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Niederlande im "Abend-Lockdown"

In Rotterdam gab es bereits vor der jüngsten Verschärfung der Corona-Maßnahmen Krawalle. Symbolbild: © Donald Trung Quoc Don / CC BY-SA 4.0

Hausärzte sind wachsenden Aggressionen ausgesetzt und schaffen nur noch das Allernötigste. Erste Haftstrafen wegen Rotterdamer Krawallnacht und Online-Verbot für Anstifter

Der Corona-Fahrplan der niederländischen Regierung sah eigentlich anders aus: Im November sollten die letzten Regeln aufgegeben werden [1]. Stattdessen wurden sie diesen Monat nun schon zweimal verschärft: zuerst zu einem "Teil-Lockdown" ab dem 13. November [2], ab Sonntag dann zu einem umfassenderen "Abend-Lockdown". Dieser war aufgrund der zunehmenden Not im Gesundheitssystem auf einer außerplanmäßigen Pressekonferenz am vergangenen Freitag angekündigt worden:

Mit Ausnahme von "essenziellen Geschäften" wie Supermärkten, Drogerien oder Optikern, die bis 20 Uhr geöffnet sein dürfen, muss nun um 17 Uhr alles schließen [3], wobei die Geschäfte in den meisten niederländischen Städten inzwischen auch sonntags geöffnet sind. Damit fällt auch insbesondere für Restaurants das Abendgeschäft weg, das bis Samstag noch mit einer 3-G-Regel möglich war.

Zudem kehren die festen Abstandsregeln zurück, die zuvor mit Einführung des "Coronazugangsbeweises" aufgegeben worden waren. Das heißt, dass nun auch vor 17 Uhr weniger Kunden hereingelassen werden dürfen. Das trifft neben Cafés und Restaurants auch Kinos, Theater und Konzertsäle.

Der Abend-Lockdown gilt ebenso für Amateursport wie Fitnessclubs und Sportvereine. Allerdings darf man sich nach 17 Uhr in Gruppen mit bis zu vier Personen und einem Lehrer zum Sport verabreden. Da die Sportstätten dann geschlossen sein müssen, bleiben wohl nur Parks und öffentliche Plätze. Für Spitzensportler gibt es Ausnahmen.

Die Schulen und Hochschulen bleiben zwar offen. Die Maskenpflicht außerhalb der Klassen wird allerdings auf die Schulkinder ab neun bis zehn Jahren ausgedehnt. Allerdings handelt es sich hierbei nur um eine "dringende Empfehlung", deren Übertretung wahrscheinlich nicht bestraft wird.

An Schulen fänden zwar zurzeit viele Infektionen mit dem Coronavirus statt. Eine Schulschließung würde den Kindern aber zu sehr schaden, während sie selten schwer an Covid-19 erkrankten, hieß es. Lehrerinnen und Lehrer sollen sich häufiger testen lassen.

Im Vorfeld der Verschärfungen warnte der niederländische Staatsrat (niederl. Raad van State) die Regierung vor Maßnahmen im "Jojo-Stil": Bei zu häufigen Regeländerungen würde die Akzeptanz in der Bevölkerung sinken. Der Staatsrat fungiert nicht nur als oberstes Verwaltungsgericht, sondern auch als Ratgeber.

Die schon seit Januar nur noch geschäftsführende Regierung unter Mark Rutte will die Lage am 14. Dezember neu beurteilen. Die schärferen Regeln sollen aber mindestens bis zum 19. Dezember gelten, also bis kurz vor Weihnachten.

Große Not im Gesundheitssystem

Bereits Anfang November warnten die Leiterinnen und Leiter niederländischer Intensivstationen vor fehlenden Kapazitäten. Nun gab es am vergangenen Donnerstag unterschiedliche Stimmen darüber, wie ernst die Lage zurzeit ist:

Einerseits warnte Bianca Buurman, Vorsitzende der Vereinigung der Pflegekräfte V&VN, in der Nachrichtensendung Nieuwsuur vor dem Eintreten des Worst-Case-Szenarios. Wenn die Infektionszahlen nicht abnähmen, könnten die Krankenhäuser in zwei bis drei Wochen nicht mehr die nötige Versorgung leisten. Man müsse sich auf die größte Krisenstufe, in den Niederlanden "Code Schwarz" genannt, vorbereiten.

Etwas weniger dramatisch sahen das Ernst Kuipers, der die landesweiten Kapazitäten für die Patientinnen und Patienten kontrolliert, sowie Gesundheitsminister Hugo de Jonge. Man könne die Kapazitäten noch erhöhen und zum Teil auch Hilfe aus Deutschland bekommen [4].

Momentan würden rund 28 Prozent der Ressourcen in den Krankenhäusern für Coronapatienten aufgebracht. Das Verschieben anderer Behandlungen führe aber schon jetzt zu "bitteren Situationen".

Unterdessen hätten es Hausärzte zunehmend mit problematischen Patienten zu tun [5], meldete deren nationale Vereinigung am Donnerstag: Manche würden sich nicht an die Regeln halten und dann aggressiv reagieren.

In der Gemeinde Veth bei Den Haag seien in der Nacht die Scheiben einer Hausarztpraxis eingeworfen worden. Zuvor war es in einer Praxis in Leiden zur Brandstiftung gekommen, nachdem sich der Hausarzt öffentlich für die Impfung ausgesprochen habe. Bei den Aufräumarbeiten entdeckte der Arzt auch einen Durchschuss in der Glasscheibe der Eingangstür.

Laut dem Bericht reagieren manche Praxen auf solche Vorfälle mit organisatorischen und baulichen Maßnahmen: Patienten lasse man über eine Sprechanlage nur noch ins Gebäude, wenn sie einen Termin hätten. Der Empfang sei dann gleich am Eingang. Türen habe man mit dickerem Glas verstärkt. Man konzentriere sich nun auf die "allernötigste" Behandlung.

Erste Gefängnisstrafen nach Krawallen

Diese von der Hausärztevereinigung berichteten Beispiele mögen nicht repräsentativ für das ganze Land sein - doch die Ausschreitungen in Rotterdam am 19. November [6] haben deutlich gemacht, wie stark die Gewalt als Reaktion auf Corona-Maßnahmen eskalieren kann. Die anfangs zahlenmäßig stark unterlegene Polizei schoss dabei einigen Randalierern sogar in die Beine [7].

Das Rotterdamer Gericht verurteilte in einem Schnellverfahren am Mittwoch die ersten beiden Beteiligten zu Gefängnisstrafen [8]. Eine 26-jährige Frau und ein 29-jähriger Mann bekamen jeweils fünf Monate Haft, davon zwei auf Bewährung. Beide waren zuvor schon wegen Gewaltdelikten verurteilt worden.

Laut dem Lokalsender Rijnmond haben beide Angeklagten die Taten vor Gericht bereut und zur Verteidigung vorgebracht, selbst von der Eskalation überrascht worden zu sein [9]. Dem hielt die Staatsanwaltschaft Videoaufnahmen entgegen, die die aktive Beteiligung der Angeklagten zeigten.

Die Frau, die zurzeit eine Ausbildung zur Lkw-Fahrerin macht, gab auch an, gegen die Coronamaßnahmen zu sein. Ihr konnte unter anderem nachgewiesen werden, Steine auf einen Polizeibus geworfen zu haben, in dem Beamte saßen.

Die Polizei forderte dann auch Schadenersatz in Höhe von fast 10.000 Euro für die Zerstörung eines Wagens. Dies reduzierte das Gericht jedoch auf 1.000 Euro und erklärte, man könne der Frau alleine nicht den gesamten Schaden zurechnen.

Dem Mann, einem Schweißer, wurde ebenfalls nachgewiesen, mit Steinen auf Polizeiwagen geworfen zu haben. Ihm wurde laut der Pressemitteilung zusätzlich zur Gefängnisstrafe zwar kein Schadenersatz, dafür aber ein einjähriges Aufenthaltsverbot für das Stadtzentrum von Rotterdam auferlegt.

Das Gericht konfrontierte die Angeklagten mit den Folgen der Ausschreitungen für die Polizeibeamten. Einige hätten in der Krawallnacht Todesangst gehabt. Bei manchen sei zurzeit noch unklar, ob sie in den Dienst zurückkehren könnten.

Nach diesen ersten beiden Schnellverfahren bereitet das Rotterdamer Gericht nun eine sogenannte Themensitzung vor, in der sich weitere Angeklagte für ihre mutmaßliche Beteiligung an den Krawallen verantworten müssen. Hierbei geht es um weniger komplexe Straftaten von Erwachsenen, für die maximal einjährige Gefängnisstrafen verhängt werden können.

Die zurzeit noch vier in Untersuchungshaft sitzenden Personen werden sich vor einer größeren Strafrechtskammer gegen schwerere Tatvorwürfe verteidigen müssen. Allerdings waren unter den Randalierern auch viele Minderjährige, für die andere rechtliche Regeln gelten. Derweil fahndet die Polizei nach weiteren Verdächtigten und rief diese bereits dazu auf, sich zu stellen, bevor man ihre Fotos veröffentliche.

Viele Minderjährige an Randale beteiligt

Seit der Rotterdamer Krawallnacht gab es auch in anderen niederländischen Städten Randale und Festnahmen, wenn auch in geringerem Ausmaß. Die Polizei zeigt sich insbesondere darüber besorgt, dass viele der Randalierer minderjährig sind, zum Teil erst 13 bis 14 Jahre alt. Sie würden sich durch Aufrufe im Internet oder in Chatgruppen mitreißen lassen.

Am Freitag wurde ein 17-Jähriger aus Zeist bei Utrecht festgenommen, nachdem er auf WhatsApp zu Krawallen aufgerufen haben soll. Ihm wurde von der Utrechter Bürgermeisterin nun ein "Online-Aufenthaltsverbot" auferlegt: Bei Wiederholung des Aufrufs muss er eine Strafe in Höhe von 2.500 Euro bezahlen [10]. Die Polizei berichtete am selben Tag von der Festnahme eines 15-Jährigen und dreier erwachsener Männer aus und um Utrecht aus denselben Gründen.

In Reaktion auf die Krawallnacht war die Rolle der sogenannten sozialen (oder vielleicht doch eher asozialen?) Medien diskutiert worden. Der Rechtssoziologe Willem Bantema vom Cyber Science Center im niederländischen Leeuwarden hat sich nach einem ähnlichen Fall im Jahr 2012 darauf spezialisiert, wie Ausschreitungen dieser Art durch das Internet beeinflusst werden.

Der Forscher sieht bei den Behörden noch ein großes Defizit, das Risikopotenzial bestimmter Online-Vorgänge im Vorfeld richtig einzuschätzen [11]. Ein anonymer Meldepunkt für Bürger, die zufällig Gewaltaufrufe im Internet sehen, könne helfen.

Der Sicherheitsforscher Arnout de Vries vom TNO-Institut für angewandte Forschung verwies in diesem Zusammenhang auf ein Ereignis in England, bei dem ganze Teile des Internets lahmgelegt wurden. Das habe hinterher aber zu so viel Kritik geführt und außerdem die Notrufnummern derart überlastet, dass man dieses Verfahren nicht mehr eingesetzt habe. Autoritäre Regimes würden auf diese Weise aber regierungskritische Proteste unterdrücken.

Wie die Niederländer auf den neuen "Abend-Lockdown" reagieren, muss sich noch zeigen. Bei der Einführung der Sperrstunde im Januar war es tagelang zu schweren Protesten gekommen [12].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6278553

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Niederlande-folgen-Pfad-der-Corona-Lockerungen-6192508.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Verschaerfte-Corona-Lage-Niederlande-sollen-schon-morgen-in-Teil-Lockdown-6265918.html
[3] https://www.rijksoverheid.nl/onderwerpen/coronavirus-covid-19/algemene-coronaregels/kort-overzicht-coronamaatregelen
[4] https://nos.nl/liveblog/2406620-omt-naleven-regels-belangrijker-dan-nieuwe-maatregelen-voorlopig-nog-geen-code-zwart
[5] https://nos.nl/artikel/2407053-ingegooide-ruiten-patienten-compleet-uit-hun-stekker-huisarts-mikpunt-van-agressie
[6] https://www.heise.de/tp/features/Gezielte-Polizeischuesse-bei-Corona-Krawallen-in-Rotterdam-6273054.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Da-hat-die-Polizei-gezielt-auf-die-Beine-geschossen-6273185.html
[8] https://www.rechtspraak.nl/Organisatie-en-contact/Organisatie/Rechtbanken/Rechtbank-Rotterdam/Nieuws/Paginas/Gevangenisstraffen-voor-betrokkenheid-bij-rellen.aspx
[9] https://www.rijnmond.nl/nieuws/1434232/Drie-maanden-cel-voor-eerste-relschoppers-Taakstraf-belediging-voor-hulpverleners
[10] https://www.utrecht.nl/nieuws/nieuwsbericht-gemeente-utrecht/online-gebiedsverbod-voor-man-die-opriep-tot-rellen-utrecht
[11] https://nos.nl/artikel/2406579-gemeenten-lopen-bij-rellen-achter-feiten-aan-door-besloten-groepen
[12] https://www.heise.de/tp/features/Niederlande-Schwere-Krawalle-in-mehreren-Staedten-5036688.html