Nach dem ALG-II-Urteil
Mehr Geld oder doch eher weniger?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hinsichtlich der ALG-II-Regelsätze führt zu Spekulationen. Steht nun eine Erhöhung der Regelsätze ins Haus oder droht gar eine Absenkung?
Nicht evident unzureichende monatliche Regelsätze
Als am Dienstag, dem 09.02.2010 das Bundesverfassungsgericht sein lang erwartetes Urteil zu den ALG-II-Regelsätzen verkündete, war bei vielen die Enttäuschung groß. Insbesondere jene, die sich vom obersten Gericht klare Zahlen erhofften, fühlten sich erneut in der Ansicht bestätigt, dass die Karlsruher Richter lediglich Erfüllungsgehilfen der Politik seien. Eine Ansicht, die stets dann vertreten wird, wenn ein Urteil nicht dem entspricht, was man sich davon versprach. Sauer stieß vielen auf, dass sowohl die Regelsätze für Erwachsene als auch jene für Kinder/Jugendliche nicht als "evident unzureichend" bezeichnet wurden.
Die in den Ausgangsverfahren geltenden Regelleistungen von 345, 311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend angesehen werden. Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil sie zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums besonders weit ist.
(Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010)
Hier hatten gerade auch die, die bereits langfristig mit der Berechnung der Regelsätze zu tun hatten, auf ein klares Votum für eine Erhöhung der Regelsätze gehofft. Diesen hat sich das oberste Gericht verweigert, dennoch ist eine Anhebung nicht unwahrscheinlich. Die Urteilsbegründung und das, was die Karlsruher Richter monierten, lässt durchaus den Schluss zu, dass ALG-II-Empfänger ab 1.1.2011 mehr Geld erhalten könnten.
Empirisch nicht belegbare Kürzungen bei einzelnen Posten
Dieser Schluss lässt sich daraus ableiten, dass das BVerfG in seinem Urteil explizit die Methode gerügt hat, die zur Berechnung des Regelsatzes führte. Zwar sei die Referenzgruppe ebenso wenig zu beanstanden wie die Tatsache, dass manche Ausgabepositionen lediglich prozentual in den Regelsatz einflossen, jedoch sei die Bundesregierung ohne sachliche Rechtfertigung von den Strukturprinzipien des Statistikmodells abgewichen.
Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bildet in statistisch zuverlässiger Weise das Verbrauchsverhalten der Bevölkerung ab. Die Auswahl der untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte nach Herausnahme der Empfänger von Sozialhilfe als Referenzgruppe für die Ermittlung der Regelleistung für einen Alleinstehenden ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. [...] Es ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden, dass die in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erfassten Ausgaben des untersten Quintils nicht vollständig, sondern als regelleistungsrelevanter Verbrauch nur zu einem bestimmten Prozentsatz in die Bemessung der Regelleistung einfließen.
Wie bereits des Öfteren dargestellt, wurden in den einzelnen Positionen und Posten, die für den Regelsatz maßgeblich waren, willkürlich gekürzt. So wurden beispielsweise lediglich 85 Prozent der ermittelten Werte für Strom in den Regelsatz übernommen, bei der Bekleidung wurde gekürzt und dies damit begründet, dass in den bisherigen Beträgen auch Gelder für Pelze und Maßkleidung enthalten waren, Gleiches gilt für den Kultur- und Sportbereich, in dem Gelder für Sportflugzeuge herausgerechnet wurden. Die Ausgaben für Bildung blieben im neuen Regelsatz gänzlich unbeachtet. Eine Praxis, der das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil eine klare Absage erteilte:
Der in § 2 Abs. 2 Regelsatzverordnung 2005 festgesetzte regelsatz- und damit zugleich regelleistungsrelevante Verbrauch beruht nicht auf einer tragfähigen Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
Auch die Regelsätze für Kinder - ursprünglicher Grund für die Verfassungsbeschwerde - wurden vom BVerfG als nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügend beurteilt. Dies geschah zum einen, da sich die Regelsätze direkt von dem auf unzulängliche Weise errechneten Regelsatz für Erwachsene ableiteten, zum anderen aber gerade auch deshalb, weil der Gesetzgeber hier lediglich eine Art Überschlagsrechnung vornahm, ohne diese begründen oder belegen zu können. Quasi freihändig wurde entschieden, dass Kinder/Jugendliche bis zum vollendeten 14. Lebensjahr 60 Prozent des Regelsatzes eines Erwachsenen erhalten, ohne hierfür in irgendeiner Form Belege vorlegen zu können:
Das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres von 207 Euro genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, weil es von der bereits beanstandeten Regelleistung in Höhe von 345 Euro abgeleitet ist. Darüber hinaus beruht die Festlegung auf keiner vertretbaren Methode zur Bestimmung des Existenzminimums eines Kindes im Alter bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes, der sich im Unterschied zum Bedarf eines Erwachsenen an kindlichen Entwicklungsphasen und einer kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung auszurichten hat, unterlassen.
Der Gesetzgeber, so die Richter, habe in keiner Weise die spezifischen Ausgaben für Kinder berücksichtigt. Erwähnt wurden insbesondere auch für die Schule notwendige Ausgaben für Hefte, Stifte, Bücher, Taschenrechner etc. Hier hatte der Gesetzgeber durch eine einmalige Beihilfe in Höhe von 100 Euro versucht, diesen Mangel auszugleichen, auch hier wurde der Betrag aber schlichtweg aus dem Ärmel geschüttelt:
Die Regelung des § 24a SGB II, die eine einmalige Zahlung von 100 Euro vorsieht, fügt sich methodisch nicht in das Bedarfssystem des SGB II ein. Zudem hat der Gesetzgeber den notwendigen Schulbedarf eines Kindes bei Erlass des § 24a SGB II nicht empirisch ermittelt. Der Betrag von 100 Euro pro Schuljahr wurde offensichtlich freihändig geschätzt.
Auch kritisierte Karlsruhe das Fehlen von Härtefallregelungen und gab dem Gesetzgeber nunmehr bis 1.1.2011 Zeit, die Regelsätze anhand von stichhaltigen und nachvollziehbaren Bedarfsermittlungen festzusetzen. Zwar wird seit der Urteilsverkündung darüber spekuliert, ob nunmehr die Regelsätze mittels neuer Taschenspielertricks letztendlich in gleicher Höhe wie bisher festgelegt, erhöht oder gar gesenkt werden - gerade bei den Regelsätzen für Kinder ist aber eher von einer Erhöhung auszugehen, wenn nicht die Ausgaben für Bildung/Schule durch Gutscheine oder Ähnliches aufgefangen werden sollten.
Zwar hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit, so den Vorgaben entsprechende Zahlen und Fakten vorliegen, ALG II abzusenken - da aber konkret auch die Kürzungen innerhalb einzelner Posten beanstandet wurden, dürfte es schwerfallen, hier noch stärkere Kürzungen oder niedrigere Beträge anzusetzen, ohne dass dies dem Urteil zuwiderläuft. Denjenigen, die ALG II lediglich als "Überlebensgeld" ansehen, haben die Richter in Karlsruhe jedenfalls deutlich gemacht, dass das Existenzminimum mehr beinhalten muss als nur eine bloße Möglichkeit zu überleben:
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung.
Da dieses Grundrecht laut dem Urteil "dem Grunde nach unverfügbar ist und eingelöst werden muss" ist hier auch eine Möglichkeit gegeben, gegen die strittige Sanktionspraxis vorzugehen. Diese gibt den Sozialleistungsträgern bisher die Möglichkeit, das menschenwürdige Existenzminimum, als welches ALG II angelegt ist, bis auf Null zu kürzen. Inwiefern dies sich mit dem Tenor des BVerfG-Urteils verträgt, bleibt abzuwarten.
Eines jedoch hat Karlsruhe nur allzu deutlich festgestellt: Ein Gesetzgeber, der das Existenzminimum anhand von vagen Schätzungen und willkürlichen Berechnungen festlegt, hat offensichtlich seine "Hausaufgaben" nicht gemacht. Bedauerlich bleibt, dass diejenigen, die zu diesem gerügten Verfahren beigetragen haben, auch weiterhin davon unbehelligt bleiben, was sie einem großen Teil der Bevölkerung damit angetan haben.