Nach dem Ukraine-Konflikt: Wege zu Frieden und Sicherheit in Europa
Wege aus dem Krieg. Wie ein Fahrplan aus dem Konflikt führen könnte. Szenarien für eine mögliche Nachkriegsordnung. (Teil 2 und Schluss)
Die Strategie Nr. 1 ("Ausbau der Verteidigungsfähigkeit") scheint bisher in ihrer eher aggressiven Variante Priorität zu haben. Mittel- und Langstreckenraketen, insbesondere die auch für den Westen geplanten Hyperschallraketen, Nuklearwaffen und nukleare Teilhabe und Marschflugkörper, wie Taurus, können nicht als prioritär einer zur Verteidigung dienenden Militärtechnologie angesehen werden. Dies sind eindeutig Angriffswaffen.
Verteidigung "mit Augenmaß"
Verteidigungsfähigkeit "mit Augenmaß" bedeutet einschlägige Verteidigungstechnologie, wie hocheffektive Flugabwehrraketensysteme, Minenabwehrdrohnen und Minenräumer, Antiseeminensysteme, Panzerabwehrwaffen, Cyber- und Spionageabwehrabwehr oder Frühwarnsatelliten, systematisch in Abstimmung mit Bündnispartnern auszubauen.
Dies ist ein weites Feld, in dem auch die Rüstungsindustrie im öffentlichen Auftrag und unter staatlicher Kontrolle eine legitime Auftragslage hätte. Genau dosierte ökonomische und international abgestimmte Sanktionen gegenüber einem angreifenden Staat, die nicht die Bevölkerung eines Staates, sondern die kriegstreibenden Elemente treffen, dienen ebenfalls der Verteidigung angegriffener Systeme.
Die präventive Einübung von Praktiken sozialer Verteidigung und gewaltfreien Widerstands bis hin zum Generalstreik in besetzten Gebieten gehören genauso hierzu und können wirksamer sein, als sich Waffenfetischisten glauben.1
Diese verschiedenen aufeinander abgestimmten Verteidigungstechnologien und -strategien auf sehr unterschiedlichen Ebenen müssten im Zentrum eines primär der Verteidigung dienenden Bündnissystems, wie der Nato, und auch im Mittelpunkt der Gasp der EU stehen. Dies ist dann auch der Unterschied zwischen der vom Verteidigungsminister Pistorius geforderten "Kriegstüchtigkeit" und dem vom Grundgesetz gemeinten "Verteidigungsfähigkeit".
Ohne einen koordinierten Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeit mit Augenmaß wird Europa sich weder verteidigen können noch als weltpolitischer Akteur auch in Verhandlungen einen wirkungsvollen Einfluss haben.
Verhandlungskompetenz als beste Prävention
Solange es keine Neuordnung im globalen Maßstab gibt2, bei der die Vereinten Nationen das Maß aller Dinge sind, also von den UN kontrollierte weltpolizeilichen Truppen wirkungsvoll einsetzbar sind, muss auch die EU in der Lage sein, sich gegen Angriffe zu schützen.
Die Strategie Nr. 2 ("Verhandlungsoffensive") hingegen wird bisher im aktuellen Krieg in der Ukraine deutlich vernachlässigt, trotz einiger punktueller Verhandlungsansätze und -erfolge in Einzelfragen. Angesichts der menschlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Schäden des Kriegs in der Ukraine müsste es bereits längst zu einer hochrangigen und ausdauernden Verhandlungsoffensive gekommen sein.
Letztendlich ist der Ausbau der Verhandlungskompetenz eines Staates bzw. eines Bündnisses die beste gesellschaftliche Verteidigung im Sinne präventiver Konfliktlösungen einerseits und andererseits für die Deeskalation und einen Waffenstillstand, wenn der Kriegsfall bereits eingetreten ist.
Verzicht auf Maximalforderungen
Der beste Schutz ist hierbei das Wiedererlangen von gegenseitigem Vertrauen und das Wiedereinsetzen und die Weiterentwicklung von gemeinsamen Kontrollverträgen und Abrüstungsmaßnahmen im Bereich der offensiven Waffentechnologie – natürlich zuerst im Bereich der Nuklearwaffen.
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Doch die entscheidende Frage ist, ob die beiden verfeindeten Akteure im Krieg in der Ukraine und die dahinterstehenden Mächte bereit sind, auf eigene Maximalforderungen zu verzichten, um das Töten einzustellen und einen Nuklearkrieg zu verhindern.
Ein dritter Weltkrieg lässt sich nur vermeiden, wenn man eine der wichtigsten Ursachen des Krieges in der Ukraine berücksichtigt – also die immer wieder vorgebrachten sicherheitspolitischen Interessen der Russischen Föderation.
Auch wenn hier kein völkerrechtlich einklagbares Recht der Russischen Föderation besteht, müsste darüber unter Einbeziehung der betroffenen Staaten verhandelt werden, inwieweit ein Einverständnis darüber erzielt werden kann, dass sich die Nato zukünftig nicht weiter nach Osten ausdehnt und eine (abgesicherte) Neutralität der Ukraine und Georgiens organisiert werden kann.
Dies ist völkerrechtlich zwar nicht zwingend, erscheint aber angesichts der historischen Verlaufsdynamik und den mehrfach geäußerten Interessen der Russischen Föderation realpolitisch notwendig, um dem Töten ein Ende zu bereiten.
Im Gegenzug könnte die EU-Mitgliedschaft – nach einem erfolgreichen Verlauf der notwendigen Reformmaßnahmen und Anpassungsprozessen in der Ukraine – von der Russischen Föderation toleriert werden.
Die Frage der staatlichen Zugehörigkeit und die Möglichkeit eines z.B. von der OSZE kontrollierten Votums der im Donbass und auf der Krim lebenden Bevölkerung wird ein weiterer Gegenstand der Verhandlungen sein, die hochrangig und mit geostrategisch ausgeglichener Besetzung aufgenommen werden müssten.
Auch die Einrichtung einer entmilitarisierten Schutzzone westlich und östlich der russischen Staatsgrenze (vor 2022), die durch UN-Blauhelmsoldaten zu sichern ist, müsste verhandelt werden. Das übergeordnete Ziel der Verhandlungen müsste unter einer völkerrechtlichen Perspektive jedoch der Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet der Ukraine und die Einstellung aller Kampfhandlungen sein.
Wäre dies nicht der Fall, würde ein falsches globales Zeichen für andere autoritäre Staaten gesetzt, staatliche Grenzen anderer Staaten zu missachten und ebenfalls völkerrechtswidrige Aggressionen zu begehen.
Es gab in der Vergangenheit zahlreiche gute Vorschläge für Verhandlungen, die systematisch auszuwerten und einzubeziehen sind.3 Der Verhandlungsrahmen muss stimmen, damit die Ergebnisse ernst genommen werden.
Es bietet sich daher die Einrichtung einer hochrangigen, ausgewogenen und wirkmächtigen Verhandlungskommission unter Leitung des UN-Generalsekretärs, möglichst inkl. Vertretern einflussreicher Brics-Staaten (China, Indien u. Brasilien) sowie der Nato, der EU und der OSZE an, im Rahmen derer direkte Verhandlungen mit den Regierungen der Ukraine, Belarus und Russlands mit dem Ziel des Einfrierens und der Aushandlung eines Waffenstillstands als Voraussetzung für Friedensverhandlungen vorgenommen werden, die sich an das Völkerrecht zu halten und keinen schmutzigen Deal vorzunehmen haben.
Was der Westen für die Nachkriegszeit anzubieten hätte
Wenn eine Umsteuerung von der militärischen Eskalation zur friedenspolitischen Verständigung erfolgen soll, stellt sich im Sinne eines Verhandlungserfolgs die Frage, welche Vorteile die Kriegsparteien hiervon hätten.
Zunächst einmal sind hier an erster Stelle die Beendigung des gegenseitigen Tötens, der Vernichtung menschlichen Glücks und ihrer sozialen Existenzen und die Zerstörung von Umwelt und Infrastruktur sowie die Reparatur massiver ökonomischer Schäden zu nennen.
Allein dies müsste als Motivation für einen ernsthaften Verhandlungsbeginn ausreichen. Die Vorteile für die Russische Föderation und Belarus wären unter einer ökonomischen Perspektive ebenfalls offenkundig: Aufhebung der westlichen Sanktionen, verstärkte Wirtschaftsbeziehungen, Wiedereingliederung in westlich orientierte transnationale Wirtschaftsinstitutionen.
Die Ukraine hätte den ökonomischen Vorteil einer internationalen Unterstützung im Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft, den möglichen mittelfristigen Beitritt zur EU und dem damit verbundenen Sicherheitsversprechen sowie den Milliarden-Subventionen insbesondere für ihre Landwirtschaft.
Für beide Staaten böte sich der Vorteil einer Transformation von ressourcenextraktiven und auf Kriegswirtschaft umgestellten Staaten auf eine nachhaltige Entwicklung im Einklang mit den 17 SDGs der UN. Hiermit verbunden wären international abgestimmte Abrüstungsmaßnahmen, um über die hier entstehende Friedensdividende umfassende Ressourcen für sozialstaatliche und ökologische Maßnahmen frei werden zu lassen.
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Für Russland und Belarus würde der Weg in der Nachkriegszeit weg vom aus der Sicht des Westens gesehenen Image als Paria-Staaten hin zur Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft führen, die über die Anerkennung in den Brics- und den OSC-Staaten hinausgeht. Zunächst könnte hier die Zusammenarbeit in der OSZE und dem Nato-Russland-Rat wieder aktiviert werden und könnte Russland wieder zur Gruppe der G8 hinzugenommen werden.
Dennoch dürfen Hunderttausende Tote und Schwerverletzte, massenhafte Kriegsverbrechen und die Zerstörung auf allen Ebenen dann nach einem Friedensschluss aus Opportunitätsgründen nicht verdrängt werden. Es muss nach einem Friedensvertrag und einer stabilisierten Situation eine strafrechtliche Verfolgung von dokumentierten Kriegsverbrechen vorgenommen werden.
Aber es sollten auch Konfliktkommissionen ähnlich den von Nelson Mandela initiierten südafrikanischen Versöhnungskommissionen nach dem Ende der Apartheid gebildet werden, wo eine Konfrontation von Tätern und Opfern und Familien getöteter Zivilisten und Soldaten erfolgen wird.
Dies wird das geschehene Unrecht und das entstandene menschliche Leid nicht wieder ausgleichen können, wird aber dabei helfen, die traumatischen Ereignisse so verarbeiten zu können, dass ein Weiterleben mit dem Erlebten möglich wird.
Doch zunächst einmal müssen die Waffen schweigen und müssen Verhandlungen aufgenommen werden. Ausschließlich Drohungen werden hier nicht helfen. Es müssen die beschriebenen positiven Perspektiven einer Kriegsbeendigung für die beteiligten Staaten Priorität haben.
Klaus Moegling, apl. Prof. Dr. habil. ret., Fb Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel, langjähriges Engagement u.a. in der Friedens- und der Umweltbewegung (Homepage).
Buchpublikation:
Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. 5. aktualisierte u. erweiterte Auflage, 2024.
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