Neue Religion um "Fast-Ewigkeitsdimensionen" von Plastikmüll?

Da geht doch was! So viel Material erfordert einen Kult, meinen die Herausgeber von "Toxic Temple". Foto: toxictemple.beauty

Im Sammelband "Toxic Temple" wird vorgeschlagen, aus der Plastikmüllflut einen religiösen Kult zu machen. Der Schock könne heilsam sein, meint Philsoph Jörg Kilian. Außerdem müsse die weiße "Herrenkultur" weg. Ein Interview.

Plastik ist ein Stoff, der unsere Welt zu überfluten droht. Das Material ist allgegenwärtig und die Müllberge wandern längst über die Ozeane. Der Wiener Philosoph Kilian Jörg hat mit der Klang- und Videokünstlerin Anna Lerchbaumer im Frühjahr 2022 den Sammelband "Toxic Temple" herausgegeben, der in elf Aufsätzen dem Thema kritisch und konstruktiv näher rückt.

Über den wissenschaftlichen Zugang hinaus wohnt dem Projekt ein stark performativer Charakter inne. Theoretisches Wissen wird in Performances und Ritualen praktisch umgesetzt, was zu neuen Einsichten in die scheinbare Ausweglosigkeit unseres Lebensstils führt. Wenn wir ständig mit Müll konfrontiert sind, sollten wir dann nicht einen Kult aus seinem Vorhandensein machen? Kilian Jörg beantwortete im Gespräch mit Telepolis diese und andere Fragen.

Kann ich auch Mitglied der Religionsgemeinschaft werden, um die es in "Toxic Temple" geht? Wenn ja, auf welche Weise?

Kilian Jörg: Ich würde sagen, Du – als Mitglied der modernen Konsumgesellschaft – bist schon Mitglied wider Wissen. Bei unserem religiösen Kunstprojekt geht es darum, gewisse Züge unserer Alltäglichkeit auszustellen und so sichtbar, fühlbar und adressierbar zu machen. Unsere moderne Idee des Guten Leben baut auf Verschwendung auf. Da wir dieses weiterhin zu ehren scheinen, warum auch nicht gleich die darauf basierende Verschwendung ehren?

Müll ist ein Material, das wir nicht gerne neben uns wissen, das aber sehr alltäglich ist. Der "Toxic Temple" übernimmt Aspekte von Religionen, die wollen üblicherweise auch Antworten auf den Tod finden. Religiöse Menschen interessieren sich häufig für Jenseitsfragen. Im Umkehrschluss: Wird Müll wie der Tod aus unserer Zivilisation ausgegrenzt, gar in ein Jenseits geschoben?

Kilian Jörg: Ich würde dies mit einem klaren Ja beantworten. Unser konsumgeprägter Alltag hat eine sehr verdrehte Wertschätzung von Objekten im Verhältnis zu deren Dauer. Einfaches Beispiel: Das im Supermarkt gekaufte Sandwich, welches ich mir in der Mittagspause schnell reindrücke, ist in Plastik verpackt, welches 300 bis 500 Jahre auf dieser Erde verbleiben wird.

Das Plastik, wenn ich es wegschmeiße, bedenke ich kaum. Wir im Toxic Temple wollen diese verdrehte Aufmerksamkeit umdrehen und durch die Fast-Ewigkeitsdimensionen unseres Abfalls das nachmenschliche Jenseits erkunden.

Auf eine Art ist vielleicht der größte Unterschied unserer Religion zu den meisten anderen, dass wir das Jenseits als immanent in der zukünftigen Welt verstehen, nicht als transzendent in irgendeinem zeitlosen Himmelsreich. Im Plastik, und noch mehr im Atommüll, drückt sich eine Dauer aus, die wir als Menschen nicht fassen können und ziemlich sicher auch nicht erleben werden (besonders wenn wir so weiter machen, wie bisher) – wir kommunizieren also durch den Müll mit dem "Nach-uns" und Jenseits des Menschlichen.

Dieser seltsame, noch wenig ausformulierte religiöse Apsekt unserer Verschwendungskultur interessiert uns – ihm fühlen wir nach in unseren Peformances, Gebet/Gedichten, Texten, Installationen, Klangkunstwerken, etc.

Gibt es denn bereits weitere Toxic-Temple-Ableger?

Kilian Jörg: Die ersten öffentlich-wirksamen Spekulationen haben tatsächlich in Varanasi und Neu-Delhi bei einem Forschungsaufenthalt von Anna und mir dort begonnen. Die erste größere Ausstellung fand dann 2020 – einen Monat vor dem ersten Lockdown – im Wiener AIL statt. Diese Ausstellung war für uns ein ziemlich großer Erfolg und in den Lock-Down-Zeiten haben wir uns dann mit der Produktion des "Toxic Temple"-Buchs sowie eines Radiokunstprojekts für den Österreichischen Rundfunk Ö1 beschäftigt.

Seit öffentliche Performance-Kunst wieder einigermaßen möglich ist, haben wir ein neues Performance-Format entwickelt, welches sich "Toxic Temple Mess" nennt, in dem wir in einer Langzeit-Non-Stop-Performance für mehrere Tage live eine Installation errichten und darin religiöse Services / Performances anbieten – von der Beichte über heilige Messen und Workshops bis hin zu Rezitationen, Konzerten und theologischen Debatten.

Wir sind gerade in Verhandlungen mit einem größeren Festival über eine abgewandelte Produktion dieser Mess im nächsten Frühjahr. Und auch noch diverse weitere Ideen sind in der Luft – stay tuned.

Der Performance Charakter ist von wesentlicher Bedeutung, wie ich es verstehe. Reichen Artikel nicht mehr, um auf die Toxizität der Gegenwart hinzuweisen?

Ein Versuch, die katastrophale Lage "künstlerisch fühlbar zu machen"

Kilian Jörg: Es weisen ja mittlerweile die allermeisten ökologisch Forschenden darauf hin, dass es keinen Mangel an Wissen, sondern einen Mangel an (politischer) Handlung gibt. Im Toxic Temple handeln wir zwar nicht direkt politisch, doch wir versuchen, das in Artikeln nur abstrakt vermittelbare Wissen von unserer katastrophalen Lage performativ und künstlerisch fühlbar zu machen.

Das Problem von Wissenschaften ist, dass sie uns zumeist nur rational und abstrakt ansprechen können – vor abstrakten Argumenten oder Zahlenreihen verfallen aber leider die allermeisten nicht in Panik. Die moderne Kultur baut darauf auf, ökologische Schäden outzusourcen und zu verdrängen. Wir wollen dieses Verdrängte wieder reinholen und fühlbar machen: Wir glauben, dass man zuerst mal richtig fühlen muss, wie beschissen die Lage ist, bevor man wirklich zum Handeln animiert wird.

Was verbindet die Autor:innen des Bandes? Nahmen sie alle an dem Toxic Temple Teil?

Kilian Jörg: Einige der Autor*Innen gehörten sozusagen zum Kernteam des Toxic Temple, andere wurden durch die Einladung erst so richtig "konvertiert" und sind seitdem überzeugte Adepten des Glaubens. Wieder andere haben Texte oder Arbeiten fabriziert, die uns in der Konzeption inspiriert haben und aus diesem Grund haben wir sie eingeladen. Und eine letzte Gruppe von Menschen sind jene, die aus einer ähnlich künstlerisch-wissenschaftlichen Umwelt stammen und so unser Projekt innerhalb seiner Umwelt beschreiben und reflektieren können.

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