Neutralität der Ukraine ist das Gebot der Stunde

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Zur herrschenden Ukrainophilie, zur neuen Bewegung der "Nato-Linken" sowie den Herausforderungen der Friedensbewegung. Ein Kommentar

Wir rufen die Verantwortlichen der Konfliktparteien und der USA dazu auf, alles daran zu setzen, konstruktive und effektive Verhandlungen zur Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine zu beschleunigen, um die Menschenleben in der Ukraine und Russland zu retten.

IPPNW

Mit diesem zivilgesellschaftlichen Appell ist die Organisation Ärztinnen und Ärzte zur Verhinderung eines Atomkriegs an die Öffentlichkeit getreten. Das Statement ist erkennbar von einer bürgerlichen Organisation verfasst. Aber es setzt Standards für Organisationen, die sich "Friedensbewegung" nennen aus mehreren Gründen. Er wurde gemeinsam von der russischen und der ukrainischen Sektion der IPPNW unterschrieben.

Bemerkenswert ist auch, dass in dem Aufruf auf die engen Verbindungen hingewiesen wird, die es zwischen der ukrainischen und der russischen Bevölkerung seit vielen Jahrzehnten gegeben hat.

Russland und die Ukraine sind seit den Anfängen ihrer Geschichte eng miteinander verbunden. Es ist schwer, eine Person in Russland zu finden, die (oder deren Freund*innen) keine Verwandten in der Ukraine hat. Beide Länder sind ein Teil Osteuropas. Sie teilen enge wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen. Das ist der Grund, weshalb alle Ärztinnen und Ärzte in der Region die aktuelle Situation mit großer Besorgnis sehen. Die gefährlichste aller möglichen Bedrohungen ist die nukleare Bedrohung.

Aus der gemeinsamen Erklärung der IPPNW-Ärztinnen und Ärzte in Russland und der Ukraine

Historische Gemeinsamkeiten zwischen Russland und der Ukraine

Diese Erinnerung an die historischen Gemeinsamkeiten haben nichts zu tun mit Putins nationalistischen Geschichtslektionen, die er vor dem Beginn des Ukraine-Krieges zum Besten gegeben hat. Doch die Berichte über die Gemeinsamkeiten decken sich mit Reportagen, die der Schriftsteller Landolf Scherzer bei seinen Reisen in die Ukraine in den frühen 1990er-Jahren gesammelt hat.

Auch bei ihm wurde deutlich, dass das ganze Brimborium der Eigenstaatlichkeit der Ukraine in der Landbevölkerung im Osten der Ukraine mit Unverständnis registriert wurde. Schon damals zeichnete sich eine Spaltung des Lands in einen schon historisch sehr stark auf Deutschland konzentrierten Westen der Ukraine ab - mit der nationalistischen Hochburg Lviw und einer Ostukraine, die sich historisch mehr an Russland orientierte. Hier waren Spaltungstendenzen und Konflikte vorprogrammiert.

Davor wurde in Deutschland auch in den frühen 1990er Jahren auch von einer parteiunabhängigen Linken gewarnt, die im Ende der Blockkonfrontation nicht die Zeit des ewigen Friedens auf Erden heraufdämmern sah, sondern die Wiederkehr einer Situation wie vor 1914.

Verschiedene kapitalistische Blöcke kämpfen um Macht und das führt früher oder später zum Krieg. Mit dieser Einschätzung müssten sie sich nun keineswegs korrigieren, wie jetzt wieder oft von der gesellschaftlichen Linken gefordert wird. Damit ist allerdings nur gemeint, die Reste der kritischen Bewegung auch ihren Frieden mit Bundeswehr und Nato machen sollen.

Ukrainophilie wird kaum hinterfragt

Doch gerade die Kreise der minoritären Linken, die damals die Situation antizipierten, wie sie nun mit den Ukraine-Krieg eingetreten ist, melden sich kaum noch zu Wort. Teilweise schwimmen sie mit im Klima der Ukrainophilie, wie sie seit drei Wochen in Deutschland zur Staatsraison gehört. Die Ansprache des ukrainischen Präsidenten Selenskyj war nur der neueste Höhepunkt dieser Ukrainophilie.

Es ist falsch, wenn behauptet ist, dabei ginge es nur um das Mitleiden mit den Opfern des Krieges. Hätte sich jemand vorstellen können, dass der serbische Präsident Milosevic zum Bundestag zugeschaltet wurde und überall serbische Flaggen zu sehen sind, als das Land von der Nato inclusive Deutschlands bombardiert wurde? Undenkbar, schließlich war ja Milosevic auch von Politikern der SPD und der Grünen zum neuen Hitler erklärt worden, gegen den man dann rechtzeitig Krieg führen muss, um ein Auschwitz zu verhindern, so ebenfalls eine Kriegsbegründung.

Damals haben sich noch Auschwitzüberlebende in einer viel beachteten Erklärung gegen die Relativierung der Shoah aus tagespolitischen Gründen gewandt. Heute hört man kaum Proteste, wenn fast alle Medien im Gleichklang mit der ukrainischen Politik von einem russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine sprechen.

Der Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine ist illegal und führt zu viel Leiden in der Bevölkerung. Aber er ist eben kein Vernichtungskrieg, wie ihn die deutsche Wehrmacht nach 1941 gegen die Sowjetunion und gegen die jüdische Bevölkerung führte. Es ist aber falsch, selbst dem nationalistischen russischen Putin-Regime zu unterstellen, es wolle die gesamte ukrainische Bevölkerung vernichten. Solche Behauptungen liest man aber immer wieder. Sie dienen vor allem der historischen Entlastung Deutschlands.

Wenn man nun Russland den Vernichtungskrieg unterstellt, den die Deutschen tatsächlich verübt haben, ist das eine massive Schuldentlastung. Genau so wie Israel immer wieder vorgeworfen wird, die palästinensische Bevölkerung vernichten zu wollen bzw. einen Genozid zu bewerkstelligen, wird jetzt eben auch Russland ein Vernichtungskrieg unterstellt. Es ist kein Zufall, dass mit Israel und Russland die beiden Länder beschuldigt werden, in denen eine Bevölkerung lebt, deren Vorfahren besonders unter der Politik Deutschlands gelitten haben.

Und es ist der blinde Fleck in der aktuellen Debatte, dass die alten historischen Beziehungen zwischen NS-Deutschland und Nationalisten in der Ukraine einfach nicht mehr thematisiert werden. Dabei sind das aber keine russischen Fake News, sondern historische Tatsachen.

Es ist dem Publizisten und Antisemitismusforscher Clemens Heni vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass der ukrainische Botschafter Melnyk, am Grab des ukrainischen Nationalistenführers und erklärten Antisemiten Stepan Bandera einen Kranz niederlegte. Eigentlich müsste eine solche Geste eine politische Karriere heute beenden.

Nur wird sie jetzt einfach totgeschwiegen. Das macht die aktuelle Ukrainophilie in Deutschland besonders unangenehm, weil man da immer das Gefühl hat, dass unbewusst da noch die Vorstellung wabert, jetzt könne man die deutsche Niederlage bei Stalingrad doch noch rückgängig machen.