Polarisierung in der Pandemie: "Neue Regierung sollte Gesprächsfaden wiederherstellen"
Seite 3: Warum Ansagen von oben in der Pandemie nicht weiterhelfen
- Polarisierung in der Pandemie: "Neue Regierung sollte Gesprächsfaden wiederherstellen"
- Komplexes Pandemiegeschehen trifft auf komplexe Gesellschaft
- Warum Ansagen von oben in der Pandemie nicht weiterhelfen
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Inwieweit, denken Sie, scheitern die Politik und die gesellschaftliche Psyche an dieser Komplexität?
Matthias Schrappe: Die Versuchung eines "Durchregierens" ist zu groß. Unsere Gesellschaft ist anders als zu Zeiten Robert Kochs, in denen bürokratische Systeme zur Seuchenbekämpfung noch ein großer Fortschritt waren.
Heute stehen wir – wie zuvor erwähnt – einem hochkomplexen System gegenüber, das nicht mehr allein durch "klare Ansage" zu regieren ist. Und jetzt bietet sich plötzlich die Chance, es doch zu versuchen. Und dann kommt die Verführung hinzu, das Thema im politischen Machtkampf zu nutzen. Nachdenken und überlegen - das ist doch Verschwendung von Zeit, die uns im Kampf fehlt!
Eine große deutsche Partei ist dabei so weit gegangen, dass sie sich eine Niederlage im Bundestagswahlkampf eingehandelt hat, aber schauen Sie, wie wenig dies thematisiert wird. Die breitbeinigen Großsprecher haben immer noch Konjunktur.
Daher auch die Angriffe gegen die Ständige Impfkommission und auch Ihre Gruppe?
Matthias Schrappe: Das ist reine Wissenschaftsfeindlichkeit. Hinzu kommt auch grundsätzlich eine zunehmende Diffamierung des intellektuellen Diskurses. Es heißt immer wieder, zu viel Nachdenken schadet nur, sei ein Zeichen von Schwäche.
Die größten Fortschritte der letzten Jahrzehnte, etwa die Entwicklung der Methodik der evidenzbasierten Medizin zur Bewertung und Sichtung des vorhandenen Wissensstandes, sind bereits schwer beschädigt worden. Wir werden noch lange mit den Nachwirkungen zu tun haben.
Sie waren Mitte Mai in einem Positionspapier der These einer Überlastung der Intensivstationen entgegengetreten und hatten heftigen Gegenwind bekommen. Wenig später bestätigte der Bundesrechnungshof ihre Thesen. Was war da geschehen?
Matthias Schrappe: Wir haben das zentrale Narrativ zerstört, dem zufolge man sich mit dem Lockdown zufriedengeben solle, weil man sonst vor den Intensivstationen ersticken würde.
Wir haben schlicht nachgewiesen, dass die Mittel zur Unterstützung der Krankenhäuser gar nicht bei den Ärzten und Pflegenden vor Ort, also im Behandlungszusammenhang, angekommen sind, sondern zur Verschönerung der Bilanzen und Dividendenzahlungen verwendet wurden.
Es wurden Intensivbetten bezuschusst, die nie aufgestellt wurden, und plötzlich kam es zu einem Pflegekräftemangel - ohne dass aus der politischen Führung entschieden gegengesteuert worden wäre.
Es wäre eine gute Option gewesen, statt mit hängenden Schultern die neuen Zahlenanstiege zu verkünden, eine konzertierte Nationale Pflegekampagne ins Leben zu rufen. Wertschätzung!
Statt knapp 35.000 Intensivbetten, heute sind es 22.000, hätte man 45.000 bei einer solchen Notlage aufstellen müssen. Wo war der Appell? Wo war der politische Wille? Und wenn man so etwas zum Ausdruck bringt, dann gibt es halt Gegenwind. Der Bundesrechnungshof hat das alles dann noch viel deutlicher gesagt.
Beim ZDF verteidigte man die Kritik an Ihrer Arbeit später mit dem Argument, es habe "methodische Mängel" gegeben. Was würden Sie heute anders machen?
Matthias Schrappe: Es kann immer mal einen Fehler geben. Wir haben eine einzige Zahl falsch berechnet und haben das schon nach 24 Stunden korrigiert. Wir sind Ehrenamtler, wir haben eben keine Institute hinter uns, die eine Kampagne tragen, und niemand ist absolut fehlerfrei.
Warum denken Sie, werden sich Polarisierung, Ausgrenzung und eine toxische Debattenkultur nachhaltig auf Medizin, Wissenschaft allgemein und Gesellschaft auswirken?
Matthias Schrappe: Wir sehen einen großen Backlash hin zu einem linearen und "einfachen" Denken. Da dieser Rückfall auf mehreren Gebieten gleichzeitig auftritt – hierzu haben wir in Thesenpapier 8 ein ganzes Kapitel zur "politischen Theorie der Epidemie" verfasst – besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich dieses überholte Topdown-Konzept für eine Zeitlang stabilisiert.
Es hat natürlich keine Zukunft, denn eine Gesellschaft ist heute nicht mehr von oben nach unten zu organisieren. Aber bis dahin können enorme Schäden auftreten.
Ich komme nochmals auf die Impfgegner zurück: wenn man eine Bevölkerungsgruppe dermaßen ins Abseits stellt, dann bewirkt das ein Auseinanderdriften, das für die Gesamtgesellschaft nicht gut sein kann.
Natürlich stellt sich bei den "Guten", und dies sind im Innenbild ja immer beide Gruppen, zunächst eine Beruhigung, eine autosuggestive Bestärkung ein. Aber auf Dauer ist dies Gift für jede Gesellschaft.
Matthias Schrappe ist emeritierter Professor für Innere Medizin. Von 2007 bis 2011 war er stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung im Gesundheitswesen.