"Nicht alle russischen Bürger unterstützen diese Gesetzlosigkeit"

Anti-Kriegs-Graffiti: Totenköpfe mit ukrainischen und russischen Nationalsymbolen und der Frage "Helden oder Kanonenfutter?" Bild: Светос

Ein russischer Friedensaktivist berichtet im Interview über die Situation in seinem Land. Er spricht über ein gedemütigtes Volk, wachsende Unzufriedenheit mit dem Krieg und eine Linke, die nach Orientierung sucht. Wie sähe westliche Solidarität aus?

Die Russen leiden seit langem unter Putins autoritärem, neoliberalem Regime mit starker Überwachung und harten Strafen für abweichende Meinungen. Am 21. September 2022 kündigte Putin eine Einberufung an, die 300.000 Zivilisten zum Militärdienst verpflichtet. Damit betrifft der Krieg in der Ukraine alle Russen, die unter die Wehrpflicht fallen oder jemanden kennen, bei dem das der Fall ist.

Wie alle anderen Übel des Kapitalismus trifft auch die Wehrpflicht am härtesten die Armen, die Arbeiterklasse und die Randgruppen, die wenig Geld oder Macht haben, um sich ihr zu entziehen.

Alexandria Shaner ist Schriftstellerin und Dozentin. Sie schreibt für zahlreiche linke Medien in den USA.

Kommentatoren im Westen haben sich vielfältig darüber geäußert, was das für die Russen, Putin und die russische Linke bedeuten wird. Einige bezeichnen die Teilmobilmachung als den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen und eine Revolution und den Sturz Putins auslösen wird.

Andere sehen darin einen Schritt zur weiteren Festigung und Eskalation sowohl von Putins Macht als auch des russischen Rechtsnationalismus. Auch wenn niemand die Ergebnisse mit absoluter Sicherheit vorhersagen kann, ist es wichtig, dass die globale Linke nicht noch mehr nutzlose Meinungssilos aufbaut.

Stattdessen sollte man mit offenen Ohren und Augen die Solidarität mit der russischen Linken in den Vordergrund stellen, von ihren Erfahrungen lernen, ihren Kampf verstehen und ihre Selbstbestimmung unterstützen.

Ich habe zwischen Oktober und Dezember 2022 mehrere Interviews mit jungen Aktivisten in Russland geführt. Einer davon ist "Ivan". Der Name ist geändert worden. Die politischen Zugehörigkeiten wurden vage gehalten, um die Anonymität zu wahren. Der Befragte ist politisch engagiert und ist vor kurzem nach Kasachstan geflogen.

Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Online-Medium Znetwork. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Wie würden Sie Ihr politisches Engagement beschreiben? Warum haben Sie diesem Interview zugestimmt?

Ivan: Ich habe diesem Interview zugestimmt, weil ich nicht wegsehen kann von all dem Grauen, das in meinem Land geschieht, und von den Gräueltaten, die mein Land in einem Nachbarstaat verübt.

Wenn abweichende Meinungen mit Gefängnisstrafen und Verfolgung geahndet werden und die Menschen im Nachbarland sterben und unter den mit dem Krieg verbundenen Entbehrungen leiden, herrscht ein schrecklicher Mangel an Gerechtigkeit gegenüber den einfachen Menschen, die einfach nur überleben wollen, während eine Gruppe von Superreichen mühelos Dekrete unterzeichnet, die unsere Welt in Chaos, Tod und Hunger stürzen.

Ich möchte auch zeigen, dass nicht alle russischen Bürger diese Gesetzlosigkeit unterstützen, dass wir keine Tiere und keine Orks sind, sondern die gleichen Menschen wie in jedem anderen Land.

Ich trete für meine politischen und persönlichen Werte ein.

Was sollten die Menschen in aller Welt Ihrer Meinung nach verstehen in Hinsicht auf das, was heute in Russland vor sich geht? Was sind die Bedingungen, unter denen Sie und andere leben?

Ivan: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir mit den Ereignissen vor 30 Jahren beginnen, als die Sowjetunion zusammenbrach. Damals gab es Wahlen, womit entschieden werden sollte, ob die UdSSR erhalten werden oder zusammenbrechen sollte. Die überwältigende Mehrheit der Bürger stimmte für den Erhalt, aber die Stimme des Volkes wurde nicht gehört. Das Land wurde zerstört, man täuschte die Menschen.

Dann fand der Zusammenbruch statt. Man plünderte alles, was aufgebaut wurde. Die Fabriken mussten schließen, die Menschen hatten nichts mehr. Es wurden Gutscheine an die Menschen verteilt. Aber da man in einem sozialistischen System gelebt hatte, wusste niemand, was diese Scheine darstellten und wozu man sie brauchte. Also verkaufte man die Papierstücke für eine Flasche Wodka oder einen Laib Brot.

Die Menschen mussten lernen, in dem neuen kapitalistischen System zu überleben, über das sie nichts wussten. Sie kannten nur die übertriebene sowjetische Propaganda über die Schrecken des Kapitalismus. Das Ergebnis war die tiefste Depression eines gesamten Volkes, das ausgeraubt und gedemütigt wurde, während man den Menschen einerseits die frühere Größe Russlands und andererseits die Dummheit und Kriminalität der damaligen Machthaber einbläute.

Das Establishment erzählt uns seit 30 Jahren zudem von der Größe der russischen Armee und der russischen Waffen, da unser Volk heldenhaft Nazi-Deutschland besiegte. Man lässt aber weg, welcher Preis für diesen Sieg gezahlt werden musste. Und die früheren Slogans "Nie wieder" wurden zu "Wir können das wiederholen".

Nach der Stärkung des totalitären Regimes wurden Oppositionelle inhaftiert oder getötet, Andersdenkende wurden verfolgt. Die einfachen Menschen kamen zu dem Schluss, dass es zu ihrer eigenen Sicherheit notwendig sei, zu schweigen und sich aus der Politik herauszuhalten. Denn für eine klare Haltung konnte man entlassen werden, und in den Schulen wurden die Kinder schikaniert.

Gleichzeitig waren viele davon angewidert, aber aus Angst, dass es auch sie treffen könnte, spielten sie mit, um nicht aufzufallen. Außerdem wurde jede Wahl im Land gefälscht, und die Menschen lernten, dass die Eliten, egal wie man sich verhält, ihre Interessen durchsetzen.

Das Ergebnis davon ist eine Arbeiterklasse, die denkt, dass man irgendwie überleben wird, solange man nicht auffällt und sich einfach nur still verhält. Sie sagen sich: Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie es sein könnte. Unsere Vorfahren lebten unter noch schlimmeren Umständen. Geschäftsleute verfahren heute nach dem Prinzip, dass es besser ist, den Krieg zu unterstützen, um Geld zu verdienen, oder zumindest nicht den Mund aufzumachen und alles zu verlieren.

Viele Russen leben heute mit einem Widerspruch im Kopf: Krieg ist schlecht, aber die Entscheider in Politik und Wirtschaft werden schon wissen, was sie tun.

Das Vorgehen einiger baltischer Länder hat Empörung hervorgerufen

Beschreiben Sie den Zustand der linken Bewegung in Russland. Was hat sich im Laufe dieses Jahres verändert? Hat die Wehrpflicht signifikante Auswirkungen gehabt und wenn ja, inwiefern?

Ivan: Die linke Bewegung in Russland ist sehr schwach und zersplittert. Sie ist in Streitigkeiten zwischen Trotzki und Lenin verstrickt und nicht in Lösungen für soziale Probleme. Das liegt zum Teil an der Repression im Land. Solange sie sich nur untereinander streiten, werden sie nicht angefasst.

Außerdem ist die Dämonisierung der UdSSR sehr hinderlich. Die Menschen denken, wenn man links ist, will man zurück in die Sowjetunion. Und oft sind die Anhänger der linken Bewegung gebildet und belesen. Sie verstehen es nicht, den Menschen ihre Ideen in einfachen Worten ohne Jargon so zu vermitteln, dass sie verstanden werden. Viele Menschen haben linke Ansichten und fordern Sozialleistungen. Doch eher bezeichnen sie sich als "liberal" oder sonst etwas als sich als "links" einzuordnen.

Die Teilmobilisierung, die Wehrpflicht, beeinflusst die Meinung der Menschen stark. Solange alles in der Ferne geschah und die Menschen nicht betroffen waren, kümmerten sie sich nicht so sehr um den Krieg, denn alle Gedanken drehten sich darum, wie man bis zum nächsten Gehalt durchhalten und das Kind zur Schule bringen kann. Aber dann änderte sich die Situation derart, dass der Krieg fast jeden zu betreffen begann. Die Unzufriedenheit hat stark zugenommen, der Anteil der Menschen, die gegen den Krieg ist, wächst.

Die Situation ist vergleichbar mit dem Vietnamkrieg in den Vereinigten Staaten: Als alles gut lief, verhielten sich die Menschen ruhig. Als immer mehr Leichen und Krüppel zurückkehrten, wuchs die Unzufriedenheit.

Wie denken Sie heute über den Widerstand gegen Autoritarismus und Wehrpflicht? Was hat der Protest für Sie und andere in Ihrem Umfeld bedeutet?

Ivan: Die Behörden bekämpfen Widerstand mit allen Mitteln. Jeden Tag werden repressive Gesetze gegen Kritik an ihrem Vorgehen erlassen. Jetzt wächst eine andere, neue Form des Protests: eine Art Sabotage im Stillen. Die Menschen beteiligen sich nicht mehr, sie machen das, was von ihnen verlangt wird, nur noch sehr langsam und nicht effektiv, oder sogar absichtlich schlecht.

Sie erscheinen nicht mehr auf den offiziellen Listen. Sie verstecken sich, halten ihre Freunde und Verwandten davon ab, sich bei den Einberufungsämtern zu melden, wechseln Häuser und Wohnungen, ziehen sich zurück auf Datschen und in Dörfer oder verstecken sich in Wäldern. Diejenigen, die die Möglichkeit haben, gehen ins Ausland.

Für mich besteht der Widerstand darin, so viele Menschen wie möglich davon abzuhalten, zum Wehrersatzamt zu gehen, sie davon zu überzeugen, das Land zu verlassen, und den Menschen, die den Krieg unterstützen, zu erklären, dass sie sich irren, dass es für sie nicht gut ausgehen wird, dass es keinen persönlichen Nutzen aus dem Konflikt gibt, sondern nur Verlust.

Wächst die Zahl und das Engagement linker, gemeinwohlorientierter Organisationen in Russland?

Ivan: Die russische Linke versucht stärker zusammenzuarbeiten. Es ist ein langsam voran schreitender Prozess. Linke tendieren dazu, untereinander zu streiten. Sie erhalten keine große Unterstützung aus der Bevölkerung, da sie nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen. Es gibt Organisationen, die versuchen, den Menschen zu helfen und Gewerkschaften zu gründen, aber sie versuchen, nicht als links angesehen zu werden.

Hat sich die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber dem Krieg, Putin und dem herrschenden Establishment im Laufe dieses Jahres verändert? Was passierte seit der Ankündigung der Teilmobilisierung? Welche Gespräche finden zwischen denen statt, die die offiziellen Narrative und Institutionen in Frage stellen?

Ivan: Nach der Ankündigung der Teilmobilisierung (Wehrpflicht) stieg die Zahl derjenigen, die mit Putin und dem Krieg unzufrieden sind. Der Krieg fing an, fast jeden zu betreffen. Dennoch ist die Unterstützung für Putin groß, da er den Eindruck erweckt hat, dass niemand außer ihm das Land regieren kann. Seine Konkurrenten erschienen bei den Wahlen schwach und agierten manchmal wie Clowns.

In unserem Land wird gesagt, dass die Leute Putin nicht mögen, aber wer, wenn nicht er, soll es machen, heißt es – es könnten noch schlimmere Politiker an die Macht kommen. Sie sagen, dass Putin zwar ein Dieb und Schurke sei, aber zumindest nachvollziehbar handele. Bei ihm wisse man, was man hat.

Viele Menschen sind nun von der russischen Armee enttäuscht, weil es an den Fronten zu Rückschlägen gekommen ist und die Erfolge ausblieben. Offiziell sagte man anfangs, dass die Ukraine in ein paar Wochen eingenommen sein würde. Man versprach, dass es keine Mobilisierung geben würde.

Gleichzeitig glauben viele Russen fest daran, dass die Nato Russland angegriffen hätte, wenn wir nicht in die Ukraine einmarschiert wären. So hat man uns in den letzten 30 Jahren immer wieder mitgeteilt, dass die Nato Russland angreifen werde.

Diejenigen, die wenig fernsehen und kritisch analysieren, verstehen sehr gut, dass das alles nicht stimmt. Sie sprechen über die Schrecken, die sich ereignen, und sie schämen sich sehr für das, was unser Land anstellt. Andere Russen leben mit einem Widerspruch. Sie sagen: Einerseits ist der Krieg schlecht, andererseits sei er notwendig gewesen, um sich gegen die Nato zu verteidigen. Die russische Führung mache zudem alles richtig.

Wie werden die Aktionen des Westens von Ihnen und anderen Russen wahrgenommen?

Ivan: Das Vorgehen einiger baltischer Länder hat Empörung ausgelöst. Menschen, die nicht kämpfen wollten, wurde verwehrt, ins Ausland einzureisen. Manche wurden sogar an die russischen Behörden ausgeliefert. Viele vom Westen verhängte Sanktionen treffen letztlich die normalen Menschen, die wenig haben. Medikamente sind teurer geworden oder ganz verschwunden, viele lebenswichtige Produkte sind vom Markt verschwunden.

Diejenigen in den Staatsorganen haben hingegen nicht viel gelitten. Sie haben eine Menge Geld gestohlen und können es sich leisten, sanktionierte Waren über andere Kanäle zu erhalten. Sicher sind die Produkte teurer, aber sie haben weiter Zugang dazu.

Sogar in Kasachstan sind die Folgen der Sanktionen sichtbar, da viele Waren durch Russland transportiert wurden, aber der Handel jetzt nur noch mit China stattfindet. Ein weiteres Problem der Sanktionen ist, dass sie auf den Schultern der einfachen Bürger lasten, da die Preise steigen und die Löhne sinken.

Was würde für Sie Solidarität sowohl innerhalb Russlands als auch von der globalen Linken bedeuten? Wie können Aktivisten Ihre Bemühungen im Ausland unterstützen?

Ivan: Für mich würde Solidarität bedeuten, die Menschen zu mobilisieren und die Zivilgesellschaft in meinem Land wieder aufzubauen. In Russland gibt es sehr wenig wechselseitige Unterstützung zwischen den Menschen, jeder in Russland ist mit sich allein.

Im besten Fall gibt es Familie und Freunde, auf die man sich verlassen kann. Bei anderen Problemen ist man auf sich gestellt, bis hin zu den einfachsten Dingen, wie Hilfe bei einer Autopanne oder alltäglichen Problemen. Zum Beispiel, wenn eine Frau den Kinderwagen mit Kind eine Treppe hinauftragen muss, weil es keine Rampe gibt.

Wir brauchen auch mehr psychologische Betreuung, da viele Menschen depressiv werden. Viele, die in den Krieg gezogen sind, werden zum Beispiel zutiefst unglücklich. Andere ziehen in den Krieg, um vor ihren Problemen zu fliehen oder gar den Tod zu finden.

Die direkte Konfrontation mit den politisch Verantwortlichen ist weiter möglich. Es braucht vor allem Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die russische Bevölkerung.