Open Source und Separatismus
Belgier wählen auf eine Trennung ihres Staatsgebildes hin
Im Februar prophezeite der britische Euroskeptiker Nigel Farage dem belgischen EU-Ratspräsidenten Herman van Rompuy, dass es sein "Nicht-Land" nicht mehr lange geben werde. Gestern zeigte sich, dass zumindest die niederländischsprachigen Flamen einem Ende der Ehe mit den französischsprachigen Wallonen durchaus hoffnungsfroh entgegensehen: Sie stärkten bei der Parlamentswahl nämlich vor allem Bart de Wevers Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) - eine Partei, die Belgien den Weg einer Trennung der Landesteile gehen lassen will.
Diese N-VA, die im Europäischen Parlament ebenso wie die Scottish National Party (SNP) der Grünen-Fraktion angehört, ist zwar separatistisch, aber keineswegs rechtsextrem - was auch ihre politischen Gegner zugeben. Gestern wurde sie den Hochrechnungen zufolge mit etwa 30 Prozent der Stimmen mit Abstand stärkste Partei in Flandern. Bei der letzten Wahl musste die Partei noch fürchten, an der Fünf-Prozent-Sperrklausel zu scheitern und war deshalb in einer Listenverbindung mit der nun um ein Drittel auf unter 18 Prozent abgesunkenen Christen-Democratisch & Vlaams (CD&V) angetreten.
In ihrem Wahlprogramm fordert die N-VA unter anderem eine Anpassung des Bundeshaushalts an den flämischen Regionalhaushalt, eine Stärkung der kommunalen Kompetenzen, mehr Open-Source-Software in der Verwaltung, einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, die Besteuerung von Kraftfahrzeugen nach ihrem Spritverbrauch und die Förderung erneuerbarer Energien.
Auf die Unabhängigkeit Flanderns will man Schritt für Schritt hinarbeiten, oder, wie der Wever es ausdrückt, Belgien "verdampfen lassen". Neben einer Stärkung der Regionen in den EU-Gremien plant der N-VA-Vorsitzende dafür die Umwandlung des Landes in eine Konföderation, bei der die Teile mehr Macht haben als das Ganze.
Verlierer der Wahl in Flamen sind den Hochrechnungen zufolge nicht nur die Christdemokraten, sondern auch fast alle anderen Parteien außer der N-VA: Die Sozialdemokraten von der SPA (Socialistische Partij Anders) landeten danach bei nur mehr 15, die Open Vlaamse Liberalen en Democraten (Open-VLD) bei 13 und der Vlaams Belang bei 12 Prozent. Eine Abspaltung der Open-VLD, die für eine Flat-Tax eintretende Lijst Dedecker, flog vielleicht sogar ganz aus dem Parlament. Die flämischen Grünen blieben dagegen mit etwa 6 Prozent relativ stabil.
In der Wallonie siegte erwartungsgemäß die sozialdemokratische Parti Socialiste (PS), die dort den Hochrechnungen zufolge über ein Drittel der Stimmen einheimste. Die vorher führenden Liberalen, die Mouvement Réformateur (MR), stürzte auf etwas über 20 Prozent ab. Auch das christdemokratische Centre Démocrate Humaniste (CDH) musste schwere Verluste hinnehmen und liegt nun mit unter 15 Prozent etwa gleich auf mit den wallonischen Grünen. Die Front National (FN), bisher mit einem Abgeordneten im Parlament vertreten, könnte den Prognosen zufolge diesen Sitz verlieren.
Die letzte belgische Regierungskoalition fand sich nur mit viel Mühe und erst ein gutes halbes Jahr nach der Wahl. Sie bestand aus den flämischen und wallonischen Liberalen und Christdemokraten sowie den wallonischen Sozialdemokraten. Die N-VA war an ihr nicht beteiligt. Nun spekulieren belgische Medien darüber dass de Wever Vizepremier in einer von der PS angeführten Regierung werden könnte. Voraussetzung dafür wird allerdings sein, dass der italienischstämmige PS-Chef Elio di Rupo entsprechende Zugeständnisse in Richtung der von de Wever gewünschten Entwicklung Belgiens zulässt, wie er dies im Wahlkampf angedeutet hat.
Flandern war lange Zeit ein benachteiligter Landesteil Belgiens: Bis 1921 durfte dort in der Verwaltung und in den Schulen nur Französisch gesprochen werden. Wirtschaftlich brachte erst der Strukturwandel der 1970er und 1980er Jahre die Wende: Danach war die im 19. Jahrhundert industrialisierte Wallonie plötzlich auf Transfers aus dem vormals bäuerlichen Flandern angewiesen.
Sollte es zu einer Aufspaltung Belgiens kommen, würden die separaten Landesteile möglicherweise nur begrenzt lange selbstständig bleiben: Für die Flamen läge ein Anschluss an die Niederlande nahe. Der früher bedeutsame religiöse Gegensatz zwischen flämischen Katholiken und nordniederländischen Calvinisten, der 1830 zur Aufspaltung des Vereinigten Königreichs der Niederlande führte, spielt heute keine große Rolle mehr - immerhin regierte in den Niederlanden mit dem CDA in den letzten Jahrzehnten überwiegend eine katholisch geprägte Partei.
Die Wallonie könnte sich dagegen als Teil Frankreichs jene Transferleistungen sichern, die heute noch aus Flandern kommen. Eupen, Sankt Vith und die nach dem Ersten Weltkrieg übernommenen deutschsprachigen Ostkantone würden sich in diesem Fall vielleicht für einen Beitritt zur Bundesrepublik aussprechen oder Luxemburg zugesellen.