ob denn nicht doch der Nato-Bündnisfall durch den Raketenvorfall in Polen gegeben sei. Da war die Frage eigentlich schon durch die unsichere Faktenlage beantwortet.
Der gestrige Raketeneinschlag in Polen zeigt, dass es jederzeit zu Fehlwahrnehmungen, falschen Bewertungen oder Pannen kommen kann. Jeden Tag, den dieser Krieg länger dauert, steigt auch die Gefahr, dass ein Nato-Bündnisfall eintreten kann oder ein Fehlalarm einen Atomkrieg auslöst. Wenn der dritte Weltkrieg und ein Atomkrieg verhindert werden soll, muss jetzt energisch nach Verhandlungslösungen gesucht werden – eine Alternative gibt es nicht!
Angelika Claußen, IPPNW-Vorsitzende