Nachgefragt: Warum wählen so viele die CDU?
Trotz Dauerkrise, politischem Stillstand und schrumpfendem Sozialstaat: Die CDU hat mit rund 40 Prozent die größte Wählerschaft Deutschlands
In der Gebärdensprache ist das Zeichen für Bundeskanzlerin Angela Merkel ein "Miesmund", der durch die deutlich heruntergezogenen Mundwinkel dargestellt wird. Die Wählerinnen und Wähler scheinen da fröhlicher gestimmt. Jedenfalls, wenn es nach den Umfragewerten geht: Die CDU liegt auf Bundesebene äußerst konstant bei rund 40 Prozent.
Vier von zehn Personen, die Ihnen auf der Straße über den Weg laufen, setzen ihr Kreuzchen also bei der Union (sofern sie überhaupt wählen gehen). Ganz schön viele. Und mehr als bei der Bundestagswahl 2009, bei der 33,8 Prozent für die Christdemokraten stimmten. Aber weshalb ist die CDU dermaßen beliebt bei den Wählern? Trotz Dauerkrise, einem der ungerechtesten Bildungssysteme der westlichen Welt und einer massiv auseinanderklaffenden sozialen Schere? Hat die klirrende Raspelkälte schon die Seelen der Wähler erreicht? Oder leistet die CDU gute "alternativlose" Arbeit?
Saskia Richter, Politologin an der Uni Hildesheim, sieht die Vormachtstellung der CDU vor allem in der Person Merkels begründet, wie sie gegenüber Telepolis erläutert:
Die Stärke der Union ergibt sich aus der souveränen Position von Angela Merkel, die sich als Kanzlerin eine historisch durchgreifende Position in der EU erarbeitet hat. Unter Merkel wurde die deutsche und europäische Finanzkrise gemeistert. Innenpolitisch profitiert ihre Regierung zudem von einer Sozialpolitik und der Agenda 2010, die unter der Vorgängerregierung durchgesetzt wurden, und einer konsequenten Verringerung zusätzlicher Staatsverschuldung. Angela Merkel ist die Kanzlerin derjenigen, die die rigide Haushaltspolitik der Bundesregierung und der EU befürworten.
Saskia Richter
Tatsächlich scheint Merkels eiserne Hand in der Finanzpolitik eine große Rolle für den Erfolg der CDU zu spielen: Bei der Frage, wer die Euro-Krise in den Griff bekomme, erreichte die CDU noch im Dezember mit Abstand die höchsten Kompetenzwerte. 45 Prozent trauen das den Christdemokraten zu, der SPD aber nur 23 Prozent.
Allerdings erkennen viele Wähler, dass die CDU mit anderen Themen kaum punkten kann, da sie weitgehend inhaltsleer ist: Auf die Frage, weshalb die Christdemokraten bei der nächsten Bundestagswahl gewählt würden, antworten satte 44 Prozent: "wegen Angela Merkel" … nur 7 Prozent sagen: "wegen der Inhalte". Wenn die konkreten Inhalte fehlen, kommen die treuen Anhänger jedenfalls recht (Merkel gut, Union pfui). Ende März rutschte die Union allerdings schon einmal unter 40 Punkte auf 38 Prozent.
Hans-Georg Wehling Politologe und Vorstand des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung an der Uni Tübingen, erklärt den Erfolg der CDU vor allem mit deren solider Anhängerschaft:
Nach wie vor gibt es einen beträchtlichen Teil Stammwähler der CDU. Auch wenn das katholische Milieu schrumpft: Es gibt immer noch einen großen Anteil der katholischen Bevölkerung, für die nur die CDU in Frage kommt, selbst wenn sie unzufrieden mit "ihrer" Partei sind. Unter den katholischen CDU-Anhängern spielen soziale Gerechtigkeit und Erhaltung der Schöpfung eine große Rolle. Wenn die CDU-geführte Bundesregierung dem nicht Genüge tut, kann man das auf die FDP schieben, die alles tut, hier den Buhmann abzugeben. Im "bürgerlichen" Lager der "Besserverdienenden" hat die FDP abgewirtschaftet, was der CDU ebenfalls zugutekommt.
Hans-Georg Wehling
Für die Besserverdienenden scheinen die Christdemokraten also mittlerweile erste Wahl zu sein. Für die sozial Benachteiligten ist die Union kaum eine Option: In der Wählerschaft der CDU/CSU finden sich mit einem Anteil von 9,3 Prozent die wenigsten Arbeitslosen. Und von all jenen, die monatlich ein Haushaltseinkommen von unter 1.000 Euro haben, wählen lediglich 5,7 Prozent die CDU/CSU.
Allerdings hat die einzig andere Volkspartei, die SPD, ihre Wählerschaft und ihr Ideal der sozialen Gerechtigkeit spätestens mit der "Agenda 2010" verraten (Link auf 38753). Die SPD liegt in der Wählergunst mit durchschnittlich 25 Prozent (Ende März im DeutschlandTRend: 27 Prozent) derzeit weit abgeschlagen hinter der CDU … fraglich, ob die SPD überhaupt noch eine Volkspartei ist. Zumal ihr geradezu neoliberaler Kanzlerkandidat Peer Steinbrück eher als Freund der Banken denn als Robin Hood der Armen gilt. "Mutti Merkel" hingegen scheint alles richtig zu machen. Ihr "Miesmund" deutet schon an, dass hier jeglicher Esprit fehlt - allein ihr messerscharfes Machtkalkül und ihr geschicktes Jonglieren zwischen den Stühlen sticht hervor. Kritik schmiert an ihr ab wie Butter auf Teflon.
Matthias Micus, Politologe am Institut für Demokratieforschung in Göttingen, sieht sowohl die Stammwählerschaft als auch das Krisenmanagement als Gründe für den Höhenflug der Christdemokraten, wie er gegenüber Telepolis erklärt:
Die CDU besitzt in katholisch-ländlichen Gegenden noch stabile Hochburgen und in Landwirten und regelmäßigen Kirchgängern wenn auch schrumpfende, so doch loyale Wählersegmente. Eben damit hat sie aber besser als ihre sozialdemokratische Konkurrentin SPD das Erfolgsrezept der Volksparteien konserviert. Darüber hinaus sind schicksalhafte Zeiten der Bedrohung, Gefährdung und Unsicherheit in der Regel Zeiten der Exekutive. Im Angesicht der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise vermögen sich Angela Merkel und ihre Partei insbesondere außen- und europapolitisch zu profilieren.
Matthias Micus
Es scheint, als könnte die CDU machen, was sie will: Sie hat eine ergebene Stammwählerschaft, die mit einem Altersdurchschnitt von 58 Jahren die älteste von allen Parteien bildet. Der große loyale Kern nähert sich aus katholischen und auf dem Land lebenden Menschen; in den Großstädten kann die CDU kaum noch punkten. Aber trifft es überhaupt zu, dass sich die CDU auf einem permanenten Höhenflug befindet?
Marcel Bois, Historiker und Redakteur des Magazins marx21, stellt den behaupteten Erfolg der CDU grundsätzlich infrage:
So viele Bürgerinnen und Bürger wählen die CDU ja gar nicht mehr. Stattdessen verliert die Partei kontinuierlich Stimmen. Allein zwischen 1990 und 2009 ist die absolute Zahl derjenigen, die bei der Bundestagswahl ihr Kreuz für die Christdemokraten gemacht haben, von 17,0 auf 11,8 Millionen zurückgegangen - also um fast ein Drittel. Da die Wahlbeteiligung aber wegen der großen Unzufriedenheit insgesamt sinkt, fällt der Rückgang der CDU-Stimmen nicht so auf. Dass beispielsweise nicht die SPD profitiert, liegt auch daran, dass sie im Kern für die gleiche Politik wie die CDU steht: Schuldenbremse, Auslandseinsätze der Bundeswehr und Sozialabbau (Agenda 2010). Nicht umsonst konnten in der Vergangenheit Parteien wie DIE LINKE oder die Piraten relativ große Erfolge verbuchen - zumindest solange, wie die Wählerinnen und Wähler den Eindruck hatten, dass sie sich vom etablierten Politikbetrieb abheben.
Marcel Bois
Der Vorsprung der CDU ist historisch: Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik ging die amtierende Regierungspartei mit einem so großen Zuspruch ins Wahljahr - der Abstand zur SPD ist ebenso frappierend wie einmalig. Als Konservative konserviert Angela Merkel sowohl Wählerstimmen als auch den Status Quo. Große Sprünge wagt sie nicht, radikale Reformen sucht man vergebens:
Franz Walter, lehrt Politikwissenschaften an der Uni Göttingen und leitet dort das Institut für Demokratieforschung. Er analysiert die Vormachtstellung von Merkels CDU wie folgt:
Konservative sehen sich nicht als Baumeister neuer menschlicher Ordnungen. Auch Merkel präsentiert sich nicht (mehr) als Schöpferin einer neuen bürgerlichen Freiheit, sondern als Klempnerin, die repariert, oder als Gärtnerin, die schneidet, lichtet, aber auch gießt und pflegt, was gut zu gedeihen und zu blühen verspricht. Mehr haben sich Konservative vom Politischen nie versprochen. […] Schmerzhaft sind die formidablen Umfragewerte für Merkel vor allem für die Verfechter und Verteidiger von Volkssouveränität und parlamentarischer Repräsentation. Seit Adenauer hat sich kein zweiter Regierungschef so unsentimental über die Prinzipien der demokratischen Lehrbücher hinweggesetzt wie sie. Aber es schadet ihr nicht. Auch und gerade in diesem Fall gewinnt sie durch eine typisch konservative Geste. Konservative haben nie viel vom Parlament gehalten. Es war ihnen ein Ort des ziellosen Palavers.
Franz Walter in der Frankfurter Rundschau
Ganz gleich, wo man sich politisch verortet: Nüchtern betrachtet ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sich Angela Merkel einer immensen Beliebtheit erfreut. Doch politische Analysen sind das eine, konkrete Kreuzchen das andere: Die Bundestagswahl am 22. September 2013 wird zeigen, was die Wähler sich erhoffen. Wird es die CDU abermals schaffen, sich als "alternativlos" darzustellen - oder werden die Wähler das "Alternativ-Los" ziehen?