Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist der Zombie, der nicht sterben will

US-Präsident Joe Biden und der ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beim G-7-Gipfel in Hiroshima, Japan, am 21. Mai 2023. Bild: Ukrainische Präsidentenbüro

Wieder kein Veto von Deutschland und Frankreich in Vilnius. Der Nato-Beitritt schwebt weiter über Europas Sicherheit. Warum das Bündnis nicht fähig ist, einen Schlussstrich zu ziehen.

Die Regierungen der USA, Deutschlands und Frankreichs setzen die bisherige Nato-Politik gegenüber der Ukraine in einer etwas verschärften Version fort. Sie versprechen Kiew die Nato-Mitgliedschaft zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft und verpflichten das Militärbündnis gleichzeitig zu noch umfangreicheren und dauerhaften Waffenlieferungen an die Ukraine.

Das wird als "israelische Option" bezeichnet – die Ukraine als schwer bewaffneter und stark nationalistisch geprägter Militärstaat, der in der Lage ist, Russland aus eigener Kraft zu schlagen, aber ohne ein formelles Bündnis mit dem Westen.

Wie Präsident Biden erklärt hat:

Ich glaube nicht, dass es in der Nato Einstimmigkeit darüber gibt, ob man die Ukraine jetzt, in diesem Moment, mitten im Krieg, in die Nato-Familie aufnehmen sollte oder nicht. Wenn man das zum Beispiel täte, dann – und ich meine das, was ich sage – müssten wir entschlossen sein, jeden Zentimeter des Nato-Territoriums auch abzudecken. Das ist eine Verpflichtung, die wir alle eingegangen sind, egal was passiert. Wenn der Krieg weitergeht, dann wären wir alle im Krieg. Wir wären dann im Krieg mit Russland.

Er fügte jedoch hinzu:

Ich denke, wir müssen einen vernünftigen Weg für die Ukraine aufzeigen, damit sie sich qualifizieren kann, um in die Nato aufgenommen zu werden. ... Aber meiner Meinung nach ist es verfrüht, eine Abstimmung zu fordern, ... weil es andere Bedingungen gibt, die erfüllt werden müssen, einschließlich Demokratisierung und verwandter Fragen.

Das Resultat des Nato-Gipfel ist aber nicht das schlechteste mögliche Ergebnis. Am schlimmsten wäre die sofortige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine gewesen, die die Nato verpflichten würde, in den Grenzen von 2013 für die Ukraine zu kämpfen. Damit würde die Nato in einen direkten Krieg mit Russland hineingezogen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in einen Atomkrieg eskalieren würde.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

Da die Biden-Regierung und alle wichtigen Nato-Regierungen wiederholt erklärt haben, dass sie weder jetzt noch in Zukunft die Absicht haben, aus eigener Entscheidung in einen Krieg mit Russland zu ziehen, und da auch in einer Mehrheit der Nato-Staaten die Öffentlichkeit diesen Kurs ablehnt, ist es unverständlich, warum eine Nato-Mitgliedschaft jetzt oder in Zukunft überhaupt zur Debatte steht.

Was bedeutet schließlich die Nato-Mitgliedschaft, wenn nicht die Verpflichtung, für die Verteidigung anderer Mitglieder zu kämpfen?

Es ist jedoch die fatale Heuchelei der Nato-Politik und -Rhetorik, seit die Regierung von George W. Bush (mit enthusiastischer Unterstützung Großbritanniens, Polens und der Nato-Führung) vor dem Bukarester Gipfel im April 2008 erstmals einen sofortigen Aktionsplan für die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens forderte.

Trotz wiederholter Warnungen von Diplomaten und Experten (einschließlich des damaligen US-Botschafters in Moskau und heutigen CIA-Direktors William Burns), dass dies sehr wahrscheinlich zu einem Konflikt mit Russland führen würde, wurde diese Perspektive eröffnet.

Damals wies ich US-amerikanische und britische Regierungsvertreter wiederholt darauf hin, dass russische Friedenstruppen die separatistischen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien schützten, die der nationalistische georgische Präsident Micheil Saakaschwili um jeden Preis zurückerobern wollte. Dies hätte zur Folge gehabt, dass die Nato-Mitgliedschaft mit Georgien das Bündnis direkt in etwas verwickeln würde, was sie grundsätzlich immer vermieden hat, nämlich in lokale territoriale Streitigkeiten einzugreifen.

Sollte Georgien die Nato-Mitgliedschaft als Deckmantel für den Versuch nutzen, diese Gebiete mit Gewalt zurückzuerobern, stünde die Nato vor der Wahl, entweder tatenlos zuzusehen, wie ein Nato-Mitglied zerschlagen wird, oder an der Seite Georgiens zu intervenieren. Das hätte zu einem Krieg mit Russland geführt, der bis zu einem Atomkrieg eskalieren könnte – und das allein wegen eines Disputs, wer die Souveränität über Südossetien hat. Ernsthaft?

Bei einem Treffen britischer Offiziere und Diplomaten im Frühjahr 2008, bei dem die neue nationale Sicherheitsstrategie von Großbritannien erörtert wurde, fragte ich die Versammelten in Bezug auf dieses Szenario und danach, was Großbritannien in einem solchen Fall tun sollte. Die Reaktion war ziemlich bemerkenswert.

Sie blickten auf den Boden. Sie schauten an die Decke. Sie sahen aus dem Fenster. Sie sahen mich nicht an, und vor allem sahen sie sich gegenseitig nicht an. Das Schweigen zog sich in die Länge. Schließlich hustete der Vorsitzende und wechselte das Thema.

Ein Grund dafür (neben dem blinden Bekenntnis des britischen Sicherheitsapparats zur Unterordnung in einem Bündnis mit den Vereinigten Staaten, koste es, was es wolle) wurde mir einige Jahre später von einem Offizier mitgeteilt, der von 2007 bis 2008 im Nato-Sekretariat arbeitete. Ich fragte ihn, welchen Notfallplan die Nato für die Möglichkeit eines Krieges zwischen Russland und Georgien ausgearbeitet habe.

Er antwortete, es habe nicht nur keinen gegeben, sondern es sei auch kein solcher Plan vorgeschlagen oder diskutiert worden. Ich fragte ihn, wie das angesichts des offensichtlichen Kriegsrisikos möglich sei.

Er antwortete, es sei ganz einfach. Die Nato-Erweiterung sei den westlichen Parlamenten und der Öffentlichkeit stets unter der Prämisse verkauft worden, dass es keine zusätzlichen Opfer oder Gefahren mit sich bringen würde.

Hätte ein Mitglied des Nato-Personals die Möglichkeit solcher Opfer und Gefahren angesprochen, so hätte es sich faktisch zum Gegner einer Nato-Mitgliedschaft Georgiens erklärt, nachdem sich die Vereinigten Staaten und der Nato-Generalsekretär dafür ausgesprochen hatten.

Sie wären mit einem großen schwarzen Fleck auf Ihrem Namen in ihr eigenes Verteidigungsministerium zurückgeschickt worden, und ihre Karriere wäre ruiniert gewesen.

Ich bemerkte, dass es eine sehr merkwürdige Art sei, ein angebliches Militärbündnis zu führen. "Ja, in der Tat", antwortete er. Im August 2008 griff Georgien tatsächlich Südossetien und die dortige russische Friedenstruppe an. Russland antwortete mit massiver Gewalt und die Vereinigten Staaten und die Nato verblieben an der Seitenlinie.

Russland wird nicht einfach verschwinden

Seit dem Bukarester Gipfel verfolgen die Franzosen und die Deutschen eine Politik, an der sie im Wesentlichen bis heute festhalten. Nachdem sie tatsächlich auf die Warnungen der Russen und ihrer eigenen Diplomaten und Experten zu hören begonnen hatten, lehnten sie die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens ab.

Unter dem Druck der USA und aus Angst vor einer "Spaltung des Bündnisses" (nichts, was Polen jemals beunruhigt hätte) wagten sie es jedoch nicht, ein Veto gegen die Mitgliedschaft einzulegen und die Angelegenheit endgültig zu beenden. Stattdessen stimmten sie einem Kompromiss zu, in dem der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zugesagt wurde, jedoch ohne einen Zeitrahmen oder einen klaren Weg zur Mitgliedschaft.

Damit wurde Russland mitgeteilt, dass die Nato die Ukraine und Georgien bewaffnen sowie ausbilden würde. Russland würde irgendwann in der Zukunft aus seinem Marinestützpunkt in Sewastopol sowie aus den georgischen Separatistengebieten vertrieben werden.

Die Nato würde in den Jahren bzw. Jahrzehnten bis dahin die Ukraine und Georgien nicht wirklich verteidigen. Auf einem Symposium, an dem ich derzeit in Armenien teilnehme, fasste einer der Teilnehmer die Strategie als "den Bären am Schwanz ziehen und dann wegrennen" zusammen – also weglaufen von der Ukraine, um genau zu sein.

Es hat Russland verärgert und verängstigt sowie die radikalen Nationalisten in der Ukraine ermutigt, ohne der Ukraine irgendeinen Schutz zu bieten. Der Versuch, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, widerspricht übrigens auch dem Wunsch einer großen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, die sich in jeder Meinungsumfrage zu diesem Thema vor 2014 gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine aussprach, eben mit der Begründung, dass Russland dadurch zum Feind würde.

Ist der Nato-Gipfel in Vilnius angesichts der Tatsache, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine erneut auf unbestimmte Zeit verschoben worden ist, überhaupt von Bedeutung? Ja, und zwar aus zwei Gründen.

Erstens wird es durch die wiederholte, "eiserne" Zusage einer künftigen Nato-Mitgliedschaft für den Westen oder die Ukraine sehr viel schwieriger, einen Weg zu einer diplomatischen Lösung des Ukraine-Kriegs einzuschlagen, nämlich einen ukrainischen Neutralitätsvertrag mit starken Sicherheitsgarantien – etwas, das übrigens Präsident Selenskyj selbst als Teil einer Friedensregelung im März 2022 vorgeschlagen hat.

Wenn man Russland bei einer seiner Hauptforderungen die Möglichkeit verschafft, als erfolgreich zu erscheinen, könnte das entscheidend sein, die russische Regierung in die Lage zu versetzen, im Rahmen einer Einigung Zugeständnisse in anderen Fragen zu machen.

Das zweite Problem ist langfristiger angelegt. Die Erweiterung der Nato und der EU war von Anfang an damit verbunden, dass angesichts des Mottos "Ein ganzes und freies Europa" Russland von jeglichem Mitspracherecht bei der europäischen Sicherheit ausgeschlossen wird – was keine russische Regierung jemals akzeptieren würde. Initiativen, das durch sinnlose Institutionen wie den Nato-Russland-Rat zu verschleiern, haben sich als leer erwiesen.

Versuche Russlands, neue Sicherheitsarchitekturen vorzuschlagen, wie von Präsident Dmitri Medwedew im Jahr 2009, wurden vom Westen ohne Diskussion zurückgewiesen.

Man kann ein Motiv der Invasion in die Ukraine darin erkennen, dass Russland, nachdem es von der europäischen Sicherheit ausgeschlossen wurde, versuchte, sich den Weg dahin zurückzuschießen. Es war ein krimineller und katastrophaler Schachzug Russlands, den umsichtige Experten schon seit vielen Jahren vorausgesagt hatten, auch als Folge der westlichen Politik.

Es sollte daher klar sein, dass es keine wirklich stabile und langfristig erfolgreiche Sicherheitsarchitektur in Europa geben kann, die nicht zugleich die Sicherheit für die Ukraine und für Russland einbezieht sowie Russlands Sicherheitsbedenken berücksichtigt.

Andernfalls wird sich der Westen einer endlosen Strategie der Bewaffnung und Finanzierung der Ukraine gegen Russland verschreiben und gleichzeitig beten, dass sich die Vereinigten Staaten weiterhin voll und ganz dafür einsetzen und sich nicht von wichtigeren nationalen und internationalen Bedrohungen ablenken lassen.

Denn sollten sich die USA jemals zurückziehen, könnten die europäischen Nato-Mitglieder zu der Einsicht gelangen, dass das Einzige, was noch dümmer ist, als einen Bären am Schwanz zu ziehen und wegzulaufen, darin besteht, ihn am Schwanz zu ziehen, wenn man nicht weglaufen kann.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).