Noam Chomsky über den gefährlichsten Punkt in der Geschichte der Menschheit
Chomsky sagt: Die atomaren Risiken wurden durch den US-Triumphalismus verstärkt. Insbesondere die Klimakrise braucht Kooperation mit China. Und was hat die neoliberale Ungleichheit mit dem Erstarken der Rechten zu tun? (Teil 1)
Wir leben in einer Welt, die mit existenziellen Bedrohungen konfrontiert ist, während extreme Ungleichheit unsere Gesellschaften auseinanderreißt und die Demokratie einen starken Rückgang erlebt. Die USA wollen ihre globale Hegemonie aufrechterhalten, obwohl internationale Zusammenarbeit dringend erforderlich ist, um die zahlreichen Herausforderungen unseres Planeten zu bewältigen.
Im Interview erklärt Noam Chomsky, einer der einflussreichsten lebenden Intellektuellen, warum wir uns am gefährlichsten Punkt der Menschheitsgeschichte befinden und sich Nationalismus, Rassismus und Extremismus heute überall auf der Welt wieder erheben. Das Interview wird von dem Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou geführt.
Noam, Sie sagen, dass die Welt am gefährlichsten Punkt der Menschheitsgeschichte angelangt ist. Warum glauben Sie das? Sind Atomwaffen heute gefährlicher als in der Vergangenheit? Ist das Erstarken des rechten Autoritarismus in den letzten Jahren gefährlicher als der Aufstieg und die anschließende Ausbreitung des Faschismus in den 1920er- und 1930er-Jahren? Oder liegt es an der Klimakrise, von der Sie gesagt haben, dass sie die größte Bedrohung darstellt, die die Welt je erlebt hat? Erklären Sie uns bitte, warum Sie glauben, dass die Welt heute wesentlich gefährlicher ist als früher?
Noam Chomsky: Die Klimakrise ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit und verschärft sich von Jahr zu Jahr. Wenn nicht innerhalb der nächsten Jahrzehnte wichtige Schritte unternommen werden, wird die Welt wahrscheinlich einen Punkt erreichen, an dem es kein Zurück mehr gibt, und der Niedergang zu einer unbeschreiblichen Katastrophe führt. Nichts ist sicher, aber diese Einschätzung scheint allzu plausibel zu sein.
Die Waffensysteme werden immer gefährlicher und bedrohlicher. Seit der Bombardierung von Hiroshima schwebt über uns ein Damoklesschwert. Wenige Jahre später, vor 70 Jahren, testeten die USA und dann Russland thermonukleare Waffen und zeigten damit, dass die menschliche Intelligenz so weit entwickelt ist, dass sie alles zerstören kann.
Die entscheidenden Fragen betreffen die soziopolitischen und kulturellen Bedingungen, die den Einsatz von Atomwaffen einschränken. Diese waren in der Raketenkrise von 1962, die Arthur Schlesinger zu Recht als den gefährlichsten Moment der Weltgeschichte bezeichnete, bedrohlich nahe am Zusammenbruch, auch wenn wir diesen unsäglichen Moment in Europa und Asien bald wieder erreichen könnten.
Das MAD-System (Mutually Assured Destruction) ermöglichte eine Form der Sicherheit, die zwar verrückt ist, aber vielleicht das Beste darstellt jenseits einer sozialen und kulturellen Transformation, die leider bis heute nur ein Wunschtraum ist.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das MAD-Sicherheitssystem durch den aggressiven Triumphalismus von Präsident Bill Clinton und das Projekt von Bush II. und Trump zur Demontage des mühsam aufgebauten Rüstungskontrollregimes untergraben. Zu diesen Themen haben Benjamin Schwarz und Christopher Layne vor dem Hintergrund des russischen Einmarsches in der Ukraine eine wichtige Studie verfasst.
Sie untersuchen, wie Clinton eine neue Ära der internationalen Beziehungen einleitete, in der die "Vereinigten Staaten zu einer revolutionären Kraft in der Weltpolitik" wurden, indem sie die "alte Diplomatie" aufgaben und ihr bevorzugtes revolutionäres Konzept der globalen Ordnung einführten.
Die "alte Diplomatie" versuchte, die globale Ordnung aufrechtzuerhalten, indem sie "die Interessen und Motive des Gegners verstand und in der Lage war, vernünftige Kompromisse zu schließen". Der neue triumphale Unilateralismus hat als "legitimes Ziel [für die USA] die Änderung oder Beseitigung jener [länderinternen] Regelungen, die nicht mit den von den USA erklärten Idealen und Werten übereinstimmen."
Das Wort "von den USA erklärten" ist entscheidend. Bei uns wird das weggelassen, anderswo nicht.
Im Hintergrund steht die Clinton-Doktrin, dass die USA bereit sein müssen, auf Gewalt zurückzugreifen, und zwar multilateral, wenn andere mitmachen, und unilateral, wenn wir müssen, um lebenswichtige Interessen und den "ungehinderten Zugang zu Schlüsselmärkten, Energieversorgung und strategischen Ressourcen" zu sichern.
Die begleitende Militärdoktrin hat zur Schaffung eines weitaus fortschrittlicheren Atomwaffensystems geführt, das man nur als "eine präventive Gegenschlag-Kapazität gegen Russland und China" (Rand Corporation) verstehen kann – also de facto eine Erstschlag-Kapazität, die durch Bushs Aufkündigung des Vertrags, der die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in der Nähe der Grenzen eines Gegners untersagte, noch verstärkt wurde. Die Systeme werden als defensiv dargestellt, aber sie werden von allen als Erstschlagwaffen angesehen.
Diese Schritte haben das alte System der gegenseitigen Abschreckung erheblich geschwächt und die Gefahren erhöht.
Man mag darüber streiten, inwieweit diese Entwicklungen neu sind. Schwarz und Layne legen jedoch überzeugend dar, dass dieser triumphale Unilateralismus und die offene Verachtung für den besiegten Feind maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Europa mit der russischen Invasion in die Ukraine in einen größeren Krieg hineingezogen wurde, der am Ende die Welt vernichten würde.
Nicht weniger bedrohlich sind die Entwicklungen in Asien. Mit starker parteiübergreifender und medialer Unterstützung attackiert Washington China sowohl an der militärischen als auch wirtschaftlichen Front.
Da die USA Europa dank Russlands Einmarsch in die Ukraine sicher an sich gebunden haben, konnten sie die Nato auf den indopazifischen Raum ausdehnen und so Europa in ihre Planung einbinden, Chinas Entwicklung zu verhindern – ein Programm, das nicht nur als legitim angesehen wird, sondern allgemein Lob erfährt.
Eine der sogenannten "Tauben" in der Regierung, Handelsministerin Gina Raimondo, brachte den Konsens klar zum Ausdruck:
Wenn wir Chinas Innovationstempo wirklich bremsen wollen, müssen wir mit Europa zusammenarbeiten.
Besonders wichtig ist es, China von der Entwicklung nachhaltiger Energien abzuhalten, bei denen es weit in Führung liegt und nach Ansicht von Analysten bei Goldman Sachs bis 2060 die Energieautarkie erreichen dürfte. China droht sogar, neue Durchbrüche bei Batterien zu erzielen, die die Welt vor einer Klimakatastrophe bewahren könnten.
Das ist eindeutig eine Bedrohung, die eingedämmt werden muss, ebenso wie das Beharren Chinas auf der Ein-China-Politik für Taiwan, die die USA vor 50 Jahren beschlossen und seitdem den Frieden sicherte, die Washington aber jetzt aufkündigt.
Es gibt noch vieles mehr, das das Bild einer zunehmenden Konfrontation untermauert.
Es fällt schwer, in unserer zunehmend seltsamer werdenden Kultur die richtigen Worte zu finden, aber es ist fast eine Binsenweisheit, dass wir alle verloren sind, wenn die USA und China keine Wege finden, sich anzunähern, wie es Großmächte mit gegensätzlichen Interessen in der Vergangenheit oft getan haben.
Historische Analogien haben natürlich ihre Grenzen, aber es gibt zwei einschlägige Analogien, die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführt werden: das 1815 gegründete Wiener System nach dem Kongress in Wien und der Versailler Vertrag von 1919. Ersterer ist ein Paradebeispiel für die "alte Diplomatie". Der besiegte Aggressor (Frankreich) wurde als gleichberechtigter Partner in das neue System der internationalen Ordnung aufgenommen.
Das führte zu einem Jahrhundert des relativen Friedens. Der Vertrag von Versailles ist ein Paradebeispiel für das "revolutionäre" Konzept der Weltordnung, das dann vom US-Triumphalismus der 90er-Jahre und der Periode danach institutionalisiert wurde. Das besiegte Deutschland wurde nicht in die internationale Nachkriegsordnung integriert, sondern hart bestraft und gedemütigt. Wir wissen, wohin das geführt hat.
Gegenwärtig stehen sich zwei Konzepte der Weltordnung gegenüber: das System der Vereinten Nationen auf der einen und das "regelbasierte" System auf der anderen Seite, das eng mit Multipolarität und Unipolarität korreliert, wobei letzteres die Dominanz der USA bedeutet.
Die USA und ihre Verbündeten (oder "Vasallen" bzw. "subimperiale Staaten", wie sie manchmal genannt werden) lehnen das UN-System ab und fordern die Einhaltung des regelbasierten Systems, während der Rest der Welt im Allgemeinen das UN-System und die Multipolarität unterstützt.
Das UN-System basiert auf der UN-Charta, der Grundlage des modernen Völkerrechts und dem "obersten Gesetz des Landes" in den USA gemäß der US-Verfassung, dem gewählte Regierungsvertreter zu gehorchen verpflichtet sind. Dieses System hat einen schwerwiegenden Fehler: Es ist nicht vereinbar mit der Außenpolitik der USA.
Das Hauptprinzip der UN verbietet "die Androhung oder Anwendung von Gewalt" in internationalen Angelegenheiten, außer unter sehr speziellen Umständen, die nichts mit den Interventionsinteressen der USA zu tun haben. Es wäre schwer, einen US-Präsidenten der Nachkriegszeit zu finden, der nicht gegen die US-Verfassung verstoßen hat – ein Thema, das, wie die öffentlichen Debatten zeigen, kaum von Interesse ist.
Welches ist das bevorzugte regelbasierte System? Die Antwort hängt davon ab, wer die Regeln festlegt und bestimmt, wann sie befolgt werden sollen. Die Antwort liegt auf der Hand: die Hegemonialmacht, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Zepter der globalen Vorherrschaft von Großbritannien übernommen und ihren Geltungsbereich stark erweitert hat.
Ein zentraler Grundstein des von den USA dominierten regelbasierten Systems ist die Welthandelsorganisation (WTO). Es stellt sich also die Frage, wie die USA sich daran halten.
Wie globale und soziale Ordnungssysteme attackiert wurden
Als globaler Hegemon sind die USA die einzige Macht, die in der Lage ist, Sanktionen zu verhängen. Es handelt sich dabei um Sanktionen von einer dritten Partei, denen andere gehorchen müssen. Und sie gehorchen, selbst wenn sie die Sanktionen entschieden ablehnen.
Ein Beispiel sind die US-Sanktionen, die Kuba strangulieren sollen. Sie werden von der ganzen Welt abgelehnt, wie wir an den regelmäßigen Abstimmungen in der Uno sehen. Aber sie werden befolgt.
Als Clinton noch schärfere Sanktionen als zuvor verhängte, rief die Europäische Union die WTO an, um die Rechtmäßigkeit dieser Sanktionen zu prüfen. Die USA zogen sich wütend aus dem Verfahren zurück und erklärten es für null und nichtig.
Dafür gab es einen Grund, wie Clintons Handelsminister Stuart Eizenstat erklärte: "Herr Eizenstat argumentiert, dass Europa 'drei Jahrzehnte amerikanischer Kuba-Politik, die auf die Kennedy-Regierung zurückgeht', infrage stellt und ausschließlich darauf abzielt, einen Regierungswechsel in Havanna zu erzwingen."
Kurz gesagt, Europa und die WTO sind nicht befugt, das langjährige US-Projekt des Terrors und der wirtschaftlichen Strangulierung zu beeinflussen, die darauf abzielt, die kubanische Regierung gewaltsam zu stürzen, also sollen sie sich verziehen.
Die Sanktionen haben Vorrang und Europa muss sich an sie halten – und tut es auch. Ein klares Beispiel für das Wesen der auf Regeln basierenden Ordnung.
Es gibt viele weitere Beispiele. So entschied der Internationale Gerichtshof, dass das Einfrieren iranischer Vermögenswerte durch die USA illegal ist. Praktisch keine Reaktion darauf.
Das ist nachvollziehbar. Im Rahmen des regelbasierten Systems hat der globale Vollstrecker ebenso wenig Grund, sich Urteilen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zu beugen wie den Entscheidungen der WTO. Das wurde bereits vor Jahren festgestellt.
1986 zogen sich die USA aus der Rechtsprechung des IGH zurück, als dieser die USA für ihren Terrorkrieg gegen Nicaragua verurteilte und sie zur Zahlung von Reparationen aufforderte. Die USA reagierten darauf mit einer Eskalation des Krieges.
Um ein weiteres Beispiel für das auf Regeln basierende System zu nennen: Die USA zogen sich als einziges Land aus dem Verfahren des Gerichtshofs zurück, der die Anklagen Jugoslawiens gegen die Nato prüfte. Sie argumentierten mit dem korrekten Hinweis, dass Jugoslawien von Völkermord sprach und die USA sich selbst vom internationalen Vertrag zum Verbot von Völkermord ausgenommen hatten.
Man könnte so weiter fortfahren. Es ist schnell einzusehen, warum die USA das auf den Vereinten Nationen basierende System zurückweisen, da es ihre Außenpolitik unmöglich machen würde, und ein System bevorzugen, in dem sie selbst die Regeln festlegen und sie nach eigenem Gutdünken außer Kraft setzen können. Warum die USA eine unipolare gegenüber einer multipolaren Ordnung bevorzugen, muss nicht diskutiert werden.
All diese Überlegungen sind von entscheidender Bedeutung, wenn es um globale Konflikte und Bedrohungen des Überlebens geht.
Alle Gesellschaften haben in den letzten 50 Jahren dramatische wirtschaftliche Veränderungen erlebt, allen voran China, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer Agrargesellschaft zu einem industriellen Kraftzentrum entwickelt hat und dabei Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut befreit hat. Das heißt aber nicht, dass das Leben unbedingt besser als in der Vergangenheit ist. In den USA beispielsweise hat die Lebensqualität in den letzten zehn Jahren abgenommen, und auch in der Europäischen Union ist die Lebenszufriedenheit gesunken. Befinden wir uns in einer Phase, in der wir den Niedergang des Westens und den Aufstieg des Ostens erleben? In jedem Fall scheinen viele Menschen zu glauben, dass der Aufstieg der Rechtsextremen in Europa und den Vereinigten Staaten mit der Wahrnehmung des Niedergangs des Westens zusammenhängt. Der Aufstieg der Rechtsextremen ist jedoch ein globales Phänomen, das von Indien und Brasilien bis nach Israel, Pakistan und auf die Philippinen reicht. Sogar im chinesischen Internet haben die Rechtsextremen eine Heimat gefunden. Was ist also los? Warum erleben Nationalismus, Rassismus und Extremismus ein so großes Comeback auf der Weltbühne?
Noam Chomsky: Es gibt ein Zusammenspiel vieler Faktoren, von denen einige spezifisch für bestimmte Gesellschaften sind, zum Beispiel die Demontage der säkularen Demokratie in Indien, wo Premierminister Narendra Modi sein Projekt verfolgt, eine harte, rassistische Hindu-Ethnokratie zu errichten. Das ist eine Besonderheit Indiens, wenn auch nicht ohne Entsprechungen in anderen Ländern.
Es gibt einige Faktoren, die ziemlich weitreichend sind und vergleichbare Konsequenzen haben. Einer davon ist die radikale Zunahme der Ungleichheit in weiten Teilen der Welt als Folge der neoliberalen Politik, die von den USA und Großbritannien ausgeht und sich darüber hinaus auf verschiedene Weise ausbreitet.
Die Studie der Rand Corporation schätzt, dass während der neoliberalen Jahre fast 50 Billionen Dollar an Reichtum von den Arbeitern und der Mittelschicht – den unteren 90 Prozent des Einkommens – an das obere eine Prozent übertragen wurden. Weitere Informationen finden sich in den Arbeiten von Thomas Piketty und Emmanuel Saez, die der politische Ökonom Robert Brenner übersichtlich zusammengefasst hat.
Der neoliberale Angriff ist ein wichtiger Faktor für den Zusammenbruch der sozialen Ordnung, der viele Menschen wütend, desillusioniert, verängstigt und verächtlich gegenüber Institutionen macht, die ihrer Meinung nach nicht in ihrem Interesse arbeiten.
Die grundlegende Schlussfolgerung ist, dass während des …
Nachkriegsbooms die Ungleichheit tatsächlich abnahm und nur sehr wenig Einkommen in die obersten Einkommensschichten floss. Während des gesamten Zeitraums von den 1940er- bis Ende der 1970er-Jahre erhielten das oberste eine Prozent der Einkommensbezieher neun bis zehn Prozent des Gesamteinkommens, nicht mehr. Aber in dem kurzen Zeitraum seit 1980 ist ihr Anteil, d. h. der Anteil des obersten einen Prozent, auf 25 Prozent gestiegen, während die unteren 80 Prozent praktisch keine Zuwächse verzeichnen konnten.
Das hat eine Reihe von Konsequenzen. Eine davon ist die Verringerung der produktiven Investitionen und der Übergang zu einer Rentenökonomie, in gewisser Weise ein Rückfall von der kapitalistischen Produktionsinvestition zur feudalen Produktion von Reichtum, also nicht von Kapital. Marx nannte es "fiktives Kapital".
Eine weitere Folge ist der Zusammenbruch der sozialen Ordnung. In ihrem prägnanten Werk "The Spirit Level" zeigen Richard Wilkinson und Kate Pickett einen engen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und einer Reihe von sozialen Störungen auf. Ein Land fällt aus dem Rahmen, die USA: sehr hohe Ungleichheit, aber noch größere soziale Unordnung, als es die Korrelation erwarten lässt.
Es ist das Land, das den neoliberalen Angriff angeführt hat – offiziell verkauft wurde das als Politik der kleinen Regierung mit Betonung des Markts. In der Praxis funktionierte das Ganze radikal anders, als verbissener Klassenkampf von oben, der alle verfügbaren Mittel dafür nutzt.
Die aufschlussreiche Arbeit von Wilkinson-Pickett wurde seither fortgeführt, zuletzt in einer wichtigen Studie von Steven Bezruchka. Es scheint sich zu bestätigen, dass Ungleichheit ein Hauptfaktor für den Zusammenbruch der sozialen Ordnung ist.
Im Vereinigten Königreich hat die harte Sparpolitik ähnliche Auswirkungen, die in vielerlei Hinsicht auf andere Länder übergehen. In der Regel sind die Schwachen am stärksten betroffen.
Lateinamerika hat in zwei verlorenen Jahrzehnten unter der zerstörerischen Strukturanpassungspolitik gelitten. In Jugoslawien und Ruanda verschärfte diese Politik in den 80er-Jahren die sozialen Spannungen und trug zu den nachfolgenden Gräueln bei.
Manchmal wird behauptet, die neoliberale Politik sei ein großer Erfolg gewesen. Es wird auf den schnellsten Rückgang der weltweiten Armut in der Geschichte verwiesen. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese bemerkenswerten Erfolge in China und anderen Ländern erzielt wurden, die die neoliberalen Grundsätze entschieden ablehnten.
Darüber hinaus war es nicht der "Washingtoner Konsens", der US-Investoren dazu veranlasste, die Produktion in Länder mit deutlich billigeren Arbeitskräften und eingeschränkten Arbeitsrechten sowie Umweltauflagen zu verlagern und damit Amerika zu deindustrialisieren, mit den bekannten Folgen für die arbeitende Bevölkerung.
Auch gab es andere Optionen. Studien der Arbeiterbewegung und des eigenen Forschungsbüros des Kongresses (OTA, inzwischen aufgelöst) boten praktikable Alternativen, wovon Arbeiter weltweit hätten profitieren können. Aber sie wurden verworfen.
All das bildet einen Teil des Hintergrunds für die Phänomene, die Sie beschreiben. Der neoliberale Angriff ist ein wichtiger Faktor für den Zusammenbruch der sozialen Ordnung, der viele Menschen wütend, desillusioniert, verängstigt und verächtlich gegenüber Institutionen macht, die ihrer Meinung nach nicht in ihrem Interesse arbeiten.
Ein wesentliches Element des neoliberalen Angriffs besteht darin, den betroffenen Gruppen die Mittel für ihre Verteidigung zu entziehen. US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher eröffneten die neoliberale Ära mit Angriffen auf die Gewerkschaften, die Hauptverteidigungslinie der arbeitenden Menschen gegen den Klassenkampf.
Sie öffneten auch die Tür für die oft illegalen Angriffe der Unternehmen auf die Arbeitnehmer. Aber die Illegalität hatte keine Konsequenzen, da der Staat, den sie weitgehend kontrollieren, wegschaute.
Die wichtigste Verteidigung im Klassenkampf ist eine gebildete, informierte Öffentlichkeit. Das öffentliche Bildungswesen wurde in den neoliberalen Jahren hart angegriffen: drastische Kürzungen der Mittel, Geschäftsmodelle, die billige und leicht zu ersetzende Arbeitskräfte (Hilfskräfte, Doktoranden) anstelle von Lehrkräften bevorzugen, Modelle, die auf Tests abzielen und kritisches Denken und Forschen untergraben, und vieles mehr.
Am besten ist es, wenn die Bevölkerung passiv, gehorsam und zerstreut ist, selbst wenn sie wütend und verärgert ist, und somit eine leichte Beute für Demagogen darstellt, die es verstehen, die hässlichen Strömungen anzuzapfen, die in jeder Gesellschaft nicht allzu weit unter der Oberfläche verlaufen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Common Dreams. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews: "Chomsky: Was passiert, wenn Befehlen aus Washington nicht gefolgt wird?"
Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad ist von ihm gerade erschienen: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".