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Parlamentswahl Russland

Bild Wladimir Putin: Kremlin.ru / CC-BY-4.0 / Grafik: TP

Frischer Wind, Parfüm-Partei oder Spoiler?

Russland wählt ein neues Parlament und wegen der politischen Stimmung genießen Parteien, die neu in die Duma einziehen könnten, große Aufmerksamkeit. Doch nicht alle machen unzweifelhaft ernste Politik und die, die es tun, werden mit teils merkwürdigen Methoden von den Behörden behindert.

Viel Interesse für neue Parteien wegen Unzufriedenheit

Noch vor der deutschen Bundestagswahl wird ein anderes landesweites Parlament gewählt - vom 17. bis 19. September bestimmen die Russen ihre neue Staatsduma. Die Vorzeichen von der allgemeinen Stimmungslage im Volk stehen dabei gar nicht so schlecht für frische Kräfte, neu den Einzug in das Parlament zu schaffen.

Fast jeder fünfte, der zur Wahl gehen will, will für eine Partei stimmen, die im Parlament noch nicht vertreten ist, fand das staatliche Umfrageinstitut WZIOM heraus [1]. WZIOM-Chef Walery Fedotow stellt entsprechend fest, dass bei den aktuellen Wahlen viel Interesse auf neue Parteien gerichtet ist.

Grund dafür sind unter anderem wirtschaftliche Faktoren im Land, die Unzufriedenheit produzieren. Die Inflation, die aktuell bei knapp sieben Prozent liegt [2], empfinden die meisten Russen als zu hoch [3]. Nur eine Minderheit im russischen Volk fühlt sich noch angesichts der finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Lage wohl. Das ermittelten Daten des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM [4], das nicht den Ruf besitzt, Dinge zu pessimistisch darzustellen.

Eine Alternative, die Änderung verspricht, stellen dabei die im Parlament bereits vertretenen Parteien der sogenannten "Systemopposition" nur eingeschränkt dar. Als handzahm gegenüber den Mächtigen in der Bürokratie gelten vor allem Schirinowskis LDPR und die Partei Gerechtes Russland, die neben den Kommunisten als einzige über eine Dumafraktion verfügen. Letztere versuchen noch am intensivsten ihr angepasstes Image loszuwerden und werden dafür mit einem aktuellen Umfragehoch belohnt [5].

Nur drei Parteien der zersplitterten Opposition haben Chancen

Das müsste normalerweise eine Chance auf Stimmengewinne für Parteien sein, die nicht im Ruf stehen, nur ein angepasstes Anhängsel der russischen Bürokratie zu sein. Doch die aktuell 19 Prozent Anhänger neuer Kräfte unter den Russen sind unter zahlreichen Bewegungen zersplittert und eine wirkliche Chance auf einen Einzug ins Parlament haben nur drei Parteien, die nicht alle für eine echte Erneuerung der politischen Landschaft in Russland stehen oder bei ihrem Wahlkampf zum Teil massiv behindert werden: Die sogenannten Nowy Ludi ("Neuen Leute"), die liberale Partei Jabloko und die Partei der Rentner.

Dass alle übrigen Kräfte eher unter ferner liefen marschieren (jeweils unter 2 Prozent in den Umfragen), liegt aber nicht unbedingt an staatlichen Repressionen. Zum einen sind sie oft in vielen Regionen der riesigen Russischen Föderation lokal kaum vertreten.

Zum anderen bieten sie oft auch keine überzeugenden Inhalte an. Forscher des Forschungsinstituts Minority Opinion Foundation untersuchten [6] die Wahlprogramme aller bei der Dumawahl antretenden Parteien bezüglich der abgedeckten Themen, ihrer Struktur und Begründungen enthaltener Vorschläge und kamen zu dem erschreckenden Ergebnis, dass die meisten dieser Programme sich inhaltlich selbst widersprechen, ihnen innere Logik und Struktur fehlen und sie mehr oder weniger nur existieren, weil das Gesetz ein solches Programm für eine kandidierende Partei vorschreibt.

Die "Neuen Leute" - ein Spoiler?

Eine Ausnahme bildeten dabei die besagten "Neuen Leute", die im Programmtest unter den kleineren Parteien eine Spitzenposition erreichten und bei denen der Neueinzug ins russische Parlament - auch dort gibt es eine Fünfprozenthürde - noch am wahrscheinlichsten ist. Das liegt an prominenten Initiatoren. Parteichef Alexei Netschajew ist erfolgreicher Präsident des russischen Kosmetikriesen Faberlic.

Die Verteilung von Duftwässerchen im Wahlkampf hat seiner Bewegung bei den Russen den Spitznamen "Parfüm-Partei [7]" eingebracht. Kleine Selbstständige und Wirtschaftsleute gehören zur Zielgruppe der Partei, für die es wirtschaftsliberal orientierte Forderungen - Stichwort "schlanker Staat" und Steuersenkungen - gibt.

Doch, ob die modern auftretenden "Neuen Leute" wirklich bei einem Parlamentseinzug neue Ideen in das russische Parlament bringen, ist zweifelhaft. Denn sie stehen im Verdacht, eine sogenannte "Spoilerpartei" zu sein, also eine von den Behörden inszenierte Kraft, die vor allem existiert, der echten Opposition Stimmen abzunehmen und nicht, um eigene Ziele zu verwirklichen.

Parteichef Netschajew ist selbst Mitglied von Putins "Allrussischer Volksfront", einer regierungsnahen, staatstragenden Bewegung aus dem Umfeld des Kreml. Dass seine "Neuen Leute" ins Parlament einzieht, war ursprünglich eventuell gar nicht geplant, berichten russische Zeitungen. Die Partei versuche angesichts ihres überraschenden Erfolgs sogar, sich eher wieder in eine Nischenposition zurückzuziehen [8], um der Regierungskraft "Einiges Russland" nicht zu viele Stimmen zu kosten.

Jabloko - Liberale mit Altlasten und Doppelgängern

Das müsste eigentlich für eine zweifelsfrei oppositionelle Partei wie die Liberalen von Jabloko (deutsch: "Apfel") eine gute Gelegenheit sein, sich in Szene zu setzen. Bis 2003 saßen ihre Vertreter auch noch in der Staatsduma, hatten aber damals schwer damit zu kämpfen, dass die Russen dem Liberalismus und seiner marktradikalen Wirtschaftspolitik zu Recht vorwerfen, am Wirtschaftschaos der 90er-Jahre mit schuld zu sein.

Jabloko präsentiert sich inzwischen als eher sozialliberale Bürgerrechtspartei und versucht mit einem erneuerten Team zwischen den angepassten Systemparteien und der Radikalopposition der Nawalny-Anhänger in der Mitte zu lavieren.

Doch Jabloko hat bei seinem Wahlkampf schwer mit staatlichen Repressionen zu kämpfen. So wurden bereits zahlreiche Kandidaten auf der Parteiliste von den Behörden wieder entfernt. Jabloko-Vorstandsmitglied Grigori Grischin spricht gegenüber der Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta [9] von einer Absicht des Kreml, die zur Wahl stehenden Demokraten zu minimieren, oft wegen Vorwürfen wie ausländischen Vermögenswerten - für Dumakandidaten verboten - oder der früheren Beteiligung an Aktionen der Nawalny-Bewegung - für Dumakandidaten ebenfalls tabu wegen deren zwischenzeitlicher offizieller Einstufung als "extremistisch".

Auch mit Spoilern hat Jabloko zu kämpfen, obwohl sie selbst zweifelsfrei keiner ist. Einen spektakulären Fall gibt es hier beim populären Jabloko-Kandidaten und Menschenrechtsaktivisten Boris Wischnewski in Sankt Petersburg.

Es nominierten sich zwei Gegenkandidaten, die zuvor ebenfalls ihren Namen in Boris Wischnewski änderten und sogar ihr Aussehen an das des Politikers anpassten [10] - mutmaßlich, um ihm Stimmen zu kosten. Einer davon ist ein Assistent des bekannten örtlichen Politikers der Regierungspartei "Einiges Russland", Sergej Solowjow [11]. Wischnewskis Anhänger protestierten gegen diesen Coup [12] in Form einer Demo mit Wischnewski-Masken.

Der Politiker ist kein Einzelfall - die Zeitung Kommersant zählte im Juli landesweit 20 solcher Doppelgänger-Kandidaturen [13]. Betroffen ist am häufigsten die Kommunistische Partei als stärkste parlamentarische Konkurrenz der Regierung.

Da auch andere Parteien von solchen "Säuberungen" ihrer Liste betroffen sind, hofft Jabloko, dass als Nebeneffekt die interne Konkurrenz zwischen den oppositionellen Kandidaten sinkt und die verbliebenen damit bessere Wahlchancen erhalten. Ob Jabloko eine großen Chance auf einen Einzug in die Duma hat - da sind die Meinungen gespalten.

WZIOM-Chef Fedotow sieht sie eher draußen, Jabloko-Vizechef Bolschakow bezweifelt in der Zeitung Kommersant [14] die Unabhängigkeit der Aussagen des staatlichen Forschungsinstituts, das bereits bei allen zurückliegenden Wahlen für Jabloko zu niedrige Stimmenzahlen vorhergesagt hätte. Eine gewisse Panik scheint bei Jabloko jedoch zu herrschen - in einer aktuellen Presseerklärung versprachen sie den Russen [15], drei Viertel ihrer Abgeordnetenbezüge wohltätigen Projekten spenden zu wollen.

Ältere Wähler gehen zur Urne - Chance für eine Rentnerpartei

Am unauffälligsten unter den möglichen neuen Parlamentskräften ist die Rentnerpartei. Sie profitiert davon, dass in Russland - wie in Deutschland - die Wahlbeteiligung in der älteren Generation am größten ist und existiert mit unterschiedlichen Bezeichnungen, die aber immer das Wort "Rentner" enthielten, bereits seit 1997.

Auffällig war sie bisher kaum, gilt aber als regierungsnah und unterstützte etwa 2012 bei den Präsidentschaftswahlen offen Putin [16]. Die Kommunisten sehen sie ebenfalls als Spoiler, doch anders als bei den "Neuen Leuten" gibt es für eine solche Eigenschaft wenig echte Belege, dafür aber für ihre relative Regierungsnähe.

Ob eine neue Partei in die Duma einziehen kann, hängt nicht zuletzt von der ordnungsgemäßen Durchführung der Wahlauszählung ab. Der Politologe Pawel Salin glaubt in der Zeitung Kommersant, dass die russischen Behörden in jedem Fall darauf abzielen, neue Parteien aus der Staatsduma herauszuhalten.

Dass diese Absicht, für die es ja viele Indizien gibt, nicht mit Mogeleien bei der Auszählung erreicht wird, dafür ist die Zentrale Wahlkommission unter der recht angesehenen Politikerin Ella Pamfilowa zuständig. Diese war zuvor Mitglied von Putins Menschenrechtsrat und viele Beobachter bescheinigen ihr den Willen zu einer fairen Wahldurchführung.

Ob sie das bis in die tiefe Provinz garantieren kann, muss sich zeigen, denn die viel kritisierte Kandidatenauslese ist laut russischen Experten [17] eine Angelegenheit unter bestimmendem Einfluss regionaler Behörden - oft Tausende Kilometer entfernt von Moskau.

Bei nachträglichen Zweifeln kann sich jedoch die westeuropäische Politikprominenz das übliche Protestgetöse sparen - denn die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat es laut einem Bericht der Moskauer Nesawisimaja Gaseta unterlassen, Wahlbeobachter zur Dumawahl zu schicken [18], obwohl die Möglichkeit bestanden hätte. 60 angebotene Beobachter waren dem Rat nicht genug gewesen - jetzt schickt er gar keine.


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https://www.heise.de/-6188826

Links in diesem Artikel:
[1] https://wciom.ru/analytical-reviews/analiticheskii-obzor/rezultaty-vyborov-v-gosdumu-2021-prognoz-vciom
[2] https://www.kommersant.ru/doc/4977404?query=%D0%98%D0%BD%D1%84%D0%BB%D1%8F%D1%86%D0%B8%D1%8F%20%20%D1%80%D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8%D1%8F
[3] https://wciom.ru/ratings/indeksy-vosprijatija-infljacii
[4] https://wciom.ru/ratings/indeksy-socialnogo-samochuvstvija
[5] https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Kommunisten-Aufschwung-dank-Kandidatenausschluss-6171403.html
[6] https://www.rbc.ru/newspaper/2021/09/07/6134c1909a7947d026c6de49
[7] https://vestnikburi.com/novye-lyudi-partiya-lzhi-i-pustyh-obeshhanij/
[8] https://openmedia.io/news/n3/novyx-lyudej-poprosili-otdoxnut-partii-nechaeva-pomeshayut-poluchit-krupnuyu-frakciyu-po-itogam-vyborov-gosdumy/
[9] https://www.ng.ru/politics/2021-09-08/1_8246_voting.html
[10] https://twitter.com/igelfanger/status/1435668441529307138?s=21
[11] http://www.assembly.spb.ru/authors/show/635506477
[12] https://polit.ru/news/2021/09/09/2vish/?utm_source=yxnews&utm_medium=desktop&utm_referrer=https%3A%2F%2Fyandex.ru%2Fnews%2Fsearch%3Ftext%3D
[13] https://www.kommersant.ru/doc/4910820
[14] https://www.kommersant.ru/doc/4977450?from=four_strana
[15] https://www.ng.ru/politics/2021-09-07/3_8245_europe.html
[16] https://www.newsru.com/russia/29feb2012/pensionery.html
[17] https://www.ng.ru/politics/2021-09-08/1_8246_voting.html
[18] https://www.ng.ru/politics/2021-09-07/3_8245_europe.html