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Next Level

Das überschäumende Selbstbewusstsein kam mit der Mayflower. Bild: William Halsall

Was das Ende der globalen Macht der USA mit Physik zu tun hat und was als Nächstes kommt (Teil 2 und Schluss)

Im ersten Teil [1] wurde besprochen, welche strategische Konsequenzen aus russischer Sicht die Hyperschalltechnologie hat und wie dort die Reaktionen des Westens bewertet werden.

Ganz sicher nicht hilfreich sind die Lieferungen der sogenannten Defensivwaffen an die Ukraine, die man wahrscheinlich auch zum Beschuss der international kaum anerkannten Donbass-Republiken einsetzen wird, der seit Monaten andauert, ganz im Sinne des einzigen Gewinners dieses Konflikts, der Rüstungsindustrie. Trocken stellt Russland fest, dass auf seine wichtigsten Punkte überhaupt nicht eingegangen wurde. Die mildeste Reaktion, die zu erwarten ist, ist eine Anerkennung der abtrünnigen Republiken [2], die letztlich zu einer Volksabstimmung und Eingliederung nach Russland führen wird.

Jeder, der dann Donezk und Lugansk beschießt, wird sich das dann genauer überlegen. Denkbar ist aber auch, dass Russland den ausländischen Truppen in der Ukraine, die sich an den Kriegsvorbereitungen beteiligen, mit einem direkten Angriff droht. Dann würde sich zeigen, wie viele westliche Länder tatsächlich den Kopf hinzuhalten bereit sind oder doch lieber das Weite suchen und die Waffen zurücklassen. Bezahlt sind sie ja.

Wer hat die überlegene Strategie?

Moskau denkt aber allgemein-strategischer, und wird den USA ihre Verwundbarkeit durch die russische Marine direkt vor Augen führen, auch wenn man sich über die Fähigkeiten der elektronischen Kriegführung bedeckt hält [3]. Auch eine Raketenstationierung in Kuba ist nicht ausgeschlossen.

US-amerikanische Denkfabriken sind zwar sehr kreativ darin, Feindbilder zu schüren und alle möglichen Szenarien zu entwerfen, mit denen man die geopolitischen Gegner Russland und China piesacken kann – die Liste der Rand Corporation [4] ist im Übrigen, bis auf Moldawien, bald abgearbeitet.

Die Einschätzungen, wie sich die Lage entwickelt, sind jedoch oft erstaunlich naiv, siehe Afghanistan. Es scheint so, dass die professionellen Analysten wie beispielsweise Ray Mc Govern, die unter George Bush für die Interessen der USA arbeiteten, aber eben nach realistischen und wahrhaftigen Informationen suchten, schon lange durch politische Jasager ersetzt wurden, welche die Strategie der Spannung durch irgendwelche erfundenen Geschichten herbeireden sollen; Paradebeispiel bleiben die "Massenvernichtungswaffen" [5] im Irak.

Ignoranz kommt nicht gut an

Aus russischer Sicht lässt das intellektuelle Potenzial westlicher Führungskräfte – beispielsweise Blinken und Stoltenberg – zu wünschen übrig [6]. Putin und Lawrow hätten insofern kaum Verhandlungspartner auf Augenhöhe; aber selbst die Gäste einer durchschnittlichen Talkshow verfügen über eine historische Bildung, die jedes Detail des Zweiten Weltkriegs oder auch der Kuba-Krise kennt.

Äußerungen von deutschen Verteidigungsministerinnen wie Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) oder Christine Lambrecht (SPD), die mit Russland "aus einer Position der Stärke" heraus sprechen oder "Putin ins Visier" nehmen wollen, rufen beim Adressaten eine Mischung aus mitleidigem Spott und Verachtung hervor.

Mit Bitterkeit wird vermerkt, dass die Deutschen zwar dem Holocaust gedenken, aber auf die 27 Millionen getöteten Sowjetbürger – so wörtlich – "scheißen" [7].

Zur Erinnerung: Auch die Hungerblockade Leningrads war organisierter Völkermord. Angesichts dessen, dass Putins Familie davon betroffen war, sind seine späteren Sympathiebekundungen [8] für Deutschland nachgerade erstaunlich. Aber auf einen mit historischer Ignoranz gepaarten moralischen Zeigefinger aus Deutschland reagieren die Russen gerne mit dem Mittelfinger. Verständlich.

Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd

Die bellizistische Berichterstattung [9] geht hierzulande weiter, während die vernünftige Replik verdienter Akteure [10] kaum auf Resonanz stößt.

Wer das Offensichtliche ausspricht (neudeutsche Bezeichnung dafür: "Irritieren") wie Vizeadmiral a.D. Kay-Achim Schönbach, wird gefeuert. Der größte Beitrag für den Frieden wäre wahrscheinlich, würde der Westen einfach mehr Realitätssinn und Aufrichtigkeit zeigen [11]. Denn daran, dass Russland in nächster Zeit seine angekündigten "technisch-militärischen Maßnahmen" umsetzen wird, bestehen kaum Zweifel.

Der Westen dagegen hat bereits sein ganzes Pulver verschossen. Vielleicht ist Deutschland bereit, sich mit der Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 selbst ins Knie zu schießen, aber eine Abkopplung von Swift und damit die komplette Einstellung der russischen Gasversorgung kann sich Europa nicht leisten.

Alle anderen Sanktionen, die auf Washingtons Geheiß neu erfunden werden, rufen in Russland nicht einmal mehr Achselzucken hervor. Wirtschaftlich ist der strategische Partner ohnehin China, das den Westen auf diesem Gebiet überholt hat [12]. Wenn jemand Sanktionen zu fürchten hat, dann wahrscheinlich eher der Westen.

Technologie braucht Gehirn

Man kann die Frage aufwerfen, welche langfristigen Ursachen dieser moralische, wirtschaftliche und intellektuelle Niedergang des Westens hat. Zunächst hat wohl Russland einfach gute Ingenieure, die bereit sind, ihre Fähigkeiten im Interesse ihres Landes einzusetzen. Eher selten wird sich jedoch Intelligenz und Charakter bei einem Mitarbeiter von Raytheon oder Lockheed Martin vereinigen.

Welcher kluge Kopf mit einem Rest vom moralischen Kompass wird in seine Lebensziele in einem menschenverachtenden und korrupten militärisch-industriellen Komplex verwirklichen wollen? Auch Edward Snowden sitzt nicht zufällig in Moskau.

Der westliche Rüstungsrückstand hat aber breitere Ursachen. Die US-amerikanischen Universitäten haben sich großenteils in um sich selbst kreisende Political-Correctness-Bürokratien, so Nassim Taleb, in "Klapsmühlen" verwandelt, die nur noch wenig nützlichen Output liefern.

Zwar haben Quotenregelungen, Gendersprech und Diversity-Programme zunächst die geisteswissenschaftlichen Fakultäten befallen, sind aber nach und nach auch in den Naturwissenschaften eingesickert [13]. Wer sich darüber aufhält, dass Professoren ihre Studenten mit den richtigen Pronomen ansprechen und fähige Leute aus nichtigem Anlass feuert, braucht sich nicht wundern, in der physikalischen Chemie nicht mehr Weltspitze zu sein [14].

Bildung ist kein Wert

Betrachtet man historische Zeiträume, wird auch klar, dass Bildung in den USA nie einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert besaß. Was zählte, war Erfolg und Macht. Dies wird nun mit langer Verzögerung sichtbar. Die Ursachen liegen auch in einer unterschiedlichen Geisteskultur in den USA und Europa.

Die der modernen Technologie zu Grunde liegenden Naturgesetze wurden sämtlich in Europa bis etwa Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt. Jene Forschung entsprang einer philosophischen Tradition des Nachdenkens darüber, wie die Natur im Innersten funktioniert.

Wissenschaft in den USA war dagegen stets anwendungsorientiert, praktisch und nützlich und führte zu einer Blüte von Erfindungen. Aber sie generierte eine oberflächliche Kultur, die gemeinhin "westlich" genannt wird und deren Schattenseiten wir heute auf vielen Gebieten zu spüren bekommen.

Betrachtet man die Zusammensetzung der Bevölkerung, ist diese Entwicklung nicht verwunderlich: Es war eine Auswahl von mutigen, tüchtigen, tatkräftigen und optimistischen Menschen, die vor allem im 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderten, und auf diesen Eigenschaften gründete sich der Aufstieg zur Weltmacht.

Das gründliche Nachdenken über Naturgesetze im Stil eines Albert Einstein war jedoch nicht ihr Ding und ist es bis heute nicht. Die USA waren einzigartig, was Kooperation und Organisation betraf und überrundeten daher den alten Kontinent, insbesondere bei Großprojekten wie der Atombombe und der Mondlandung.

Praktisch alle Probleme der Grundlagenphysik um 1930 blieben jedoch dabei ungelöst und bis heute unbearbeitet. Dies lag zwar zuerst an inhärenten Schwierigkeiten der Physik, aber eben auch am Absterben der europäischen Wissenschaftstradition, verursacht durch die Nationalsozialisten, die die Zentren der Spitzenforschung zerstörten und einen Großteil der Intelligenz in die USA vertrieben.

Zwar waren Nazis an Waffen interessiert, aber zu dumm zu verstehen, dass sich die langfristige Überlegenheit einer Zivilisation aus einem kultivierten Interesse für die Naturgesetze speist.

Im Aufstieg der USA lag der Keim des Niedergangs

Obwohl die Grundlagen der Kernphysik in Europa entwickelt worden waren, erlangten die USA mit der Nukleartechnik die Weltherrschaft. Da militärisch-technische und wissenschaftliche Vormachtstellung in der Geschichte stets verbunden waren, galten die US-Physiker der Nachkriegszeit plötzlich als die führenden Denker, obwohl sich ihre Autorität letztlich aus dem erfolgreichen Bau der Bombe herleitete. In den folgenden Jahrzehnten dominierte eine Tradition von Big Science Großforschungseinrichtungen die Wissenschaft.

Jeder intelligente Narr kann Dinge größer, komplexer und gewaltiger machen. Es gehört eine Menge Inspiration und Mut dazu, sich in die gegenteilige Richtung zu bewegen.

Albert Einstein

Technische Gigantomanie und eine oberflächliche Interpretation der Ergebnisse in komplizierten Modellen mit zahlreichen ad-hoc-Annahmen ersetzten das genuine wissenschaftliche Denken. Zwar wurde eine Reihe von theoretischen Wunschvorstellungen in die Daten interpretiert.

Wirkliche Entdeckungen, so wie der Nachweis der elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Hertz oder Einsteins E=mc2, haben jedoch in der Folge stets auch zu technologischen Revolutionen geführt. Solche Erkenntnisse gibt es seit über siebzig Jahren nicht mehr, und auch darin liegt ein Problem des Westens.

Die USA waren über Jahrzehnte am erfolgreichsten in der technologischen Verwertung der Grundlagenphysik, dies verwandelte den seit den Tagen der Mayflower präsenten Exzeptionalismus in ein überschäumendes Selbstbewusstsein, die Welt beglücken zu müssen, notfalls mit Bomben.

Lange Zeit konnten die Sowjetunion und China aufgrund ihrer ideologischen politischen Systeme nicht konkurrieren. Mit den Umbrüchen 1989 änderte sich dies. Russland und China sind nun in vielem stärker, aber der Westen immer noch in seiner oberflächlichen Denkkultur gefangen.

Wir gleichen allmächtigen, unzufriedenen Göttern, die nicht wissen, was sie wollen.

Yuval Harari

Nicht Konkurrenz, Rüstung und Kriege werde die Menschheit zu neuen Horizonten führen, sondern Kooperation und genuines Interesse an der Natur und der Erhaltung unserer Lebensbedingungen.

Man kann in Deutschland heute den Lauf der Welt wohl nicht viel beeinflussen, aber sich einem untergehenden Imperium als Vasall anzudienen, zeugt nicht von Weitsicht. Ausgerechnet Wladimir Putin zitiert heute Albert Einstein mit dem Satz: "Wir wissen nicht, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg geführt wird, aber der vierte wird mit Äxten und Steinen ausgetragen". Wir sollten uns schämen, von ihm daran erinnert zu werden.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Neu erschienen im Westend-Verlag ist sein Buch "Einsteins Albtraum – Der Aufstieg Amerikas und der Niedergang der Physik [15]".


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Game-Over-6343031.html
[2] https://www.nzz.ch/international/ukraine-und-russland-neues-szenario-fuer-den-donbass-ld.1666400
[3] https://tass.ru/opinions/13532505/
[4] https://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_reports/RR3000/RR3063/RAND_RR3063.pdf
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/United_Nations_Security_Council_and_the_Iraq_War
[6] https://www.youtube.com/watch?v=DdlgoWmqhpw&list=LL2r6quRlj_KdT7QBPjB3GsA&t=2610s
[7] https://www.youtube.com/watch?v=DdlgoWmqhpw&list=LL2r6quRlj_KdT7QBPjB3GsA&t=1440s
[8] https://www.youtube.com/watch?v=cOXTnVTGB4g
[9] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/deutsche-russlandpolitik-korrektur-forderung-sicherheitspolitik
[10] http://welttrends.de/res/uploads/WeltTrends-Erklaerung-Frieden-220124-2.pdf
[11] https://www.vesti.ru/article/2667270/
[12] https://www.moonofalabama.org/2022/01/chinas-excellent-very-good-year.html
[13] https://www.wsj.com/articles/diversity-tyrannical-equity-inclusion-college-marginalized-race-11634739677
[14] https://quillette.com/2021/08/19/as-us-schools-prioritize-diversity-over-merit-china-is-becoming-the-worlds-stem-leader/
[15] https://www.westendverlag.de/buch/einsteins-albtraum/