Ohnmacht als politische Handlungsform

Die Grenzen paradoxer Politik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

„Politische Macht bleibt nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sie in der Lage ist, mit Risiken umzugehen. Sie verwandelt, gleichsam instinktiv, Zukunftsunsicherheit in Konsens- und Durchsetzungsprobleme.“ (Niklas Luhmann kurz vor seinem Tode im Jahre 1998). Kanzler Gerhard Schröder hat diese magische Macht genossen, doch von der Attraktivität dieser Machtform ist wohl nicht mehr viel übrig geblieben.

Illustration aus Sebastian Brants: Das Narrenschiff, 1494

Das Ende der Medienmagie

Dabei geht es Niklas Luhmann ausdrücklich nicht um reale Handlungsmacht, sondern eher um den politischen Schein, mit Risiken und Problemen jedweder Art umgehen zu können. Und das konnte der Kanzler so gut wie jeder Politiker, der bis zur einsamen Machtspitze vordringen durfte. Ein Medienkanzler kann üblicherweise in den Medien Probleme lösen, die jenseits der Medien oftmals nicht einmal vernünftig beschrieben werden können. Die unheilige „Transsubstantion“ von Zukunftsangst in demokratische Hoffnung ist die gewöhnlichste Magie, zu der Politik in der Lage sein muss, wenn man sie wenigstens ein bisschen ernst nehmen soll. Luhmann formulierte das für die politischen Erfolge, deren wir in einigen Jahrzehnten teilhaftig wurden, therapeutischer:

Es gibt hinreichend Beweise erfolgreicher Aktivität; und wie bei einer Medizin, die nicht hilft, kann man immer noch sagen: es wäre ohne sie viel schlimmer geworden.

Es muss sehr schlimm sein, wenn der Kanzler und die Gefährten selbst auf diese immergrüne Heilsbotschaft verzichten müssen. Politik war zuvor die Kunst, alles erklären zu können und darin eine permanente Legitimation des eigenen segensreichen Schaffens zu finden.

Wer also diese Magie nicht mehr gelten lassen will, hat eine Grenze überschritten. Es ist eine Offenbarungserklärung, wenn sich das politische System selbst nicht einmal mehr zur Autosuggestion in der Lage fühlt, es richten zu können. Denn kann man Politik an etwas anderem messen? Dass die Verhältnisse besser werden, mag mitunter auf Politik zurückzuführen sein. Doch in welchem Maß, nach welchen Gesetzlichkeiten und auf wie abenteuerlichen Wegen, die besser erst gar nicht in das Blickfeld des Wählers kommen sollten, wenn der an seinem demokratischen Selbstverständnis nicht irre werden will? Soll jetzt nicht mehr gelten, dass Politik das Gute verspricht und wenn es tatsächlich eintritt, das als Einlösung des programmatischen Versprechens feiern darf – ungeachtet Gottes unerforschlicher Wege, vulgo: der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse. Leider ist des Kanzlers Reaktion auf die zu Tage getretene Machtlosigkeit der Politik, den Notdienst für andere gesellschaftliche Kräfte zu spielen, nicht so vollkommen, dass die Nacktheit auch für jeden glänzt, wo zuvor angeblich Kleider gewesen sind.

Man redet von Blockadepolitik und mag freilich auch als Taktik deuten, was sich zunächst als sozialdemokratische Staats- und Politikverdrossenheit verstehen ließ. Denn wenn sich ohnehin nichts ändert, ist es allemal besser, die fällige Abrechnung mit den erfolglosen Arbeitslosigkeitsbezwingern dadurch vielleicht doch noch zu verhindern und den nächsten politischen Heilsbringern mit den nämlichen Rezepten das Handeln aufzuzwingen. Eine zusammengestoppelte CDU-FDP-Riege mit Merkel, Stoiber, Gerhardt und Westerwelle lässt sich in den nächsten Wochen, und um die geht es nur, nicht als politisches Supertrooper-Aufgebot verkaufen. Besser also den schwarzgelben Feind jetzt herausfordern, wenn die Wahlkampfmaschinen erst gar nicht so heiß laufen können, wie es im Herbst 2006 möglich sein könnte? Und ist es keine gute Taktik, die Kritik am Regierungsbündnis, die aus dem vormals eigenen Lager mindestens so heftig sich erregte wie aus dem der Opposition selbst, verstummen zu lassen und auf den Schulterschluss der Linken aller Rotabstufungen zu hoffen?

Der Paukenschlag des Kanzlers nach der verlorenen NRW-Wahl, Neu-Wahlen im Bund zu fordern, wurde indes durch einen anderen Paukenschlag akzentuiert. Oskar Lafontaine trat aus der SPD aus. Auch dieser Vorgang ist einmalig in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Ein ehemaliger Vorsitzender verlässt „seine“ Partei. Seitdem Oskar sich seiner politischen Ämter entledigt hat, meditierte er wohl unentwegt darüber, warum keiner nach ihm ruft. Vermutlich definiert er seine politischen Schachzüge, die bislang vornehmlich aus kassandrischer Rhetorik bestehen, im Vergleich mit denen seines früheren Ko-Regenten Schröder. Doch hat Oskar nicht Recht? Müssen erst die Verhältnisse so katastrophal werden, dass es ohne Oskar nicht mehr geht?

Doch der Wähler kann nur staunen. Wenn es zuvor als Superfinanzminister der Schröder-Regierung nicht reichte, wieso soll nun in Absprache mit der WASG mehr daraus werden? So richtig wohl ist der PDS nicht dabei zumute. Frau Petra Pau menetekelt: “Kommt die PDS nicht in Fraktionsstärke in den Bundestag, dann gibt es in Deutschland einen neoliberalen, parlamentarischen Durchmarsch und dann sinken auch die Chancen für linke Bündnisse, für eine bessere Politik.“ Lafontaine sieht es wohl anders: „Ich tue mich mit allen zusammen, die gegen die Heuschrecken kämpfen, die den deutschen Sozialstaat vertilgen.” Immerhin sollen nach einer Umfrage 18 % der Wähler sich eine Linkspartei mit einem starken Lafontaine vorstellen können. Trittin sieht dagegen die Spaltung des Linksbündnisses: "Für die Union ist Oskar ein nützlicher Idiot."

Der Kurs des Narrenschiffs

Doch wenn ohnehin keiner weiß, wie das Riesenthermostat „Bundesrepublik“ in Zeiten der Globalisierung zu bedienen ist, und alle hoffen, dass dieser oder jener Schalter vielleicht die gewünschten Effekte auslöst, so lange kann man im Prinzip jeden schalten lassen. Denn längst ist klar: Alle reden von Reformen, während der Glaube an ihre Wirkungsmächtigkeit wohl längst an Hypokrisie grenzt. Und sind die Handlungsoptionen nicht ohnehin läppisch, wenn doch jeder weiß, dass Mehrheitsfähigkeit heißt, keinem auf die Füße zu treten und daher auch jede Bewegung wieder eine Gegenbewegung auslöst? Sollte das Modell rationaler Politik gescheitert sein? Ist der politische Apparat nur noch ein Restposten gesellschaftlicher Dynamik, der zwar viel Getöse verursacht, aber hinter den wirklichen Handlungsagenten verschwindet?

Hier wie dort ist jedenfalls die Chuzpe zu bewundern, Politik noch so zu präsentieren, als handele es sich um die Steuerungskunst des klugen Staatsmannes respektive demnächst wohl eher der klugen Steuerfrau. Doch die Verwirrung über das richtige politische Konzept ist zu augenscheinlich, als dass diese Diskussion den Eindruck noch länger erwecken könnte, es gäbe überhaupt eins. Steuern rauf, Steuern runter, befindet das Handelsblatt frustriert. Die Mehrwertsteuererhöhung etwa ist bei den Koalitionären in spe hoch umstritten. Auch hinsichtlich anderer Steuern gibt es keine klaren Ansagen. Bei der schwindenden Koalition sieht es nicht besser aus. Dort streitet man sich in geradezu burlesker Weise über Unternehmenssteuern.

Denn letztlich braucht der Staat Geld, aber andererseits will man Konjunktur, Konsumanreize und unternehmerisches Engagement. Der Vorteil von George Orwells paradoxem Newspeak bestand noch darin, bestimmte Gedanken nur auf der Sprachebene auszuschalten. Doch heute und hier gelten paradoxe Handlungssignale: Konsumiert und spart zugleich. Eure Zukunft ist unsicher, aber bekennt euch zum konsumistischen Ethos, ohne das der Kapitalismus nicht existieren kann. Wer solche Botschaften sendet und dann noch auf den fundamentalen Mentalitätsumschwung in der verunsicherten Gesellschaft hofft, glaubt demnächst wohl noch an Parteiprogramme.

Reform ohne Reform

Frau Merkel hat für die Quadratur des Zirkels auch schon ein passendes Rezept: „Wir werden den Menschen sagen, dass wir uns vor allem auf diejenigen Dinge konzentrieren werden, die kein Geld kosten - also das Arbeitsrecht entrümpeln, Bürokratie abbauen.“ Allerdings sind Entrümpelungsarbeiten bekanntlich auch teuer. Hier droht die sattsam bekannte Paradoxie, dass die Verschlankung auf einer Ebene mit einer Aufblähung auf einer anderen Regelungsebene bezahlt wird. Parkinsons Gesetz in Verbindung mit der hiesigen Regelungswut wurde bisher jedenfalls in diesem Land nicht widerlegt.

Bei der eigentlichen Agenda, der Sozialstaatsreform, wird indes gerade im Blick auf die Wahlschlacht das Elend politischer Paradoxien vollends deutlich. SPD-Chef Müntefering überlegt zwar, an der Hartz-IV-Reform „das Eine oder Andere“ zu verändern. Doch „Korrekturen werden das nicht sein.“ Quod erat demonstrandum. Während die SPD also ihr Konzept ändert, ohne es zu ändern, verkündet der grüne Bündnispartner im Blick auf das schon merklich abgekühlte Verhältnis zum Großen Bruder großmundig: "Es geht um eine Richtungswahl. Die Alternativen heißen sozial-ökologische Marktwirtschaft oder Marktradikalismus pur." Hier herrscht also himmlische Klarheit ohne jede Luftverschmutzung der immer noch reinen Vernunft.

Doch wem will der grüne Chef Reinhard Bütikofer so wunderbare Wahlperspektiven, die uns nicht länger zögern lassen würden, eigentlich ernstlich verkaufen? Denn wenn es doch überhaupt ein Dilemma gibt, dann ist es gerade die Unentrinnbarkeit aller Beteiligten aus einem Verursachungszusammenhang, der sich geschichtsironisch über alte Links-Rechts-Codierungen hinwegsetzt. Wir sitzen alle in einem Boot, allerdings mit feinen Unterschieden: Einige werden gerudert, die meisten rudern und zu viele sind schon über Bord gegangen. Doch dieser historisch altbekannte Befund wird sich nicht in einer „Richtungswahl“ auflösen, die Parteimenschen - nicht nur grüner Couleur - predigen. Denn die bösen Kapitalisten brauchen wiederum gute Konsumenten und umgekehrt. Das spricht eher dafür, dass es gar keine Richtung gibt, sondern nur Kurskorrekturen, die wiederum korrigiert werden, um dann erneut korrigiert werden zu können. Früher hätte man das ein Narrenschiff genannt, heute ist das bundesrepublikanischer Politik-Alltag.

Immerhin für die meisten Bürger gibt es einen Trost: Sie dürfen wählen, wo es nicht viel zu wählen gibt, ohne noch länger das Gefühl haben zu müssen, ihre Entscheidung sei (letzt)begründbar. Wer das trotzdem glaubt, um sein demokratisches Selbstverständnis nicht zu gefährden, dem bleibt schließlich noch der Trost, dass die neue Bürgernähe darin besteht, den Unterschied zwischen politischen Auguren und ahnungslosem Wahlvolk zu kassieren. Denn wenn sich selbst den „Wissenden“ keine der vielen beschworenen Reformen aufdrängt, könnte es doch sein, dass es gar keine gibt.