Panoptismus als Unterhaltung
"Doku-Soaps" als die neueste Wunderwaffe im Aufmerksamkeitsholocaust der Fernsehnachgeschichte
Jeremy Bentham hinderte seine utilitaristische Philosophie der allgemeinen Glückseligkeit nicht, das panoptische Überwachungssystem in den Strafanstalten als modernes Vollzugsinstrument anzuempfehlen. Im Gegenteil: Benthams Architektur des Panopticons war zwar ein repressives Disziplinarmodell nervenzerrüttender Dauerbeobachtung, aber mit dem hehren Ziel, "die Moral zu reformieren, die Gesundheit zu bewahren, die Ökonomie wie auf einen Felsen zu bauen".1
Demokraten fürchten dagegen inzwischen den allgegenwärtigen Überwachungsstaat als elektronisches Superpanopticon, weil er die informationelle Selbstbestimmung des zoon politikon gefährde. Werde der gläserne Mensch zum Spielball manipulativer Staatsmacht, bleibe die freie Entscheidung des Bürgers auf der Strecke politischer Willensbildung. Danach wird die Moral nicht reformiert, sondern demontiert, wenn der fremde Beobachter in die letzten Winkel fremder Seelenräume eindringt.
Benthams Panopticon, nicht anders als Orwells Big-Brother-Szenario einer repressiven Informationsherrschaft, wird aber in der Supervisionsmacht des Satellitenspionagesystems "Echelon" noch überboten: Datenherrscher greifen nicht nur in die demokratische Konstitution freier Gesellschaften ein, sondern missbrauchen staatliche Überwachungstechnologien im Interesse unzulässiger Wettbewerbsvorteile internationaler Unternehmen. In der vernetzten Gesellschaft stoßen wir permanent auf diesen Grundwiderspruch zwischen der neuen elektronischen Kommunikationsherrlichkeit und ihrem Missbrauch durch staatliche, aber eben auch private Macht.
Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Kritik an der Doku-Soap "Big Brother" von RTL II von diesen Verlustängsten bürgerlicher Selbstbestimmung geprägt wird. Die Intimsphärenschützer der Öffentlichkeit, allen voran die Landesmedienanstalten, verweisen auf den Verlust der Menschenwürde, wenn zehn Kandidaten in ihren alltäglichen Lebensvollzügen drei Monate lang von allgegenwärtigen Kameras beobachtet werden. Die Argumentation ist indes älter als "Real-life-TV": Schon vor Jahren bemühte sie wenig überzeugend das Bundesverwaltungsgericht, um bundesrepublikanische Peepshows, jene armseligen Vorläufer elektronischer Peepcam-Schlüssellochexzesse, zu schließen. Nun stößt die Kritik an der Exhibitionierung des Privaten aber just auf die von "Big Brother" gewährte Selbstbestimmung der Doku-Soap-Protagonisten, sich diesen Regeln freiwillig zu unterwerfen, ohne das Recht zu verlieren, jederzeit in ihre vormalige "private Privatheit" zurückzukehren.
Die "Fernseh"-Kritiker öffentlicher Intimität geraten mithin selbst in das Paradox, die Selbstbestimmung anderer fremd zu bestimmen, das private Selbst gegen sich selbst zu schützen. Angesichts der diffus dahinschleichenden, handlungsarmen Doku-Soap, die hautnah bis pickelecht zeigt, dass sich auch andere Leute morgens die Zähne putzen und Kaffee trinken, legitimiert sich diese Kritik aber gerade nicht im alltäglichen Verlust der Menschenwürde, sondern in der vorauseilenden Angst, dass die angeschlagene Differenz von Öffentlichem und Privaten vollends kollabiert. Dieser Kollaps wird aber - mindestens unbewusst - mit dem Zusammenbruch demokratischer Gesellschaften gleich gesetzt. Gilt doch das Private als die Keimzelle öffentlichen Engagements.
Schon vor einiger Zeit hatte Richard Sennett die "Tyrannei der Intimität"2 angeprangert, aber dieser Strukturwandel des Öffentlichen wurde weder in seinen elektronischen Überbietungen wahr genommen, noch ging es um den jetzt gezeugten Zwitter einer öffentlichen Privatheit. Erst mit der elektronischen Monitorisierung, mit imperialen Speichermedien und kürzesten Übermittlungszeiten wird die Wissensherrschaft über den Menschen zum echten Risikofaktor der Selbstbestimmung. Aber kollabiert bei "Big Brother" tatsächlich die Intimität der Akteure zu Gunsten fernsehender und surfender Voyeure? Vermitteln die endoskopischen Kamerablicke eine private Authentizität, die das seltsame Vergnügen beschert, sich selbst in der Widerspiegelung des Anderen zu erfahren? Oder sind die Zuschauer lediglich Zoobesucher, die allenfalls den Unterschied zwischen Menschenkäfigen und natürlichen Lebensräumen ahnen können?
Die private Welt der zusammen gewürfelten "little brothers and sisters" existiert nur in den Medien und existiert sie nicht da, so existiert sie nirgendwo. Hier wird Authentizität von Endemol, dem niederländischen Garanten gefühlsechten Plastik-Entertainments, suggeriert, ohne je Zweifel zu wecken, dass die Bedingungen des Zusammenlebens einer Gruppe von zehn Spielfiguren aus 30.000 Bewerbern nicht artgerecht sind. Privatheit wird nur simuliert, um noch eine letzte Tabuzone entweihen zu können, wenn schon alle anderen Tabus so fragil geworden sind, dass ihre Verletzung immer weniger Chancen auf televisionäre Wiederkehr hat.
Einschlafquoten und digitale Medienkonkurrenz sind nämlich der Ausstrahler größte Gefahr und ständig wechseln daher die Formate des Nullmediums "Fernsehen", ohne je viel Format gezeigt zu haben. Das Privatfernsehen konkurriert - nomen est omen - mit dem öffentlich-rechtlichen Sendeauftrag nicht zuletzt dadurch, das Private nach außen zu kehren und öffentlich zur Schau zu stellen. So wurden etwa bereits in "Explosiv" oder "Verzeih mir" auch solche intimen Persönlichkeitsmomente hervorgekitzelt, die zuvor dem Konzept des politischen Aufklärungsmediums Fernsehen weit gehend verschlossen waren. In dieser kurzen Tradition des Strukturwandels eines Mediums präsentiert sich "Doku-Soap" als die neueste Wunderwaffe im Aufmerksamkeitsholocaust der Fernsehnachgeschichte.
Aber funktioniert diese Wunderwaffe? Michel Foucault hat demonstriert, dass Benthams Panopticon vielseitig einsetzbar ist. Es dient nicht nur die Besserung von Sträflingen, sondern auch der Heilung von Kranken, der Belehrung von Schülern, der Überwachung von Wahnsinnigen oder der Beaufsichtigung von Arbeitern. Es kann jede Funktion integrieren, selbst Mischsysteme konstituieren, in welchen Macht und Wissen in die zu kontrollierenden Prozesse einsickern. Diese Vielfalt des Panoptismus hat RTL II nun um eine Variante erweitert: das Panopticon der Unterhaltung. Das ist zwar keine allzu kühne Extrapolation der Ideen Benthams, wenn man bedenkt, dass das "Panoptikum" des Jahrmarkts schon zuvor nicht die geringste Attraktion Schaulustiger war. Aber zugleich verlässt diese Art des Entertainments nicht die weiterreichende Idee des Panopticons, die Macht in den Unterhaltungsfunktionen sublim wirken zu lassen, sie relativ unsichtbar zu machen, um desto mehr Macht auszuüben. So müssen die Big-Brother-Protagonisten Wochenaufgaben lösen, besonderes Sozialverhalten an den Tag legen, ja sogar vor der "Interrogationskamera" der TV-Inspekteure Rechenschaft über Gruppenprozesse und eigene Befindlichkeiten ablegen. Hier kombiniert sich der Panoptismus mit dem Prinzip einer elektronischen Ohrenbeichte, um auch noch jene Seelennischen aufzuspüren, die im Gespräch der Akteure verborgen werden könnten - und kein Ablassverkäufer in Sicht.
Kein Zweifel: Macht und Entertainment gehen seit je eine gute Ehe ein. Das belegen nicht nur die alt-römischen Spaßdimensionen des Gladiatorenkampfs, sondern auch historische Gesellschaften, die sich im Hinrichtungstourismus als prämoderne Erlebnisgesellschaften outeten. "Die Protagonisten können hier agieren wie Schauspieler auf einer Bühne" sagte nicht der Chef von RTL II Andorfer, sondern der Kölner Architekt Michael Bohm über den von ihm entworfenen Gefängnisbau in Gelsenkirchen-Feldmark.3 Und wie der moderne Strafvollzug der meisten Industrienationen keine Exekutionen mehr kennt, inszeniert RTL II die Hinrichtung der Kandidaten als "Extermination light". Hat doch Spaß gemacht? Dabei sein ist eben in Zeiten sportiven Entertainments alles, wenn auch kein kleiner Teil der Insassengespräche dem drohenden Fernsehtod gewidmet ist.
Benthams Panopticon basierte auf dem disziplinären Prinzip der Isolation der Beobachteten - und hier verlässt der elektronische Panoptismus der Unterhaltung diese Reformstätte der zwangsverordneten Moral zu Gunsten eines sozioemotiven Dampfkessels. Nach dem Ausscheidungsverfahren der "zehn kleinen Negerlein", die mit einem tedtödlichen Ende tödlich gelangweilter Voyeure rechnen müssen, wird hier eine Wartesaalarena inszeniert, die vor allem durch Anleihen an klassische "Encounter-Situationen" geprägt ist. Aber das dient nicht der weiland von Primärtherapeuten oder Seelengurus empfohlenen Läuterung kranker Zivilisationsseelen im Feuer des Kollektivs. In der Dauerhaft permanenter Beobachtung geht es nicht um Therapie, sondern der Psychodruck verhinderter Privatheit soll sich in pures Entertainment verwandeln.
Auch wenn die Hoffnungen auf dieses alchimistische Kunststück panoptischen Entertainments berechtigter sein mögen als die wenig erfolgreiche Verwandlung von Tand in Edelmetall, sitzen Sender und Selbstdarsteller nun in der Zwickmühle des Ringens um Aufmerksamkeit. Versagt ihre emotionale Korrektheit, die sich nach der populistischen Moral oder den unverhohlenen Katastrophenlüsten der Voter beurteilt, folgt das "Quotenaus". Daher müssen sich die Protagonisten selbst disziplinieren, sich smart bis medienkorrekt aufführen, weil anderenfalls ihre Hoffnung auf eine "Viertelstundenberühmtheit" in der Big-Brothers-Nachgeschichte enttäuscht würde. Andererseits gefährdet angepasstes Verhalten aber zugleich den Kampf um die Aufmerksamkeit. Verwandelt sich das Panopticon aber zum alt-römischen Unterhaltungs-Supergau, neben dem Abendbrot auch echte Spiele zu garantieren, droht gleichermaßen die Abseitsfalle, weil spätestens dann RTL II vom explosiven Dampfkesselprinzip eingezwängter Gefühle selbst eingeholt würde. Gladiatoren, die die Arena aufmischen, kann sich der Sender zuletzt leisten und daher hat man schon bei der Vorauswahl vorgebeugt: "Aggressive Menschen haben bei Big Brother keine Chance" versichert RTL II-Chef Andorfer. Schade eigentlich.
So stehen die Hühnerfütterer von RTL II, deren markanteste Züge Tattoos, Kettchen und ein teilweise gespielter sekundärer Analphabetismus sind, nun vor dem Gemeinschaftsklo, bestaunen publikumsgunstheischend eine Biomülltonne oder schnarchen vor laufender Infrarot-Kamera. Diese müde Schlüssellochlust wird vorläufig gekrönt von einer Protagonistin, die auf den Hinweis einer Mit- bzw. Gegenspielerin, ihr nacktes Gesäß sei der Fernsehnation ansichtig, mit dem unsterblichen Kommentar reagiert, dass die Rückenansicht doch nicht tragisch sei und sie überdies nicht wisse, wie sie sonst in die Dusche gelangen soll. Vielleicht gelangt sie so aber in die schnell zuschlagenden Aufmerksamskeitsfenster flüchtiger Zu- bzw. Wegschauer und ihre vermeintliche Hilflosigkeit im Zusammenleben mit Dutzenden von Kameras wäre doch nur pure Strategie gewesen.
Diese Television ist alles andere als visionär, weil das Publikum eben das geboten bekommt, was es erwartet, ohne je die Hoffnung aufzugeben, dass es hinter dem eigenen Erwartungshorizont weiter geht. Aber was erwartet das Publikum vom großen Bruder? Der große Bruder RTL II wird eben selbst beobachtet und anders als Orwells Big Brother oder Benthams Inspekteur kann er selbst zum Opfer des von ihm entfachten Panoptismus werden. So versucht er aus Gründen medialen Überlebens diesem seifenschäumenden Gewäsch bei unter 30 Grad ein bisschen Spannung herauszukitzeln, die auf alte Konditionierungen eines fernseherfahrenen Publikums Rücksicht nimmt.
Selbst die simulierte Privatheit muss in Zeiten der Wahrnehmungsbeschleunigung gefiltert werden, um das spektakelverwöhnte Publikum von der Fernbedienung des schlechten Geschmacks abzuhalten. So hat auch dieses Format seine Halbwertszeit, weil die Spannung der Intimitätsverletzung sich auf ein längst fragil gewordenes Tabu stützt. Auch der Panoptismus der Unterhaltung wird den wuchernden Lüsten einer Erlebnisgesellschaft nicht auf Dauer genügen, weil diese Gesellschaftsform, nicht anders als ihre ökonomische Variante, einem Fortschritts- und Überbietungsparadigma folgt, ohne je dadurch Jeremy Benthams Ideal der glückseligen Masse sehr viel näher gekommen zu sein.