Österreich-Türkei: Skandal um illegale Doppelstaatsangehörigkeiten
Eine geleakte Wählerliste zum Verfassungsreferendum wirft den Verdacht auf, dass in türkischen Konsulaten organisierter Rechtsbruch betrieben wurde
Nach dem türkischen Referendum über eine Verfassungsänderung, bei dem 73 Prozent der in Österreich lebenden türkischen Wähler für den von Recep Tayyip Erdoğan und seiner regierenden AKP vorgeschlagenen Umbau in ein Präsidialsystem stimmten, wurde dem ORF Oberösterreich eine mehrere zehntausend Namen umfassende Wählerliste zugespielt, auf der Personen stehen, die nicht nur die türkische, sondern auch die österreichische Staatsbürgerschaft haben: Das ist erlaubt, wenn ein Elternteil die österreichische und der andere die türkische Staatsangehörigkeit hat - aber verboten, wenn jemand dafür die türkische aufgegeben und anschließend wieder beantragt hat.
Nachdem die Sendung Oberösterreich Heute darüber berichtete, meldete sich unter anderem eine Linzerin, die schilderte, wie der Wechsel ihrer Staatsangehörigkeit am türkischen Konsulat in Salzburg (wo am Sonntag niemand für eine Stellungnahme gegenüber Telepolis erreichbar war) ihrer Erinnerung nach ablief: Nach eigenen Angaben legte man ihr Formulare, "auf denen etwas von einem 'Wiedereintritt in die Türkei' stand", zusammen mit solchen für den Austritt vor und forderte sie auf, diese "Reihe von Zetteln" zu unterschreiben.
"Richtig unter Druck gesetzt"
Als sie sich erkundigte, was sie da unterschreiben würde, sagte man ihr, dass Österreich bei der Einbürgerung lediglich eine "Austrittsbescheinigung" über die Abgabe verlange, aber nicht kontrolliere, ob man danach wieder "eintritt". Auf eine Rückfrage zu rechtlichen Auswirkungen habe ihr der Konsulatsmitarbeiter erklärt: "Die österreichischen Behörden kommen da eh nie drauf, und das macht eh jeder so." Obwohl er sie "richtig unter Druck setzte", unterschrieb die Linzerin das Schriftstück ihren eigenen Angaben nach nicht. Deshalb sei sie "geschockt" gewesen, als sie ihren Namen auf der Wählerliste las - und "verärgert", weil "Österreich das nicht kontrollieren konnte oder wollte". Das österreichische Innenministerium rechtfertigt diese Sachlage damit, dass die Türkei "seit etwa 15 Jahren" bei Fragen nach Wiederaufnahmen in den türkischen Staatsverband "absolut dicht" mache.
Die Linzerin entdeckte auf der Wählerliste mehrere weitere Namen von Personen, von denen sie weiß, dass diese "die österreichische Staatsbürgerschaft haben". Mindestens eine weitere türkischstämmige Frau mit österreichischer Staatsbürgerschaft bestätigte dem ORF, dass auch ihr Name und der ihrer Familienangehörigen auf der Liste steht. Sie zweifelt allerdings die Echtheit des Dokuments an, das der für Staatsbürgerschaften zuständige Landesrat Elmar Podgorschek jetzt überprüfen lassen will. Das kommunalpolitische Mandat, das die Frau in Oberösterreich inne hat, müsste sie im Falle einer Echtheit des Wählerverzeichnisses möglicherweise räumen, weil die Türkei kein EU-Mitgliedsland ist und das österreichische Recht das Erlöschen der Staatsangehörigkeit vorsieht, wenn jemand eine andere annimmt.
Sobotka fordert Bußgelder
Bußgelder sind für den illegalen Erwerb einer zweiten Staatsbürgerschaft bislang nicht vorgesehen, was Innenminister Wolfgang Sobotka ändern möchte. Der ÖVP-Politiker schlug dem Ministerrat bereits am Mittwoch vor, die Vorschrift mit Bußgeldern in Höhe von bis zu 5000 Euro zu bewehren und bei der Einbürgerung schriftlich darauf hinzuweisen, dass eine Wiederbeantragung der türkischen Staatsbürgerschaft gemeldet werden muss. Kanzleramtsminister Thomas Drozda von der SPÖ äußerte sich dazu nicht kategorisch ablehnend, will aber erst ermitteln lassen "wie viele illegale Doppelstaatsbürgerschaften es überhaupt gibt".
Dass die türkischen Behörden die Doppelstaatsbürgerschaften als Anlass nehmen, das Verfassungsreferendum zu wiederholen, ist aus mehrerlei Gründen unwahrscheinlich: Zum einen fehlt eine klare Rechtsgrundlage dafür, weil die Türkei Mehrfachstaatsbürgerschaften nicht entsprechend ahndet; zum anderen hat die türkische Staatsführung kein Interesse daran, das nach ihren Wünschen verlaufene Referendum infrage zu stellen, wie auch ihr Umgang mit anderen Hinweisen über mögliche Unregelmäßigkeiten zeigt (vgl. 2,5 Millionen getürkte Stimmzettel?).
Befeuerte Integrationsdebatte
Dass 73 Prozent der Türken, die in Österreich im April über ihre Verfassung abstimmten, eine Position vertraten, die österreichische Politiker und Medien als potenziell integrationshinderlich werten, hat außerdem die Debatte über Änderungen in der Migrationspolitik befeuert: Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz bemängelte in diesem Zusammenhang, die "Laissez-faire-Politik" der vergangenen Jahrzehnte sei "absolut falsch" gewesen, weshalb man die Zuwanderung nun einschränken müsse, um Integration nachzuholen und nicht weiter zu erschweren.
Kurz und Innenminister Wolfgang Sobotka (ebenfalls ÖVP) fordern dazu bereits seit längerem die Einrichtung von Asylzentren in Nordafrika und anderen Ländern, in denen Asylanträge von Migranten außerhalb der EU bearbeitet werden sollen. Nach SPÖ-Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil hat sich am Wochenende auch der österreichische Bundeskanzler Christian Kern für diese Lösung ausgesprochen. Der Presse am Sonntag sagte der sozialdemokratische Regierungschef, auf andere Weise würden "Europa und die Welt das Problem nicht in den Griff kriegen". Er warnte jedoch, das werde neben Geld eventuell auch den Willen voraussetzen, militärisch in Staaten wie "Libyen, Senegal, Mali, auch Afghanistan" aktiv zu werden.
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