"Partei des Hasses gekoschert"
Michel Friedman über die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Österreich und Deutschland, die Rolle der vierten Generation sowie eine unlauter verwandte Parole.
Wenige Tage vor den Gedenktagen zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa Anfang dieser Woche hat das österreichische Parlament am vergangenen Freitag bereits der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand das ehemalige Konzentrationslager Gusen östlich von Linz, deren Gebäude heute eine Gedenkstätte beherbergen.
In Anwesenheit der Abgeordneten diskutierten Experten aus Österreich, Israel und Deutschland über die veränderte Erinnerung an die Verbrechen des Hitler-Regimes.
Eingeladen war auch der deutsch-französische Jurist, Philosoph und Publizist Michel Friedman. Er habe lange überlegt, sagte er im Gespräch mit der österreichischen Moderatorin Rebecca Salzer, ob er die Einladung nach Wien annehmen solle. Dafür habe gesprochen, dass es Millionen Österreicherinnen und Österreicher – vor allem der jüngeren Generation – gebe, die sich der Geschichte stellen und sich für die Demokratie einsetzen, so der in Deutschland vor allem durch seine publizistische Arbeit bekannte Friedman.
Telepolis dokumentiert das Eingangsstatement Friedmans und die Fragen der Moderatorin Salzer. Eine Videoaufzeichnung der gesamten Veranstaltung sehen Sie hier.
Michel Friedmann, Sie sind Jurist, Philosoph, Publizist, Autor, Moderator und jüdischer Abstammung. Sie kennen alle diese Initiativen und auch Gedenkstätten. Was ist denn für Sie das Wichtigste am Gedenken? Gibt es etwas, das Ihnen fehlt – auch, weil sie jüdischer Abstammung sind – an diesen Gedenkstätten?
Michel Friedman: Dazu kommt, dass meine gesamte Familie außer meiner Mutter, meinem Vater, meiner Großmutter – seligen Angedenkens –, weil sie auf Schindlers Liste waren, umgebracht wurden. Und erlauben Sie mir deswegen eine sehr schüchterne, bevor ich da noch drauf zurückkomme, schüchterne Bemerkung: Ich habe mir lange überlegt, ob ich die Einladung annehme.
Und ich will Ihnen auch begründen, warum.
Ich habe ein großes Unbehagen: Auf der einen Seite, und deswegen habe ich zugesagt, gibt es Millionen von Österreicherinnen und Österreichern, die sich auf den Weg gemacht haben, auf jeden Fall die jüngeren, sich nicht nur der Geschichte zu stellen, sondern sich auch damit der Demokratie engagiert zu stellen.
Die Demokratie, wie wir sie nach dem Dritten Reich definiert haben, lebt auch von den Menschenrechten, von dem Verbot der Diskriminierung, von der Würde des Menschen.
Der Schriftsteller George Tabori hat einmal gesagt: Jeder ist jemand. Und ich finde das eine wunderbare Übersetzung einer juristischen Sprache in eine kulturelle.
Jeder ist jemand.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass in diesem Parlament, demokratisch gewählt, was die Partei aber noch nicht zu einer demokratischen macht, eben die Würde des Menschen nicht von allen Menschen respektiert wird, dass hier Menschen diskriminiert werden von dieser Partei, und dass diese Partei sagt: Einige Menschen sind niemand. Jedenfalls Menschen zweiter und dritte Klasse.
Ich muss diesen Wermutstropfen in dieser sehr ehrwürdigen Besprechung einsetzen, weil wir ja die Zeugen unserer Zeit sind und weil wir – Gott sei Dank – nicht am Endpunkt sind. Aber ich zitiere Ihre Worte: "Wehret den Anfängen."
Vor 20 Jahren hatte ich die Ehre, als Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses auf dem Heldenplatz zu sprechen. Eine halbe Million Österreicher an Österreicherinnen versammelten sich, um zu verhindern, dass diese Partei des Hasses gekoschert wird durch die Partei, die auch sitzt und zweimal mit dieser Partei koaliert hat: nämlich die ÖVP.
Wenn wir also ernsthaft von "Wehret den Anfängen" reden, wenn wir darüber reden – und das nehme auf –, dass in einem Parlament der Respekt zwischen allen Meinungen zu herrschen hat, dann frage ich mich als Philosoph: Ist Hass eine Meinung oder ausschließlich Gewalt?
Und was mache ich denn mit Abgeordneten, die zwar das für sich beanspruchen, aber gleichzeitig den Respekt anderen Menschen nicht zubilligen?
Das sind Fragen, die man sich, glaube ich, außerhalb von Machtpolitik – und das gilt für alle demokratischen Parteien in diesem Haus – stellen muss, wenn man eine solche Veranstaltung macht und glaubwürdig sein will. Denn man hört uns ja zu.
Und Moral und Doppelmoral sind zwar Zwillingsphänomene, aber wir müssen aufpassen, wenn wir über Erinnerung reden – jetzt bin ich bei Ihnen –, dass, wenn wir die Erinnerung als Zeugen unserer Zeit nehmen, wir uns auch gegenseitig anschauen.
Und Wahlkämpfe, die eindeutigen mit rassistischen Narrativen bespielt werden, und bei denen die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird; Wahlkämpfe, wo Menschen gegeneinander aufgehetzt werden, sind die Realität unserer Zeit mit einer Partei, die dafür nicht nur gewählt und damit belohnt wird. Das ist das Problem, von dem wir reden.
Sie sprachen von zehn Prozent manifestem Judenhass und 30 Prozent latentem. Das gilt für viele Gruppen, die, wenn eben das Diskriminierungsverbot die Zivilisation der Gegenwart erzählt, betroffen werden durch den Hass.
Also, wenn ich Erinnerungskultur ernst nehme, dann erwarte ich, dass dieses Haus glaubwürdiger ist als es ist.
Herr Friedman, das war jetzt eine sehr explizite Meinungsäußerung. Sie haben eben gesagt, Sie fühlen gewisses Unbehagen, wenn Sie hier sind. Warum haben Sie dann entschieden, hierherzukommen?
Michel Friedman: Ich will das noch einmal sagen: Millionen haben sich auf den Weg gemacht. Und natürlich gibt es auch politische Entscheidungen, die damit zu tun haben, dass man so eine Gedenkstätte heute möglich macht. Aber Friede, Freude, Eierkuchen herrscht deswegen noch lange nicht. Noch lange nicht! Auch in diesem Land nicht!
Und um das in diesem Parlament zu machen, ist es mir als Demokrat und Parlamentarier die höchste Ehre, Ihnen, die sie Antidemokraten sind, das ins Gesicht zu sagen.
Das war eine explizite Meinungsäußerung, eine eindeutige Botschaft, ich habe das schon gesagt. Aber haben Sie noch andere Botschaften auch zu diesem Initiativen, zum Beispiel, die wird jetzt gerade besprochen haben? Der Beteiligungsprozess in Gusen etwa, ob das sinnvoll ist, ob sie die Initiativen ….
Michel Friedman: Ja, das ist die Motivation. Vielleicht muss man noch einen Gedanken aussprechen: Der Antisemitismus ist ein Phänomen, das sich in der ganzen Welt breitgemacht hat. Und das muss man noch sagen: Aber die Deutschen haben Auschwitz erfunden. Und dann kamen sie in einige Länder, wo sie mit mehr Herzlichkeit begrüßt wurden, und in einige mit weniger. Dieses Land gehört zu denen, die es mit mehr Herzlichkeit begrüßt haben.
Wo sind denn die vielen Nachbarn aufgestanden – jetzt komme ich zu "Wehret den Anfängen" –, die gesehen haben, dass man jüdische Nachbarn abholt, oder die Lehrer und Lehrerinnen, die gesehen haben, dass man die jüdischen Kinder abgeholt hat, wenn sie sich selbst denunziert haben.
Also, die Beteiligung von vielen Menschen, die Verstrickungen schon am Anfang. Nicht nur, was die Vorliebe für Hitler war. Sondern dieser Judenhass, der auch hier traditionell existierte, explodierte und machte bei nicht wenigen Menschen eine barbarische Beteiligung an Aktionen möglich, die nach dem Krieg mit einer weißen Tapete und Legenden kollektiv verstopft wurden.
Und natürlich mussten die Repräsentanten auch von Regierungen und Parlamenten darauf achtgeben, ein Teil von Ihnen gehört übrigens dazu.
Aber im Jahr 2023 ist die Situation in diesem Land eine deutlich andere. Es gibt eine jüngere Generation, aber auch eine große politische Bewegung, die ich ausdrücklich begrüße und stärke, und deswegen können wir auch mehr an die Wahrheit gehen, an den Grundschmerz: Was haben die Großeltern und Urgroßeltern getan? Warum haben sie mit ihren Kindern nicht gesprochen? Denn die können wiederum mit den Enkelkindern nicht reden.
Und deswegen auch da jetzt vielleicht eine etwas radikale These: Es gibt keine Erinnerungskultur dort, die wissenschaftlich als Grundstandard währt, wenn, wie Aleida Assmann gesagt hat, kein kommunikatives Gedächtnis stattfindet.
Denn das ist eigentlich das, was wir Erinnerungskultur nennen: Die Großeltern erzählen es den Kindern, die Kinder den Enkelkindern – und irgendwann wird es das kollektive, gesellschaftliche Gedächtnis.
Nur, wenn ich mir die Gedächtniserzählungen in Deutschland, aber auch hier anhöre, dann bin ich froh, wenn das hoffentlich nicht das kollektive, kulturelle Gedächtnis werden wird.
Und ich glaube, dass es die vierte Generation ist, die hier die große Chance hat, jetzt zu sagen: Vielleicht müssen wir die erste sein, die anfängt.
Und die zu stärken, die Jugend, die sich auf diesen Weg macht, und die damit bewusst Demokraten sein wollen, das ist unsere Aufgabe.
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