Ein Sechsjähriger isst eben weniger als ein Fünfjähriger
Wie ALG-II-Regelsätze berechnet werden
Die Stellungnahme Rüdiger Bökers zu den ALG II-Regelsätzen für Kinder wird um weitere "Schmankerl" bereichert. So benötigt ein Fünfjähriger laut der Ansicht der für die Regelsätze Verantwortlichen monatlich ca. 73 Euro für Nahrungsmittel, ein Sechsjähriger 66 Euro und ein Siebenjähriger wiederum ca. 83 Euro.
Um die Berechnung des Regelsatzes für ALG-II-Empfänger wurde von Anfang an ein Geheimnis gemacht. Das ursprünglich auf 345, nunmehr auf 359 Euro festgesetzte soziokulturelle Existenzminimum steht auf statistisch weniger als tönernen Füßen. Vielmehr sind die Füße quasi inexistent, da nicht nachvollziehbar ist, wie genau sich welche Daten ergeben haben. Rüdiger Böker, Mitglied des Deutschen Sozialgerichtstages, hat sich in seiner Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht mit der Entstehung des Regelsatzes beschäftigt und herausgearbeitet, dass dessen Höhe offenbar weniger errechnet als politisch gewollt ist. Sein Nachtrag auf der Seite des Erwerblosenforums Tacheles behandelt insbesondere auch die Regelsätze für Kinder.
Ob es hilfreich oder sinnvoll ist, die Bedürfnisse von Kindern schlichtweg durch prozentuale Anteile der Bedürfnisse von Erwachsenen darzustellen, sei einmal dahingestellt. Interessant ist aber die von den Verantwortlichen angewendete Erhebungsmethode. So wurden ca. 900 Haushalte insgesamt zur Berechnung herangezogen. Den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Verfügung gestellten Daten zufolge hatten 26 dieser Haushalte ein Kind im Alter von 6 Jahren, 25 Haushalte ein Kind von 13 Jahren. Die Zahl 25 ist deshalb interessant, weil das Statistische Bundesamt Ergebnisse, die zwischen 25 und 100 Haushalte betreffen, aufgrund relativer Standardfehler von 10 % bis unter 15 % als "statistisch relativ unsicher" einstuft. Bei weniger als 25 Haushalten wird auf Ergebnisse ganz verzichtet, "da aufgrund der geringen Haushaltszahl [...] der Zahlenwert nicht sicher genug ist (relativer Standardfehler von 15 % oder mehr)".
Von Minuten und Tagen
Ebenfalls interessant ist die Höhe des Bedarfes an Nahrungsmitteln, der sich durch die Befragung dieser geringen Anzahl von Haushalten ergibt. So wurde "ermittelt", dass einem Fünfjährigen durchschnittlich 73,95 Euro für Nahrungsmittel zustehen sollten, einem Sechsjährigen dagegen lediglich 66 Euro. Selbst wenn dies durch andere Komponenten des Regelsatzes kompensiert werden sollte (Gaststättenbesuche von 1,77 Euro auf 3,86 Euro erhöht), so stellt sich die Frage, wie es zu einem derartigen Einbruch bei den Lebensmittelbedürfnissen kommen kann. Diesbezüglich könnte auch die Ungenauigkeit bei der Ermittlung des Lebensalters des Kindes eine Rolle spielen, denn im Fragebogen wurde lediglich das Geburtsjahr des Kindes angegeben, nicht jedoch der tatsächliche Geburtstag. Dieser Unterschied kann aber bis zu 364 Tage betragen und gerade auch die Kosten betreffend erheblich sein:
Ein am 31. Dezember 1997 um 23:55 Uhr geborenes Kind ist somit in Kalender-Jahres-Gruppe 6, ein am 01. Januar 1998 um 00:05 Uhr geborenes Kind in Kalender-Jahres-Gruppe 5. Die Bundesregierung behauptet, zwischen diesen beiden Kindern bestünden unterschiedliche 'Bedarfe', die nur durch ihr unterschiedliches Lebens-Alter , d. h. 10 Minuten, bedingt sind. Ein am 01. Januar 1997 geborenes Kind hat aber nach Ansicht der Bundesregierung denselben altersbedingten 'Bedarf', wie das Kind, das erst am 31. Dezember 1997, d. h. desselben Jahres, geboren wurde, obwohl zwischen beiden Kindern ein tatsächlicher Lebens-Alters-Unterschied von 364 Tagen besteht.
Einfach ausgedrückt: Ein frisch geborener Säugling hat nach Ansicht der Verantwortlichen den gleichen Bedarf wie ein 11 Monate altes Kind. Denn aus dem Datenmaterial geht das tatsächliche Lebensalter nicht hervor, weshalb eine Erhebung im ersten Quartal (Januar-März) auch Kinder als z. B. Sechsjährige einstuft, die tatsächlich erst 5 Jahre alt sind etc. Es ist daher nicht einmal auszuschließen, dass manche Lebensalter überhaupt nicht berücksichtigt wurden.
Während aber die EVS-Angaben sich auf das Geburtsjahr beziehen, wird die Gewährung des Regelsatzes vom Geburtsdatum abhängig gemacht.
Die Regelleistung beträgt bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres 60 vom Hundert und im 15. Lebensjahr 80 vom Hundert der nach § 20 Absatz 2 Satz 1 maßgebenden Regelleistung.
(§ 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II)
Abweichend von § 28 Absatz 1 Satz 3 Nummer 1 beträgt die Regelleistung ab Beginn des 7. Lebensjahres bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in der Zeit vom 1. Juli 2009 bis zum 31. Dezember 2011 70 vom Hundert der nach § 20 Absatz 2 Satz 1 maßgebenden Regelleistung.
(§ 74 SGB II)
Hier wird somit zwischen Geburtsjahr und Lebensalter hin- und hergerechnet, es ist einmal ausschlaggebend, wann genau jemand geboren ist, dann aber wieder nicht.
Welche Quartale?
Ähnliche Konfusion ergibt sich bei den Quartalen, in denen die Daten erhoben wurden. So hebt Böker hervor, dass die Bundesregierung keinerlei Daten zur quartalsmäßigen Verteilung vorlegte. Dies wäre wichtig, um beurteilen zu können, inwiefern es zu saisonalen Schwankungen bei den Ausgaben kam, z. B. hinsichtlich der Tatsache, dass es im Erhebungsjahr 2003 im August eine Hitzewelle gab, die zu höheren Energie- und Wasserkosten führte.
Um die Verwirrung komplett zu machen, hat die Bundesregierung es unterlassen, die Anzahl der von ihr untersuchten "Paare mit einem Kind unter 18 Jahren" anzugeben. Die Beschreibung musste lediglich auf einen überwiegenden Teil des Erhebungsquartals zutreffen. Wer also im ersten Quartal befragt wurde und am Ende des Quartales ein zweites Kind bekam, der wurde genauso behandelt wie derjenige, dessen Kind am Ende des Quartals starb, da beide Haushalte während des überwiegenden Teils des Quartals zur Befragungsgruppe gehörten.
Dass nur Haushalte, deren Haupteinkommensbezieher den überwiegenden Teil seiner Lebensführungskosten aus Sozialhilfe bestreitet, als Sozialhilfehaushalte gelten (und somit in der Befragung nicht relevant waren) ist da nur das Tüpfelchen auf dem I, das hier eindeutig für Irrtümer bzw. Irreführung stehen kann. Eine solche Einordnung führt unter anderem dazu, dass ein Haushalt, in dem der Vater seine eigenen Kosten zu 49 % aus Sozialhilfe deckt, die Mutter und das Kind jedoch zu 100 % auf Sozialhilfe angewiesen sind, nicht als relevanter Sozialhilfehaushalt gilt. Damit wäre er trotz seiner offenkundigen Finanzierung durch Sozialhilfe aber in die Datenerhebung eingeflossen, die von sich sagt, dass "Sozialhilfehaushalte ausgenommen sind".