Unmoralischer Moralforscher?
Ein Forschungsskandal um den Primatologen und Moralpsychologen Marc Hauser erschüttert die Harvard Universität
Evolutionsbiologie und Primatologie haben in den vergangenen Jahrzehnten einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis menschlicher Denkfähigkeiten beigetragen. Insbesondere durch die Untersuchung bestimmter Entsprechungen oder Vorformen von unter anderem der Sprachfähigkeit, mathematischen Fertigkeiten oder auch Moralverhalten wurden Mensch und Tier einander unter dieser Perspektive ein gutes Stück näher gebracht. Der Harvard-Professor Marc Hauser hat in den letzten Jahrzehnten einen entscheidenden Beitrag zu dieser Forschung geliefert. Ein nun bekannt gewordener Skandal wissenschaftlichen Fehlverhaltens bringt aber nicht nur Hausers eigene Untersuchungen in Verruf, sondern könnte womöglich auf das gesamte Forschungsgebiet abfärben. Die Verschwiegenheit der Harvard Universität sowie betroffener Regierungsstellen macht die Situation nicht einfacher. Durch anonyme Berichte sind jetzt erste Details des Fehlverhaltens bekannt geworden.
Dass Charles Darwin in seiner Untersuchung über die Abstammung des Menschen unsere evolutionären Wurzeln auf Affen zurückgeführt hat, bezeichnet man manchmal neben der kopernikanischen und freudschen als eine der drei großen Kränkungen der Wissenschaft. Der Vorstellung des Menschen als Krone der Schöpfung im Zentrum des Universums und Herr im Haus der eigenen Seele schienen die revolutionären wissenschaftlichen Funde zu widersprechen. Noch heute ist es ein spannendes Forschungsthema, ob herausragende menschliche Fähigkeiten einzigartig sind oder eine Entsprechung beziehungsweise einen Vorläufer im Tierreich besitzen. Zu dieser Arbeit hat über mehrere Jahrzehnte Marc Hauser beigetragen, ein 50-jähriger Psychologieprofessor, bekannter Wissenschaftskommunikator und Direktor des Laboratoriums für Kognitive Evolution an der angesehenen Harvard Universität.
Sein beeindruckender akademischer Lebenslauf zeigt, dass er das mit großem Erfolg getan hat. So wurde unter seiner Beteiligung allein in den letzten vier Jahren rund jeden Monat eine Arbeit in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht. Zudem hat Hauser in mehreren populärwissenschaftlichen Büchern der Allgemeinheit Themen der Evolutionsbiologie und -psychologie näher gebracht. In deutscher Übersetzung erschien 2001 „Wilde Intelligenz. Was Tiere wirklich denken“ (C. H. Beck). Sein 2006 erschienenes Buch über die Evolution der Moral, „Moral Minds. How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong“ (Ecco), ist weltweit ein großer Erfolg gewesen. Dieser beeindruckende Lebenslauf ist nun durch einen Wissenschaftsskandal befleckt, über den zuerst der Boston Globe am 10. August berichtete.
Politik der Vertuschung
Obwohl sich unter Wissenschaftlern schon seit Jahren Gerüchte über ein wissenschaftliches Fehlverhalten Hausers verbreitet hatten, drang der Sachverhalt erst mit dieser Meldung an die Öffentlichkeit. Nachdem bereits 2007 eine interne Untersuchung an der Universität eingeleitet worden war, bei der man Computer aus Hausers Arbeitsgruppe beschlagnahmt hatte, wurde nun eine 2002 in der Zeitschrift Cognition veröffentlichte Arbeit Rule learning by cotton-top tamarins zurückgezogen. In der Email an den Herausgeber hieß es ohne weitere Erklärung, die Daten würden nicht die berichteten Ergebnisse stützen und Marc Hauser übernehme dafür die Verantwortung. In der Veröffentlichung hatten er und seine Kollegen behauptet, bei Affen der Gattung der Tamarine Hinweise auf eine womöglich zentrale Fähigkeit fürs Sprachverstehen gefunden zu haben. In dem Experiment hatten die Forscher den Affen nach bestimmten Mustern Lautfolgen vorgespielt und beobachtet, ob die Tiere beim Wechsel der Muster zum Lautsprecher schauten. Taten sie dies, so ging man davon aus, dass sie diese Muster unterscheiden konnten. Dies war zuvor bei menschlichen Babys beobachtet worden.
Neben dieser Arbeit sind zwei weitere Publikationen betroffen, die beide im Jahr 2007 in Science und den Proceedings of the Royal Society B erschienen sind. Im Gegensatz zu der Arbeit in Cognition haben die Autoren in der Zwischenzeit an die jeweiligen Herausgeber Daten übermittelt, welche die ursprünglichen Schlussfolgerungen bestätigen würden. Die Proceedings haben im Juli eine Ergänzung zu der Originalarbeit veröffentlicht, bei Science steht eine endgültige Entscheidung noch aus. Die nachgelieferten Daten befinden sich laut einer Sprecherin der Zeitschrift noch bei wissenschaftlichen Gutachtern. Beide Veröffentlichungen haben zum Gegenstand, dass verschiedene Gattungen von Primaten menschliche Gesten wie das Zeigen auf versteckte Nahrungsmittel verstehen können. Auch hierbei handelt es sich um eine Fähigkeit, die man allgemein als spezifisch menschlich ansah.
Kurz nach dem Bericht des Boston Globe haben auch die Wissenschaftszeitschriften Nature und Science in ihren Ausgaben vom 19. beziehungsweise 20. August auf jeweils zwei Seiten über den Forschungsskandal berichtet, dem Fall also eine große Bedeutung beigemessen. Auf Anfragen der Journalisten nach einer Stellungnahme habe der Harvard-Professor nicht reagiert. Auch die Universität hülle sich in Schweigen und verweigere die Herausgabe von Details mit einem Verweis auf den Datenschutz. Da Hauser auch Forschungsgelder aus öffentlichen Mitteln erhalten hatte, musste der interne Untersuchungsbericht an die US-amerikanische National Science Foundation sowie die National Institutes of Health übermittelt werden. Auch dort wollte man Details zu dem Fall weder bestätigen noch verneinen.
In den beiden Berichten kommen daher einige Forscher zu Wort, die sich über diese Informationspolitik beschweren. So ärgert sich beispielsweise Michael Tomasello, Direktor am Max Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, über das Schweigen. Man schütze zwar die Rechte Hausers und der Universität. Was sei aber mit den Wissenschaftlern, die auf demselben Gebiet forschen und ein berechtigtes Interesse an der Frage haben, welchen Arbeiten sie nun noch glauben schenken können und welchen nicht? Der bekannte Primatologe Frans de Waal, Professor an der Emory Universität in Atlanta, fürchtet gar negative Konsequenzen für das gesamte Forschungsfeld. Wenn in so einem spezialisierten und überschaubaren Gebiet ein prominenter Forscher unter Verdacht gerate, würde das schnell auf die Kollegen abfärben.
Bittere Konsequenzen
Marc Hauser ist inzwischen für ein Jahr von seinem universitären Dienst beurlaubt. Auf Email-Anfragen folgt nun eine automatisierte Antwort, er arbeite intensiv an seinem folgenden Buch, „Evilicious: Explaining Our Evolved Taste for Being Bad“, das sich also wieder einem Moralthema widmet. Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, hat die Tageszeitung der Universität, The Harvard Crimson, am 21. August den offiziellen Brief des zuständigen Dekans veröffentlicht. Darin ist von acht Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens die Rede, welche die interne Untersuchungskommission habe nachweisen können. Im Gegensatz zu den drei bereits erwähnten Studien hätten die anderen fünf Fälle jedoch keine Auswirkungen auf wissenschaftliche Publikationen gehabt. Entweder seien die Ergebnisse nicht publiziert oder die Probleme vor der Veröffentlichung behoben worden.
Zur genaueren Art des Fehlverhaltens gibt der Dekan keine Auskunft. Lediglich allgemein ist von Problemen bei der Erhebung, Auswertung und Aufbewahrung von Daten die Rede sowie beim Bericht der Forschungsmethoden und Ergebnisse – also eigentlich fast jedem Schritt wissenschaftlichen Arbeitens. Auch zu den von der Universität gegen Hauser verhängten Sanktionen gibt er keine genaue Auskunft, da diese Information vertraulich sei. Wissenschaftliches Fehlverhalten sehe aber unter anderem die Möglichkeiten vor, einen Akademiker zu beurlauben, seine Forschungsarbeit unter Aufsicht zu stellen oder verschiedene Privilegien wie das Betreuen von wissenschaftlichem Nachwuchs oder Beantragen von Forschungsgeldern einzuschränken. Insbesondere der Zusammenhang mit den öffentlichen Förderinstitutionen könnte für Hauser noch ein ernstes juristisches Nachspiel haben. Der Dekan hat in seinem Brief jedenfalls schon die Kooperationswilligkeit mit der zuständigen Staatsanwaltschaft des Bezirks Massachusetts zum Ausdruck gebracht.
Ein Bericht eines früheren Forschungsassistenten Hausers, der dem Chronicle of Higher Education vorgelegt wurde, trägt jedoch etwas zur Aufklärung bei. Der damals junge Forscher, der lieber anonym bleiben möchte, schildert darin Details zu einem Experiment mit Rhesusaffen, welches an die in Cognition erschienene Arbeit mit den wechselnden Lautmustern erinnert. Dafür hätte Hauser selbst sowie ein Forschungsassistent das Videomaterial daraufhin untersucht, wann die Affen zum Lautsprecher schauten. Als ein zweiter Assistent die Daten des ersten analysierte, habe sich aber kein Hinweis auf einen Zusammenhang mit den wechselnden Mustern ergeben. Tatsächlich hätten die Tiere häufiger zum Lautsprecher geschaut, als sich die Laute nicht veränderten. Analysierte er jedoch Hausers Auswertung, dann hätten die Daten einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen den veränderten Lautfolgen und dem Blickverhalten der Affen gezeigt.
Dieser zweite Assistent habe daraufhin den Professor auf die Unstimmigkeit hingewiesen und vorgeschlagen, man solle einen dritten Forscher die Originaldaten noch einmal auswerten lassen. Dieser Empfehlung habe sich auch ein Doktorand aus der Gruppe angeschlossen. Hauser habe jedoch gegen den Vorschlag argumentiert und den jungen Forschern in einer Email geschrieben, sie sollten mit den Daten so weitermachen, wie er sie ausgewertet habe. Diese Email-Korrespondenz liegt nun dem Chronicle vor. Nach einigem Hin und Her habe der Professor schließlich geschrieben: „i am getting a bit pissed here. there were no inconsistencies!“ (Deutsch etwa: „Mich kotzt das allmählich an. Es gab keine Unstimmigkeiten!“)
Der Assistent und der Doktorand hätten sich mit dieser Antwort aber nicht zufriedengegeben und schließlich ohne die Zustimmung Hausers die Videoaufnahmen unabhängig voneinander noch einmal selbst ausgewertet. In Übereinstimmung mit den Beobachtungen des ersten Forschungsassistenten habe sich dabei kein Zusammenhang zwischen den Lautfolgen und der Reaktion der Affen feststellen lassen. Hausers Auswertung habe hingegen kaum mit dem übereingestimmt, was sie in den Videos gesehen hätten. Wenn der Professor beispielsweise notiert habe, dass sich ein Affe zum Lautsprecher gedreht habe, habe das Tier noch nicht einmal gezuckt. Daher schließt der Nachwuchsforscher gegenüber dem Chronicle aus, dass es sich um einen simplen Interpretationsfehler handeln könne. Als sich dieses Problem herumgesprochen habe, hätten zudem auch andere Mitglieder der Forschungsgruppe von ähnlichen Erfahrungen mit ihrem Chef berichtet. Schließlich hätten sich einige von ihnen an den Ombudsmann der Universität gewandt und sei der Fall auf dem Schreibtisch des Dekans gelandet, der die weitere Untersuchung eingeleitet habe.
Schwieriges Feld
In mehreren Berichten über den Forschungsskandal meldete sich auch Gordon Gallup zu Wort, ein Psychologieprofessor an der State University of New York in Albany. Gallup hatte 1970 einen Test entwickelt, mit dem überprüft werden sollte, ob sich ein Tier im Spiegel selbst erkennen kann. Dies sei aber allein bei Menschenaffen beobachtet worden. Bei vielen anderen Affenarten habe Gallup mit dem Test keinen Erfolg gehabt. Daher habe er nicht schlecht gestaunt, als Marc Hauser und Kollegen 1995 in den angesehenen Proceedings of the National Academy of Sciences der USA (PNAS) eine Arbeit veröffentlichte, derzufolge Tamarine den Spiegeltest bestanden hätten. Als ihm Hauser endlich das Videomaterial zur Kontrolle ausgehändigt habe, habe Gallup es kaum glauben können. Es habe nicht die geringste Verbindung zwischen den Aufzeichnungen und den Behauptungen der wissenschaftlichen Publikation bestanden. Hauser habe daraufhin mit seinen Kollegen das Experiment mit den Tamarinen wiederholt und in einer 2001 im American Journal of Primatology veröffentlichten Arbeit im Widerspruch zur früheren Publikation berichtet, die Affen könnten sich im Spiegel nicht selbst erkennen. Dennoch sei die Originalarbeit in PNAS nie zurückgezogen und bis heute sogar ganze 40 Mal von anderen Forschern zitiert worden, die gescheiterte Replikation aber nur zehnmal.
Angesichts dieser Berichte stellt sich nicht nur die Frage nach der Moral des Moralforschers, sondern könnten tatsächlich Frans de Waals Befürchtungen wahr werden, dass das gesamte Forschungsfeld in Mitleidenschaft gezogen wird. So äußerte sich auch der Verhaltensbiologe Dario Maestripieri von der University of Chicago in Illinois zurückhaltend zur Forschungsarbeit dieser Art. Diese Untersuchungen seien sehr abhängig von subjektiven Interpretationen und es sei sehr schwierig, aus dem Verhalten auf das Denken der Tiere zu schließen. Dafür gebe es keine harten Beweise. Die geschilderten Vorfälle lassen es aber unwahrscheinlich erscheinen, dass es sich bei dem wissenschaftlichen Fehlverhalten Marc Hausers bloß um einen derartigen Interpretationsfehler gehandelt haben könnte.