Neue Studien zu "nuklearer Hungersnot"
Seite 2: Größere und kleinere Szenarien
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Ein Atomkrieg hat eine Reihe tödlicher Auswirkungen, von der direkten Tötung von Menschen durch die Atomexplosionen bis hin zu den anhaltenden Auswirkungen von radioaktiver Strahlung und anderen Formen der Umweltschädigung.
Xia und ihre Kolleginnen und Kollegen dagegen wollten die Folgen eines Atombombeneinsatzes weiter weg vom unmittelbaren Kriegsschauplatz untersuchen, um zu verstehen, auf welche Weise auch Menschen auf der ganzen Welt von einem lokalen Atomkrieg betroffen sein könnten. Die Wissenschaftler modellierten, wie sich das Klima in verschiedenen Teilen der Welt nach einem Atomkrieg verändern und welche Auswirkungen dies auf die Getreideernten und den Fischfang haben würde.
Sie analysierten dabei sechs Kriegsszenarien, bei denen unterschiedliche Mengen an Ruß in die Atmosphäre gelangen und die Oberflächentemperaturen zwischen einem und 16 Grad Celsius absinken würden. Die Auswirkungen könnten ein Jahrzehnt oder länger anhalten.
Ein begrenzter Atomkrieg, etwa zwischen Indien und Pakistan, der vielleicht wegen der umstrittenen Kaschmir-Region ausgelöst werden würde, könnte zwischen fünf und 47 Millionen Tonnen Ruß in die Atmosphäre schleudern, je nachdem, wie viele Sprengköpfe eingesetzt und wie viele Städte zerstört worden sind. Die Anzahl der Hungertoten würde in diesen Szenarien zwischen 260 Millionen und 2,5 Milliarden Menschen betragen.
Ein umfassender Nuklearkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, das sechste Szenario, das von Xia et al. untersucht worden ist, könnte sogar 150 Millionen Tonnen Ruß produzieren. Die den Globus umkreisende Rußwolke würde viele Jahre bestehen bleiben, bis sich der Himmel wieder lichten würde. In der Folge könnten 5 Milliarden Menschen an Hunger sterben.
Die Folgen des Atombombeneinsatzes: eine nukleare Hungersnot
Anhand von Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen berechnete Xias Team, wie sich sinkende Ernte- und Fischereierträge nach einem Atomkrieg auf die Anzahl der Gesamtkalorien auswirken würden, die den Menschen weltweit im Durchschnitt zur Verfügung stehen würden.
Die Wissenschaftler untersuchten mehrere Optionen, ob etwa die Menschen weiterhin Vieh züchteten oder ob sie stattdessen einige oder alle für das Vieh bestimmten pflanzlichen Produkte selbst verbrauchten.
Die Studie ging davon aus, dass es in einem gewissen Umfang eine Wiederverwendung für den menschlichen Verzehr von Pflanzen geben würde, aus denen jetzt Biokraftstoffe hergestellt werden, und dass die Menschen die Lebensmittelverschwendung reduzieren oder beseitigen würden.
In der Studie wurde auch angenommen, dass der internationale Handel zum Erliegen kommen würde, da viele Länder sich dafür entscheiden würden, zuallererst die Menschen innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu ernähren, anstatt Nahrungsmittel zu exportieren.
Xia et al. stellten fest, dass die Studie auf vielen Annahmen und Vereinfachungen darüber beruht, wie das komplexe globale Nahrungsmittelsystem auf einen Atomkrieg reagieren würde.
Aber die Zahlen, die dabei herausgekommen sind, ergeben ein krasses Bild. Selbst für das kleinste Kriegsszenario, einen indisch-pakistanischen Konflikt, der "nur" zu fünf Millionen Tonnen Ruß führt, könnte die Kalorienproduktion auf der ganzen Welt in den ersten fünf Jahren nach dem Krieg um sieben Prozent sinken.
In einem 47-Millionen-Tonnen-Ruß-Szenario sinken durchschnittlichen Kalorienmengen, die noch zur Verfügung stehen, um bis zu 50 Prozent.
Im schlimmsten Szenario, dem eines Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, sinkt die Kalorienproduktion in den drei bis vier Jahren nach dem Krieg um 90 Prozent.
Länder unterschiedlich stark betroffen
Die am stärksten betroffenen Länder in diesem Modell sind diejenigen in mittleren bis nördlichen Breitengraden, die bereits jetzt nur eine kurze Saison für den Anbau von Getreide zur Verfügung haben und die sich nach einem Atomkrieg dramatischer abkühlen würden als tropische Regionen.
Großbritannien zum Beispiel würde einen stärkeren Rückgang der verfügbaren Nahrungsmittel verzeichnen als ein Land wie Indien, das sich in geografisch niedrigeren Breiten befindet.
Aber auch Frankreich, das ein wichtiger Exporteur von Nahrungsmitteln ist, würde relativ gut abschneiden – zumindest in den Szenarien mit niedrigeren Emissionen –, denn wenn der Handel gestoppt würde, hätte es mehr Nahrungsmittel für seine eigene Bevölkerung zur Verfügung.
Neben dem größten Teil von Südamerika und weiten Teilen Afrikas ist Australien eine weniger betroffene Weltregion. Nach einem Atomkrieg vom Handel isoliert, würde Australien hauptsächlich auf Weizen als Nahrungsmittel angewiesen sein. Und Weizen würde in dem dann kühleren Klima, das durch atmosphärischen Ruß induziert wird, relativ gut wachsen.5
Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit
Ein begrenzter Atomkrieg würde zwar nicht zum Aussterben der Menschheit führen. Aber er wäre mit großer Sicherheit das Ende der modernen Zivilisation. Eine Abfolge von "Jahren ohne Sommer" mit Missernten, Hamsterkäufen und massenhafter Hungersnot würden alles auf den Kopf stellen, vom Welthandel bis zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
Keine Zivilisation könnte einem Schock dieser Größenordnung standhalten. Es gibt allen Grund anzunehmen, dass die meisten wirtschaftlichen, politischen und technischen Systeme, die für uns selbstverständlich sind, zusammenbrechen würden.
Frühere Studien, die sich mit den Auswirkungen des Einsatzes kleinerer Atombomben befasst haben, gingen von bis zu zwei Milliarden Menschen aus, die durch die globale Abkühlung und die dadurch bedingten Ernteausfälle bei einem begrenzten regionalen Krieg vom Hungertod bedroht wären.
Die neueren Studien modellieren Explosionen mit größerer Sprengkraft, die größere Städte in Brand setzen. Sie kalkulieren andere größere Faktoren wie den Zusammenbruch der Wirtschaft, die Zerstörung der Ozonschicht und die Auswirkungen der Strahlung, aber auch weiterhin nicht mit ein. Und dennoch übertreffen ihre Vorhersagen die bisherige Berechnungen.
Ein größerer regionaler Atomkrieg, der immer noch nicht den massiven Umfang des russischen oder amerikanischen Arsenals ins Spiel bringt, aber eine signifikante Menge eines Arsenals einer zweitrangigen Atommacht wie z.B. Indien, China, Pakistan, Israel, das Vereinigte Königreich oder Frankreich, würde um die 2,5 Milliarden Menschen töten.6
Ein häufiges Argument ist, dass etwas so offensichtlich Schreckliches niemals geschehen kann, weil es niemals zugelassen werden würde. Wir Ärztinnen und Ärzte kennen diese Art von magischem Denken gut – von Patientinnen und Patienten mit Realitätsverweigerung. Wir wissen, dass lebensbedrohliche Krankheiten wie zum Beispiel Bluthochdruck oder Darmkrebs jahrelang ignoriert werden können, dass sie aber, wenn sie erkannt worden sind, behandelt werden können und so eine Katastrophe vermieden werden kann.
Im Fall eines Atomkrieges gibt es jedoch keine wirksame Behandlung. Hier sind wir ausschließlich auf die Prävention angewiesen. Und der einzige Weg sicherzustellen, dass Atomwaffen niemals eingesetzt werden, ist, sie komplett abzuschaffen. Der von der UN-Generalversammlung am 7. Juli 2017 verabschiedete Atomwaffenverbotsvertrag, der am 22. Januar 2021 in Kraft getreten ist, bietet eine rechtliche und moralische Grundlage zur Abschaffung von Atomwaffen.
Schlussgedanken
Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto eher besteht aufgrund von Stellungnahmen von anerkannten Politik-Experten wie John Mearsheimer die Gefahr, dass hier auch Atomwaffen zum Einsatz kommen und eines der bedrohlichen Szenarien seinen Anfang nimmt, das im vorliegenden IPPNW-Bericht beschrieben wird.
Deshalb muss der Ukraine-Krieg so schnell wie möglich auf diplomatischem Wege beendet werden. Dazu gibt es Vorschläge aus der Friedensbewegung, die kürzlich vorgelegt wurden.
Waffenlieferungen aus Deutschland können den Krieg nur verlängern und dazu beitragen, dass das Sterben in der Ukraine weitergeht und die von dort ausgehende nukleare Bedrohung auch des Lebens von uns allen weiter besteht.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de