Pillen und Patente
Die Regeln der Welthandelsordnung beeinträchtigen die Arzneimittelversorgung der Entwicklungsländer, den großen Pharma-Konzernen bieten sie eine komfortable Möglichkeit, hohe Preise weltweit zu realisieren.
Die Hoffnung auf eine Erweiterung ihres Außenhandels bringt Entwicklungsländer dazu, sich der Welthandelsorganisation anzuschließen. Doch im selben Zug müssen sie auch das »Abkommen über handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums« (Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS) unterzeichnen, das hohe Schutzstandards für geistiges Eigentum setzt. Für die Pharma-Industrie ist das ein bequemer Weg, globale Patente durchzusetzen. Für die Entwicklungsländer wiederum, werden dadurch viele Medikamente unbezahlbar. Katja Seefeldt schlägt sich durch das Unterholz internationaler Handelsabkommen und den Preis, den diese für den Schutz des Lebens in armen Ländern aufwerfen.
Das TRIPS-Abkommen und die WTO
Im April 1994 wurde in Marrakesch ein hübsches Bündel geschnürt, das seine Wirkung allmählich entfaltet: die GATT-Verträge. Sie führten zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO). Teil des Vertragspakets ist das »Abkommen über handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums« (Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS), das hohe Schutzstandards für geistiges Eigentum setzt. Dazu enthält TRIPS detaillierte Verfahrensrichtlinien zur Durchsetzung dieser Rechte und unterwirft die WTO-Mitglieder in Streitfällen dem WTO-Streitschlichtungsverfahren. Die Ausnahmen zu diesem Schutz sind vage formuliert und mit vielen Bedingungen versehen, denn insgesamt betont das Abkommen den Schutz geistigen Eigentums stärker als dessen Grenzen.
Das TRIPS-Abkommen strebt eine Rechtsangleichung im Bereich des geistigen Eigentumsschutzes an, was vor allem von den Entwicklungsländern eine erhebliche Verschärfung ihrer Gesetzgebung fordert. Für Patente im pharmazeutischen Bereich müssen die Mitgliedsstaaten eine Schutzfrist von 20 Jahren akzeptieren, eine Forderung, welche die ohnehin chronische medizinische Unterversorgung der Entwicklungsländer mit einiger Sicherheit weiter befördern wird.
Bislang haben die meisten Länder der Dritten Welt keine Patente für Arzneimittel anerkannt oder höchstens den viel unspezifischeren Verfahrensschutz. Deshalb konnten z. B. lokale Firmen neue Arzneimittel herstellen und zu günstigeren Preisen anbieten. Jetzt sollen sie in ihrem Patentrecht den sehr viel weitreichenderen Stoffschutz verankern, der dem wilden Abkupfern von Medikamenten einen Riegel vorschiebt.
Geringer Patentschutz - billige Medikamente
Durch das Ignorieren von Patenten und das Erzeugen von Imitaten patentgeschützter Medikamente (Generika), haben es Länder wie z. B. Indien, Thailand, Argentinien und Brasilien geschafft, eine florierende Pharmaproduktion mit aufzubauen, von deren Billigpräparaten die medizinische Versorgung in vielen Entwicklungsländern abhängt. Im Fall von Indien spielte dabei gerade das Patentrecht eine wichtige Rolle. Seit 1970 gilt dort ein Gesetz, nach dem für Medikamente keine Stoff- sondern Prozesspatente erteilt werden, die bereits nach sieben Jahren verfallen. Importprodukte genießen keinen Patentschutz. Außerdem wurde parallel eine Preisbindung eingeführt.
Die Produktion von Generika hat in Indien eine Arzneimittelindustrie wachsen lassen, die kurz vor der internationalen Wettbewerbsfähigkeit steht und amerikanischen und europäischen Pharmariesen schon lang ein Dorn im Auge ist. Die Umsetzung des TRIPS-Abkommens bedeutet für das »Zentrum der Produktpiraterie« eine bittere Pille: Bis zum 1.1.2005 muss Indien sein Patentrecht den WTO-Standards anpassen. Bereits während dieser Frist muss es Anträge zur Produktpatentierung entgegennehmen und dem Antragsteller für fünf Jahre exklusive Verkaufsrechte garantieren. Vielen indischen Firmen geht da die Luft aus. Für hohe Lizenzgebühren fehlt ihnen das Kapital.
Nach Angaben der BUKO-Pharma-Kampagne besitzen nur fünf Länder der Dritten Welt eine eigene innovative Pharma-Industrie, weitere acht eine produzierende. Alle diese nicht von den multinationalen Konzernen abhängigen Pharmafirmen sind durch das TRIPS-Abkommen bedroht. Länder wie Äthiopien, das über keine eigene Pharmaproduktion verfügt, werden es unter den verschärften Gegebenheiten wohl nie schaffen, eine aufzubauen.
Mehr Monopolschutz für die Multis
Den internationalen Pharmasektor kennzeichnet eine krasse monopolistische Struktur: Er wird von wenigen multinationalen Unternehmen dominiert und durch einen starken Patentschutz gestützt. Ein Patent ist eine feine Sache für seinen Inhaber. Es garantiert ihm ein konkurrenzloses Vertriebsmonopol mit freier Preisbestimmung, das um so lukrativer ist, je länger der Patentschutz dauert. Außerdem kann er selbst bestimmen, wo er sein Produkt anbietet. Das hat gravierende Folgen. Weil die zahlungskräftige Kundschaft in den Industrieländern sitzt, richtet sich die Forschung der Konzerne an deren Bedürfnissen aus: Von 1.393 Medikamenten, die von 1975 bis 1999 (vgl. Weltweiter Patentschutz für pharmazeutische Innovationen: Gibt es sozialverträgliche Alternativen?) weltweit zugelassen wurden, waren beispielsweise nur 13 speziell für die Behandlung von tropischen Krankheiten entwickelt. Das Interesse nach Therapiemöglichkeiten für weltweit verbreitete Krankheiten zu suchen, die auch unter den Bedingungen der Entwicklungsländer effektiv und kostengünstig einsetzbar sind, ist gering. Viele bereits vorhandene wichtige Medikamente für Tropenkrankheiten werden nicht mehr produziert, weil sie nicht genügend Gewinn versprechen.
Ein im Jahr 2000 durchgeführter globaler Vergleich von Arzneimittelpreisen der Hilfsorganisation Health Action International (HAI) hat ergeben, dass die großen Pharmakonzerne eine völlig undurchsichtige, geradezu abenteuerliche Preispolitik betreiben. Die Verkaufspreise für dasselbe Präparat können je nach Land um mehrere hundert Prozent schwanken. Verlässlich ist dabei nur eines: in den Entwicklungsländern sind Medikamente am teuersten. Die Spitzenplätze halten Südamerika und Afrika. Am größten ist das Preisgefälle bei Originalpräparaten, am einheitlichsten bei Generika.
Patentschutz und damit verbunden hohe Medikamentenpreise etablieren einen Teufelskreis, der vielen Menschen den Zugang zu lebensnotwendigen Arzneien versperrt. Nach Angaben der Studie »Priced out of Reach« der Organisation Oxfam sterben jährlich zwei Millionen Kinder an Lungenentzündung, fast alle in Entwicklungsländern, darunter auch Kenia. Ein optimales Heilmittel ist das Pfizer-Antibiotikum Azithromycin (Zithromax), das jedoch in Kenia unter Patentschutz ist und mehr kostet als etwa in Norwegen. Doch während in Kenia jährlich pro Kopf 17 Dollar für Gesundheit ausgeben kann, sind es in Norwegen 2.300 Dollar. Kenia darf das generische Äquivalent nicht aus Indien importieren, wo der Preis nur ein Fünftel beträgt. Und Indien kann Azithromycin auch nur produzieren, weil das TRIPS-Abkommen noch nicht vollständig umgesetzt ist.
David gegen Goliath
Doch das Elend, das die Immunschwäche Aids weltweit hervorgerufen hat, hat den Widerstand gegen die Gewinninteressen der Pharmamultis wachsen lassen. Wie bei keiner anderen Krankheit wird hier sichtbar, wie teurer Patentschutz Millionen Menschen dem Elend überlässt. Die zurzeit bestmögliche Langzeitbehandlung von Aids-Kranken kann nur mit patentgeschützten Medikamenten durchgeführt werden und kostet in den Industrieländern zwischen 10.000 und 15.000 Dollar pro Jahr. Nach Angaben des Aids-Updates für 2001 der UNAID gibt es weltweit 40 Millionen Infizierte, davon leben 90 Prozent in Entwicklungsländern. Für sie sind die solche Kosten definitiv unerschwinglich. Auch gelegentliche karitative Gesten der Großkonzerne sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Selbst Preissenkungen für Aids-Langzeitherapien auf 800 bis 1.000 Dollar pro Jahr, wie sie Boehringer Ingelheim offerierte, laufen ins Leere, weil in vielen afrikanischen Ländern das jährliche Pro-Kopf-Einkommen nicht einmal der Hälfte davon beträgt.
In Südafrika, dem mit 4,7 Millionen Infizierten am stärksten von der Immunschwäche betroffenen Land, kam es daher im Frühjahr 2001 zum offenen Streit um den Preis patentgeschützter Aids-Medikamente: 39 große Pharmahersteller klagten gegen ein Gesetz, mit dem die südafrikanische Regierung den Import billiger Imitate patentgeschützer Aids-Medikamente legalisieren wollte. Im Vorfeld des Aids-Gipfels in Durban gerieten die Kläger jedoch so unter öffentlichen Druck, dass sie die Klage zurückzogen.
Kompromissloser hatte sich ab 1996 schon Brasilien gezeigt und ein Programm aufgelegt, mit dem Arzneimittel kostenlos an Kranke verteilt werden. Da Brasilien die westlichen Preise nicht bezahlen kann, wurde noch ein weiteres Gesetz verabschiedet, das Patentinhaber verpflichtet, ihre Medikamente binnen drei Jahren in Brasilien herzustellen, andernfalls verfällt ihr Patent und die heimischen Hersteller dürfen es kopieren. Brasilien hat dafür massive Repressalien seitens der Pharma-Konzerne und vor allem der USA erfahren, doch es hat sich gelohnt: Das Programm hat die Aids-Todesrate um mehr als 50 Prozent gesenkt. Wäre das TRIPS-Abkommen früher geschlossen worden, hätte Brasilien generische Aids-Medikamente nicht gratis verteilen können.
Brasilien und Südafrika wurden für ihre Initiativen heftig angegriffen, obwohl sie eigentlich nichts unternommen hatten, was auch nach dem TRIPS-Abkommen bei Gesundheitsnotständen erlaubt ist. Dazu gehören die Möglichkeit von Parallelimporten, also die Einfuhr kostengünstiger Präparate aus Drittländern, oder die Zwangslizenzierung, die kostengünstige Herstellung im eigenen Land. Doch leider sind die entsprechenden Regeln sehr schwammig formuliert, dazu fürchten viele Länder - nicht zu Unrecht - Wirtschaftssanktionen, denn auch IWF-Kredite sind immer mit Bedingungen verknüpft.
Teilerfolg in Doha
Einen kleinen Teilerfolg konnten die Entwicklungsländer im vergangenen November in Doha bei der WTO-Ministerkonferenz erzielen. Gegen den Widerstand der Schweiz, Japans, der USA, Australiens und Neuseelands konnten sie zumindest erreichen, dass der Gesundheit künftig der Vorrang vor kommerziellen Interessen eingeräumt wird. Es wurde ausdrücklich präzisiert, dass Regierungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit das Recht haben, Zwangslizenzen zu vergeben und die Bedingungen dafür selber zu bestimmen. Das heißt, sie dürfen den Patentschutz außer Kraft setzen und unentbehrliche Arzneimittel generisch nachproduzieren. Auch Parallelimporte sind gestattet. In diesen Fällen wieder den Patentschutz hoch zu halten, wäre allerdings zu offensichtlich unglaubwürdig gewesen, denn angesichts der Milzbrandfälle in den USA konnte die ganze Welt mitverfolgen, wie vehement die amerikanische und auch die kanadische Regierung bereit waren, den Ciprobay-Patentschutz von Bayer mit einer Zwangslizenz auszuhebeln, um billige generische Äquivalente ausgerechnet aus Indien zu importieren.
Auch die Fristen der ärmsten Länder (Least Developed Countries) zur Implementierung von TRIPS wurden bis 2016 verlängert. Es soll nicht mehr möglich sein, Länder vor den WTO-Schlichtungsgremien zu verklagen, wenn sie Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ergreifen. Damit wird es den Industrienationen erschwert, etwa Strafzölle zu verhängen, damit ein Land solche Maßnahmen nicht ergreift. Dies ist allerdings nur eine Soll-Regelung.
Ein wichtiger Punkt bleibt umstritten. Nämlich, ob Länder zwangslizenzierte Medikamente importieren dürfen oder nicht. Dies betrifft die Mehrheit der Entwicklungsländern, die keine eigene Pharmaindustrie besitzen. Sie sind auf Importe angewiesen, um die bitterarme Bevölkerung mit unentbehrlichen Lebensmitteln versorgen zu können. Die Klärung dieses Punktes bis zur nächsten Ministerkonferenz werden allerdings viele betroffene Kranke nicht erleben.
Die Pharma-Industrie verweist gern darauf, dass es viele wichtige Medikamente gibt, deren Patent schon abgelaufen ist. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die Länder der Dritten Welt werden in Zukunft womöglich noch stärker auf patentierte Arzneimittel angewiesen sein. Denn es gibt zunehmend Resistenzen gegen bekannte Medikamente, etwa bei Antibiotika und Malariamitteln. Für viele Krankheiten, die in den südlichen Ländern häufig sind, gibt es immer noch keine befriedigende Therapie und es treten immer wieder neue Krankheiten auf. Die dagegen wichtigen neuen Medikamente entstehen mit Sicherheit in den Labors der Industrienationen, ausgestattet mit dem bestmöglichen Patentschutz.
Patentschutz global
Ein internationaler Patentschutz ist auch anders zu haben, etwa über ein Weltpatent. Seit 1970 besteht nämlich über das Patent Cooperation Treaty (PCT) die Möglichkeit einer Weltanmeldung. Doch dieser Weg ist umständlich und sehr teuer. Das raffinierte, ja perfide am TRIPS-Abkommen ist, dass der Patentschutz mit einem Wirtschaftsabkommen verknüpft ist, von dem viele Länder sich Vorteile erhofften, etwa verbesserte Exportmöglichkeiten bei Textil- und Agrarprodukten. Doch der angebliche Freihandel ist ohne TRIPS nicht zu haben. Das Abkommen ist Teil der GATT-Verträge, die beim Beitritt zur WTO komplett akzeptiert werden müssen. Für die Pharmamultis ist TRIPS dagegen ein komfortabler und billiger Weg, den internationalen Schutz ihres geistigen Eigentums durchzusetzen. Die Organisation Oxfam registriert schon seit einigen Jahren, dass die Industrienationen Wirtschaftsabkommen zunehmend mit Patentstandards verknüpfen. Das Free Trade Area of the Americas (FTAA) ist so ein Fall oder auch das US-Jordanische Handelsabkommen. Eine europäische Variante der Forcierung des Patentschutzes ist das SPC-Zertifikat (Supplementary Protection Certificate), mit dem die Patentlaufzeit für ein Medikament um fünf Jahre verlängert werden kann.
Geistige Eigentumsrechte bleiben auch in Zukunft Machtfragen. Doch es kann nicht angehen, dass der Patentschutz höher steht als menschliches Leben. Die Politik sollte einen multilateralen Ordnungsrahmen bereitstellen, der zu einem tragbaren Ergebnis auch für die Menschen in den Entwicklungsländern führt.