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Politik und Plagiatsaffären

Bild Franziska Giffey: Martin Kraft / CC-BY-SA 3.0

Vom Sinn und Unsinn der Doktorarbeit nach Franziska Giffey

Nach Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und Annette Schavan (CDU) trat kürzlich mit Franziska Giffey (SPD) schon die dritte Bundesministerin im Zusammenhang mit einer Plagiatsaffäre von ihrem Amt zurück. Ursula von der Leyen (CDU) behielt 2016 ihren Dr. med. und blieb bis 2019 Verteidigungsministerin, obwohl auch in ihrer Doktorarbeit zahlreiche Fehler gefunden wurden. Die zuständige Prüfungskommission stellte keine Täuschungsabsicht fest.

Die Häufung dieser - und weiterer weniger prominenter - Negativbeispiele wirft die Frage auf, wie es um den Doktorgrad in Deutschland bestellt ist. Im deutschsprachigen Raum hat man ohnehin ein besonderes Verhältnis dazu: Tatsächlich unterscheidet man hier über 60 verschiedene Doktoren [1], wo man sich im Ausland meist mit einem breiten PhD (Doctor of Philosophy) begnügt. Hintergrund: Früher hieß alles, was nicht zu den drei klassischen Fakultäten Medizin, Recht und Theologie gehörte, schlicht: Philosophie.

Eine weitere Besonderheit ist, sich den akademischen Grad in den Personalausweis oder Reisepass eintragen zu lassen. Das mag bei manchen das Missverständnis aufkommen lassen, es handle sich nicht nur um einen Namenszusatz, sondern man heiße dann wirklich Frau oder Herr Doktor Soundso. Natürlich wollen viele dann auch so angesprochen werden. Dabei handelt es sich meiner Meinung nach vor allem um eine Höflichkeitsfloskel.

In Österreich weitet man das sogar auf den Magisterabschluss aus. Das könnte man allerdings auch konsequent nennen. Schließlich ist das auch ein akademischer Abschluss, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Dazu zwingen, einen so zu nennen, wird man im deutschsprachigen Raum aber wohl niemanden können.

Wofür steht der Doktor?

Mit der Doktorarbeit weist man nach, ein größeres wissenschaftliches Projekt eigenständig und auf hohem Niveau bearbeiten zu können. Eine Ausnahme hiervon ist allerdings der Dr. med., der sich meiner Einschätzung nach meistens eher auf dem Niveau einer Diplom-/Magister-/Masterarbeit befindet. Man darf aber nicht unerwähnt lassen, dass die Ausbildung zur Ärztin/zum Arzt mir ihren harten Klausuren und staatlichen Prüfungen sehr anspruchsvoll ist. Der Doktor fürs Namensschild ist dann vielleicht mehr das Tüpfelchen auf dem i.

Anstatt einer umfassenden Monografie ist es heute in vielen Fächern üblicher geworden, mehrere Einzelarbeiten in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen und sie dann mit einer Einleitung und Schlussfolgerung zu einem Ganzen zu schreiben, genannt "kumulative" Dissertation. Damit hat man auch gleich mehrere Publikationen im Lebenslauf stehen, anstatt eines dicken Buches, für dessen Lektüre ohnehin wenige Zeit haben.

In manchen Disziplinen mag aber die Monografie nach wie vor das Maß der Dinge sein. Dann schaut man wahrscheinlich auch auf das Renommee der Betreuer und des Verlags, der das Buch herausgibt. Ein Schelm, wer sich hier mit einem satten Druckkostenzuschuss in einen renommierten Verlag einkauft - und dann hinterher behauptet, das Renommee des Verlags stehe für die Qualität der eigenen Arbeit.

Von Doktormüttern und -vätern

Die Sache mit den Betreuern ist ebenfalls im deutschsprachigen Raum anders gelagert: Die Doktormütter und -Väter sind nämlich oft die wichtigsten Gutachter der Arbeit. Dann beurteilt man eigentlich nicht nur seinen akademischen Nachwuchs, sondern auch seine eigene Betreuungsarbeit. Das gilt bei genauerem Nachdenken natürlich für sehr viele Lehrer-Schüler-Beziehungen.

Wenn dann als einziges externes Gutachten noch jemand aus dem engeren Kollegen- beziehungsweise Bekanntenkreis hinzukommt, darf man schon an der Unabhängigkeit des Verfahrens zweifeln. Das kann sich für die Promovierenden übrigens sowohl positiv als auch negativ auswirken, wenn man beispielsweise die wissenschaftliche Leistung der Betreuer kritisiert. Natürlich würde niemand seine Gutachter vornehmlich zitieren, um deren wissenschaftlichen Beitrag hervorzuheben und damit milde zu stimmen. Wie jeder weiß, sind Wissenschaftler nämlich völlig objektiv und über Schmeicheleien erhaben.

Im Ausland hingegen sind die Betreuer in der Regel zwar auch formal am Promotionsverfahren beteiligt. Die eigentliche Gutachtertätigkeit übernimmt aber ein separates Gremium, in dem Doktorväter und -mütter gerade nicht vertreten sind. Hier wird mehr Wert auf Unabhängigkeit gelegt.

Dass man mit den sogenannten Graduiertenschulen nach und nach internationale Standards übernimmt, spricht aber zumindest für zunehmende Kontrolle. Dort sind die Promotionsprogramme nämlich meist strukturierter und transparenter. Noch die eine oder andere Fortbildung zu bekommen, wie es dann üblich ist, kann sicher auch nicht schaden.

Erlesener Kreis

Die Sendung "Der Tag" [2] von hr2 Kultur beschäftigte sich am 21. Mai mit dem Thema. Ich war an der Sendung beteiligt. Die zum Teil relativierenden Äußerungen anderer Teilnehmer über die Bedeutung des Doktors kann ich so aber nicht bestätigen. Das liegt meiner Meinung schon an seiner Sonderstellung.

Laut Centrum für Hochschulentwicklung gab es im Jahr 2017 rund 28.000 abgeschlossene Promotionen [3], von denen die Mediziner mit rund 6.000 die größte Gruppe stellten. Dabei war die Promotionsquote in den Fächern Biologie, Chemie und Physik am höchsten (rund 86 bis 64 Prozent) und in Jura, BWL und Architektur am niedrigsten (rund 13 bis 6 Prozent).

Statista berichtete im selben Jahr zum Teil erhebliche Unterschiede bei den Einstiegsgehältern [4]: Selbst in den eher bescheiden bezahlten Geisteswissenschaften verdienten Doktorinnen und Doktoren im Schnitt rund 17 Prozent mehr als Einsteiger mit Masterabschluss.

Mit über € 30.000 pro Jahr gab es den größten Gehaltsunterschied im Fach Jura, wo man mit Doktorgrad satte 74 Prozent mehr verdiente. (Es kann natürlich in einigen Subdisziplinen, man denke vielleicht an Wirtschaftsinformatik oder Wirtschaftsingenieurwesen, noch größere Unterschiede geben, die in den allgemeinen Gruppen weniger auffallen.)

Auch unter Parlamentariern mit ihren üppigen Diäten sind Hochschulabschlüsse keine Seltenheit: Rund 17 Prozent [5] haben hier laut Forschung & Lehre einen Doktor - das entspricht in der Gesamtbevölkerung ziemlich genau dem Anteil aller Hochschulabschlüsse (also Bachelor, Master, Diplom, und so weiter). Deren knapp 18 Prozent stehen knapp 82 Prozent unter Parlamentariern gegenüber.

Man nehme dazu noch die soziale Ungleichheit im deutschen Bildungswesen, und es kommt eine sehr schiefe Chancenverteilung heraus. Von Kindern aus Akademikerfamilien erreichen 77 Prozent einen Hochschulzugang, in anderen Familien gerade einmal 23 Prozent (Wie sich ein Akademiker ein ungerechtes System zurechtbiegt [6]).

Auf einen Doktoranden aus einer bildungsfernen Familie kommen am Ende satte zehn aus einer bildungsnahen [7]. Das sind 900 Prozent mehr! Zum Vergleich: Dass Männer im Schnitt bei gleicher Tätigkeit sechs Prozent mehr verdienen als Frauen, halten viele für eine große Ungerechtigkeit.

Strategische Doktoren

Wie viel Kapital einem ein Doktor für die politische Laufbahn bringt, kann wahrscheinlich niemand genau sagen. Die Indizien sprechen aber deutlich dafür. Überhaupt habe ich regelmäßig den Eindruck, dass die wahrgenommene Glaubwürdigkeit im deutschsprachigen Raum damit einhergeht, wie viele Zusätze vor dem Namen stehen. Die wegen Täuschungen aufgeflogenen Politikerinnen und Politiker leisten hier unfreiwillig Aufklärungsarbeit, dass dem nicht so ist.

Ein Kernproblem sind hier meiner Meinung nach die sogenannten "strategischen Doktoren". Das sind diejenigen, die nie beabsichtigen, ernsthaft in der Wissenschaft zu arbeiten, sondern schlicht für das Namensschild oder die Karriere promovieren. Natürlich kann man das nicht immer vorhersagen und jeder weiß, dass es sehr viel mehr Promovierende als feste Stellen in der Wissenschaft gibt.

Ehrlicherweise muss man wohl auch einräumen, dass Doktoranden oft billige Arbeitskräfte in hochqualifizierten und spezialisierten Bereichen sind, die sich (noch) nicht gut durch Maschinen/Roboter automatisieren lassen. Der Doktor ist dann gewissermaßen symbolisches Kapital, für das man schlechtere Arbeitsbedingungen in Kauf nimmt. Jedenfalls eine Zeit lang. Wie wir gesehen haben, zahlt sich das danach im Schnitt in barer Münze aus. Das Prinzip "guter Lohn für gute Arbeit" sollte aber für alle gelten.

Da schlechte Betreuung eine häufige Klage von Promovierenden ist, könnte man sich überlegen, ob man für diejenigen, die von vorneherein nicht ernsthaft in der Wissenschaft arbeiten wollen, überhaupt Ressourcen aufbringen sollte. Immerhin geht es hier auch um die Verwendung von Steuermitteln. Die Politiker, die jetzt beim Täuschen erwischt wurden, haben meines Wissens mehrheitlich so einen "strategischen Doktor" gemacht.

Schauen wir uns nun am Ende den Fall Giffey noch einmal genauer an.

Der Fall Giffey

Die SPD-Ministerin schien die Plagiatsaffäre schon überstanden zu haben, als ihr die Freie Universität Berlin im Oktober 2019 nur eine Rüge erteilte. Danach wurde die Kritik - aus Hochschulkreisen, Politik und Medien - am Prüfungsverfahren aber immer lauter.

Ein gravierender Einwand war, dass Giffeys Doktormutter, die Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel, als Vorsitzende des Promotionsausschusses die Prüfungskommission selbst zusammenstellte. Als Betreuerin war sie in der Sache natürlich befangen.

Damit hat die Akademikerin meiner Meinung nach weder sich selbst noch ihrer Universität einen Gefallen getan: Für mich ist das dann auch der viel größere Skandal, als dass eine Politikerin in ihrer Doktorarbeit abgeschrieben hat. Gerade die Wissenschaft sollte in Sachen Unabhängigkeit und Transparenz der Gesellschaft ein Vorbild sein, nicht umgekehrt.

Interessenkonflikte im Gutachterwesen halte ich ohnehin für ein großes und noch zu oft unterschätztes Problem (Warum die Wissenschaft nicht frei ist [8]). Dabei gibt der Rechtsstaat doch ganz klar vor: Entscheidungen müssen nachvollziehbar, öffentlich einsehbar und unabhängig sein. Auch hier sei noch einmal daran erinnert, dass die allermeisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Steuermitteln bezahlt werden.

Dass bei Forschungsskandalen meist jüngere Akademiker beharrlich auf Probleme hinweisen müssen, während sich die Etablierten in Schweigen hüllen, wirft auch kein gutes Licht auf das System. Ich schrieb hier beispielsweise über die Fälle Marc Hausers [9], Niels Birbaumers [10] und Hans-Ulrich Wittchens [11], die sich in dieser Hinsicht ähnelten.

Flucht nach vorne

Franziska Giffey scheint nun ihre Hausaufgaben gemacht zu haben: Zwar konnte sie in ihrer Doktorarbeit nicht richtig zitieren, doch ihre Karriere will sie nun mit einer Flucht nach vorne retten. Sie konnte schließlich von zu Guttenberg und Schavan lernen, wie man es nicht machen darf. Also "verzichtete" sie erst auf ihren Doktor, was formal gar nicht geht; und als sich das Ende des zweiten Untersuchungsausschusses näherte, bot sie den Rücktritt an.

Auch das riecht wieder nach Klüngel und strategischem Taktieren: Denn der offizielle Bericht war da noch gar nicht veröffentlicht. Es gab also - außer vorauseilender Deeskalation? - noch gar keinen formalen Anlass für einen Rücktritt. Giffeys Parteikollege Michael Müller, der Regierende Bürgermeister Berlins, dessen Nachfolge die SPD-Frau bald antreten will, setzt noch einen darauf: Im Morgenmagazin von ARD und ZDF sagte er, Frau Giffey spiele mit offenen Karten [12].

Das angesichts der Faktenlage ein gewaltiger Spin: Eine Spitzenpolitikerin täuscht massiv in ihrer Dissertation und führt den Doktor dann auch jahrelang. Sie wird wissen, was es ihr gebracht hat. Ihre Doktormutter regelt im Krisenfall eine garantiert neutrale Prüfungskommission. Diese kommt im Endergebnis auf eine Rüge, die es formal gar nicht gibt.

Und auch nach Installation der zweiten Prüfungskommission, diesmal ohne Schützenhilfe, braucht die Ministerin noch ein gutes halbes Jahr, um sich darauf zu besinnen, dass ihre Täuschung nicht mit dem hohen öffentlichen Amt vereinbar ist.

Dieses Vorgehen offenbart einen massiven Werteverfall in der Partei, die traditionell mit dem Spruch "Aufstieg durch Bildung" Wahlkampf macht und den Armen der Gesellschaft ihr unmenschliches "Fördern und Fordern" aufdrückt. Das eigene Personal macht hingegen mit dem "Aufstieg durch Verblendung" vor, wie man wirklich in die Spitzenpositionen kommt. Und kurz bevor man es nicht mehr leugnen kann, jazzt man es zur Schicksalswahl:

Ganz bescheiden mögen nun Berlins Wählerinnen und Wähler bestimmen, wie es mit der Plagiatspolitikerin weitergeht. Diese spiele immerhin mit offenen Karten. Asche auf ihr Haupt. Tatsächlich hat sie lange getäuscht und an ihrer Täuschung auch festgehalten, bis sie sich nicht länger vertuschen ließ.

Für die SPD, um deren Beliebtheit es zurzeit ohnehin schlecht bestellt ist, stellt das kein geringes Risiko dar. Da wird sich wohl auf die Schnelle keine Alternative gefunden haben. Das bedeutendere Risiko sehe ich aber für die Wissenschaft: Wenn Giffey jetzt mit Erfolg vormacht, wie man Täuschungsmanöver auf der Karriereleiter später geradebiegt, dann werden ihr das andere wohl nachmachen.

Tja, was für einen Sinn hätte so ein Doktor dann noch?

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" [13] des Autors.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6055318

Links in diesem Artikel:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Doktor#Deutschland_2
[2] https://www.hr2.de/programm/der-tag/index.html
[3] https://www.che.de/2019/biologie-hat-die-hoechste-promotionsquote-aller-faecher/
[4] https://de.statista.com/infografik/11181/lohnt-sich-der-doktortitel/
[5] https://www.forschung-und-lehre.de/politik/mehr-als-80-prozent-akademiker-im-bundestag-1861/
[6] https://www.heise.de/tp/features/Wie-sich-ein-Akademiker-ein-ungerechtes-System-zurechtbiegt-3399565.html
[7] https://scilogs.spektrum.de/wissenschaftssystem/herausforderung-bildungschancen/
[8] https://www.heise.de/tp/features/Warum-die-Wissenschaft-nicht-frei-ist-3852317.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Unmoralischer-Moralforscher-3386685.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/System-Logik-Der-Fall-Professor-Birbaumers-4443390.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Nehmen-psychische-Stoerungen-zu-5997704.html
[12] https://www.tagesschau.de/inland/giffey-225.html
[13] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/