New York Times lesen in Magdeburg: Leib, Stadt und Medien

Fussnoten

1

In meiner Essay-Reihe bezog ich mich bis jetzt v.a. auf Dirk Baecker und Helmut Willke, aber dieselbe Tendenz finden wir in diversen Essays Byung-Chul Hans; bei Beck, Ulrich: Die Metamorphose der Welt, Berlin 2017; bei Kucklick, Christoph: Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst, Berlin 2016; sowie gleichsam als Gegenentwurf zur Ungewissheit bei Probst, Maximilian: Verbindlichkeit, Reinbek b. Hamburg 2017.

2

Reckwitz, Andreas: Die singuläre Gesellschaft. Berlin 2017, S. 278ff. Die "neue akademische Mittelklasse" ist nicht unbedingt wohlhabend, aber akademisch gebildet und international orientiert. Ihr Fokus liegt sowohl auf individueller Selbstverwirklichung als auch auf dem Wunsch nach Anerkennung ihres Erfolgs durch Andere. Reckwitz führt das erste Ziel auf die Romantik zurück, das zweite Ziel auf das Bürgertum. Beide sich eigentlich widersprechende Ideale würden in der neuen Mittelklasse vereint. Über der Mittelklasse liegt eine dünne "Oberschicht", die ähnliche Ideale wie die Mittelklasse verfolgt, die aber so wohlhabend ist, dass sie sich diesen Zielen vollkommen widmen kann, ohne wirtschaftliche Ängste zu haben. Siehe zu Reckwitz" Klassendarstellung auch die nächste Fußnote.

3

Ebd. Die "alte Mittelschicht" kann z.B. mit den Menschen besetzt werden, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu wirtschaftlichem Erfolg geführt haben und die sich durch "ehrliche Arbeit" auch persönlichen Wohlstand erarbeitet haben; die alte Mittelschicht kann durchaus wohlhabender sein als die neue Mittelklasse. Die "Unterklasse" schließlich sind Menschen, die sich von Tag zu Tag erneut durchschlagen müssen, um selbst basale Bedürfnisse zu erfüllen. Die "alte Mittelschicht" scheint zurzeit zwischen "neuer akademischer Mittelklasse" und "Unterklasse" aufgerieben zu werden - einerseits gibt es Aufstiegshoffnungen (etwa ein Studium beginnende "Arbeiterkinder", vgl. die gleichnamige Initiative, andererseits Abstiegsängste. Siehe zu Reckwitz" Klassendarstellung auch die vorige Fußnote.

4

Vgl. Teil 1 dieser Essay-Reihe, letzter Abschnitt

5

Vgl. Teil 2 dieser Essay-Reihe, dritter Abschnitt.

6

Burdick, Alan: Is Trump Warping Our Sense of Time? In: New York Times, 20.01.2018

7

Vgl. Hasse, Jürgen: Der Leib der Stadt. Phänomenographische Annäherungen. Freiburg/München 2015.

8

Die Unterscheidung von Situation und Konstellation stammt aus der Neuen Phänomenologie. Das ist ein von Hermann Schmitz entwickelter, bisher v.a. in der deutschsprachigen Philosophie rezipierter Zweig der Phänomenologie. Sie kritisiert am Konstruktivismus, dass dieser ganzheitliche Situationen in Konstellationen aus einzelnen Elementen zerlegt, wodurch manche Phänomene für die Beobachtung ganz verloren gehen. Zur Einführung vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin 2011.

9

Schmitz 2011, S. 4.

10

Ebd., S. 5.

11

Vgl. Zahavai, Dan: Einführung in die Phänomenologie, Paderborn 2007, S. 58ff.

12

Schmitz 2011, S. 5.

13

So verwirft Rainer Schönhammer in einem kurzen Absatz seines Lehrbuchs zur Wahrnehmung mal eben nicht nur die Neophänomenologie, sondern die philosophische Richtung der Phänomenologie als Ganzes, zumindest insofern sie auf Husserls Unterscheidung von Leib und Körper zurückgeht. Der Leib als erlebter Körper ist für Schönhammer nicht schlüssig: "Wahrnehmbar ist nur der Körper." (Schönhammer, Rainer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie. Sinne, Körper, Bewegung. Wien 2013, S. 27) Die begriffliche Unterscheidung ist für Schönhammer daher hinfällig und er urteilt: "Im Englischen kommt man mit body offenbar aus; klar darzulegen, in welcher Hinsicht man gerade vom Körper spricht, ist allemal erhellender als Begriffspathos." (Ebd., S. 28). Dass es auch sachlicher geht, zeigt z.B. Paulus, Peter: Körpererfahrung und Selbsterfahrung in persönlichkeitspsychologischer Sicht. In: Bielefeld, Jürgen (Hrsg.): Körpererfahrung. Grundlagen menschlichen Bewegungsverhaltens. Göttingen u.a. 1991, S. 87-122.

14

Hermann Schmitz schreibt dazu: "Die abendländische Kultur hat, angeführt von den Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlern, von den beiden Zugängen des Menschen zu sich als hier und jetzt befindlich, räumlich und zeitlich zugleich, nur den des Sehens und Tastens zum materiellen Körper gewählt und den spürbaren Leib allenfalls in einer dunklen Ecke der Seele […] untergebracht. […] Wie der ganze Mensch hier und jetzt sein kann, wird ohne den spürbaren Leib unverständlich" (Schmitz 2011, S. 5f.)

15

Vgl. Soentgen, Jens: Probleme des Schmitz‘schen Leibkonzeptes. Ein Kommentar. In: Volke, Stefan/Kluck, Steffen (Hrsg.): Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit. Freiburg/München 2017, S. 58-64.

16

Vgl. Schmitz 2011, S. 97-112.

17

Ebd., S. 80ff. Stark vereinfacht kann man die "leibliche Disposition" als Empfänglichkeit des Individuums für das leibliche Wechselspiel aus Spannung und Schwellung (den "vitalen Antrieb", ebd. S. 15) bezeichnen. Spannung ist z.B. das engende Zusammenziehen bei einem Schreck, Schwellung z.B. das befreite Gefühl, wenn man beim Betreten eines weiten Parks die Enge der Stadt hinter sich lässt.

18

Vgl. Hasse 2015 für eine Anwendung auf das Erleben von Stadt. Für andere Themen vgl. Volke/Kluck 2017, wo Beiträge zeigen, wie Sportsucht, Anorexie und Burnout unter neophänomenologischem Blickwinkel betrachtet werden können. Eine Anwendung der Neuen Phänomenologie für die Soziologie findet sich in Gugutzer, Robert: Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie. In: Zeitschrift für Soziologie 2017; 46 (3), S. 147-166. Vgl. außerdem die Beispiele auf der Website der Gesellschaft für Neue Phänomenologie, die u.a. Medizin, Pflegewissenschaft und Psychotherapie umfassen.

19

Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers. Bielefeld 2004, S. 151.

20

Ebd.

21

Lobo, Sascha / Friebe, Holm: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. München 2006.

22

Stolz, Matthias: Entplüschung. In: ZEIT-Magazin 41/2017, S. 50. Interessant ist, dass der Begriff "Third Wave Coffee" eigentlich eine besondere Betonung auf den Kaffeegenuss (als Kontrast zum bloßen Getränk) legt, also das Gegenteil dessen verspricht, was Stolz beobachtet.

23

Anders als in der Moderne, wo Mobilität durch Verkehr gekennzeichnet war (Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/Main 2007, S. 168), ist heute "[m]obil […], wer das eine Projekt verlassen und im anderen anheuern kann, so er oder sie ein neues Projekt nicht selber begründet" (ebd., S. 172).

24

Baecker 2007, S. 171.

25

Stolz 2017, S. 50.

26

Augé, Marc: Nicht-Orte. München 2014.

27

Ebd., S. 96.

28

Ebd., S. 103.

29

Ebd., S. 105.

30

Die Form dieses Satzes habe ich bewusst an Augé angelehnt, der andere Beispiele gibt, etwa: "Dieser elegante Mittvierziger, der unaussprechliche Freuden unter dem aufmerksamen Blick einer blonden Stewardess zu genießen scheint, ist er selbst" (Ebd.)

31

Zu den theoretischen Hintergründen des Projekts und zu Ergebnissen vgl. Neßler, Miriam: Freiraum für alle(s). Ein empirisch-kulturwissenschaftlicher Versuch einer Freiraumtheorie. Bachelor-Arbeit, HafenCity Universität Hamburg, 2016.

32

Lukas, Julius: Magdeburg: Stadt, Hype, Fluss. In: DIE ZEIT 05/2015.

33

Es ist bezeichnend, dass besonders der Dienstleistungssektor erfolgreich ist. Zum Beispiel ist die Callcenter-Branche "ein erheblicher Faktor für die Wirtschaft", sagt der Magdeurger Wirtschaftsdezernent Rainer Nietsche.

34

Vgl. Schmitz 2011, S. 101.

35

Vgl. dazu den Abschnitt "Medien und Leiblichkeit" am Ende dieses Essays.

36

Schmitz 2011, S. 99.

37

Ebd., S. 103f. Ausführlicher ist Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band II, Teil 2: Der Leib im Spiegel der Kunst. Bonn 2005.

38

Vgl. zu Enge und Weite städtischer Räume Hasse 2015, S. 80.

39

Im Juni 2017 stand vor dem Eingang des Spätshops ein Stand der als verschwörungstheoretisch eingestuften Kleinstpartei "Deutsche Mitte" und sammelte Unterschriften für die Zulassung zu den Bundestagswahlen. Wenn man dort für die Partei unterschrieben hat, gab es im Shop einen Euro Rabatt auf Getränke.

40

Bei leiblichen Regungen beim Computerspielen denke ich an "eine umgreifende Atmosphäre der Anspannung beim Durchstreifen der Schauplätze von Resident Evil 7, an eine ziehende Atmosphäre süßer Melancholie bei Life is Strange, oder an eine verschlingende Atmosphäre tiefer Traurigkeit bei Hellblade."

41

Vgl. Donick 2016, wo ich virtuelle Welten auch mit Hilfe neophänomenologischer Begriffe beschreibe.

42

Hasse, Jürgen: Stadt als erlebter und gelebter Raum - kein Sein ohne Handeln? In: Döring, E. Martin / Engelhardt, Gunther H. / Feindt, Peter H.: Stadt - Raum - Natur. Die Metropolregion als politisch konstruierter Raum. Hamburg 2011, S. 180

43

Hasse unterscheidet mit Schmitz Dinge (wie Gebäude, Fahrzeuge u.ä.) und "Halbdinge" (wie Licht, Schatten, Wind u.a.) (ebd., S. 180f.)

44

Ebd., S. 181.

45

Vgl. Hasse 2015, S. 81 für ein Beispiel, wo derselbe weite Raum von manchen Personen als schwellend, von anderen als anspannend empfunden wird.

46

Rieger, Frank: Heiko Maas irrt gründlich. In: Der Freitag, 11.01.2018, S. 1.

zurück zum Beitrag