Polarisierung in der Pandemie: "Neue Regierung sollte Gesprächsfaden wiederherstellen"
Seite 2: Komplexes Pandemiegeschehen trifft auf komplexe Gesellschaft
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Weshalb aber, denken Sie, lassen sich keine sicheren Prognosen zur Impfkampagne treffen?
Matthias Schrappe: Aus einem ganz einfachen Grund: Es gibt keine komplexere gesellschaftliche Intervention als eine Impfkampagne. Wie wir es gemerkt haben, es geht nicht nur um einen Piks, sondern es treten Lieferschwierigkeiten auf, die Präparate konkurrieren gegeneinander, es treten Nebenwirkungen auf, es bilden sich differierende Meinungen und Haltungen – wie das zuletzt bezüglich des Impfstoffs von Moderna zu beobachten war.
Und diese Intervention trifft ein so komplexes Gebilde wie eine ganze Gesellschaft, die auch bei anderen Fragen, nehmen wir das Beispiel Besteuerung, nicht einheitlich reagiert.
In der Versorgungsforschung nennen wir das die "doppelte Komplexität" von Intervention und Kontext. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es hier anders als bei der "Epidemie" des Herzinfarktes, manchmal wird dieser Begriff ja hier verwendet, mit einem übertragbaren Infektionserreger zu tun haben, der sich auch noch verändern kann. Herzinfarkte sind nun mal nicht ansteckend und mutieren nicht.
Wie erklären Sie sich dann aber die Fokussierung auf die Impfungen und - damit einhergehend - die Ungeimpften?
Matthias Schrappe: Man muss es ganz klar sagen: Impfung ist gut, aber die ausschließliche Konzentration auf die Impfung als einzige gezielte Präventionsmaßnahme ist ein Armutszeugnis. Die vor der Impfkampagne fehlende Fokussierung auf die vulnerablen Gruppen, insbesondere die Älteren, ist uns ja bei Beginn der Impfkampagne sofort auf die Füße gefallen.
Denken Sie nur an die elenden Diskussionen um die Impfpriorisierung. Und jetzt sind wir bei den flankierenden nicht-pharmakologischen Maßnahmen schon wieder im Niemandsland der Vorstellungskraft angelangt.
Stattdessen werden globale Maßnahmen diskutiert – lieber sperrt man alle ein, als dass man sich überlegt, wo ein Eingreifen besonders Not täte.
Infektionen bei Kindern zu sammeln, ist ja gut, aber das ist nicht der Schwerpunkt der Entwicklung. Wir haben eine Krise, und da muss man seine Kräfte dort einsetzen, wo der Handlungsdruck am höchsten ist.
In einem letzten Thesenpapier, das Sie mit Kolleginnen und Kollegen verfasst haben, bezeichnen Sie die Pandemie als komplexes System, dem mit Einzelmaßnahmen nicht beizukommen ist. Wie aber dann?
Matthias Schrappe: Komplexe Systeme, das ist die Grundeinsicht, sind weder durch Kraftparolen noch durch einzelne Messwerte zu charakterisieren und zu steuern. Komplexe Systeme muss man aus vielen Perspektiven betrachten, man muss sozusagen ein Netz aufspannen, um das Verhalten eines komplexen Systems kennenzulernen - und man kann es kennenlernen. Aber man muss sich von denjenigen fernhalten, die schon immer alles besser gewusst haben.
Im Unterricht verwendete ich immer das Bild des Sees: einen Stein reinwerfen und warten, in welcher Form die Wellen zurückkommen. Das ist das probate Mittel gezielter Einzelinterventionen, aus denen man lernt, aus denen man Schlüsse zieht.
Aber seit der unseligen Diskussion über die Bundesnotbremse im Frühjahr haben wir uns ja völlig von der Generierung solcher Erfahrungen zurückgezogen und tun so, als entwickele sich die Epidemie wie eine Gesamteinheit im ganzen Land überall gleich.
Dezentrale Experimentierklauseln aber sind eine wichtige Lösung. Eine kompetente Führung ruft dazu auf und ermutigt. Auch wenn sich mal negative Folgen zeigen würden, kommt man insgesamt durch diese Erfahrungen weiter und kann Leben retten.