Nehmen psychische Störungen zu?
Warum die Thesen des Epidemiologen Frank Jacobi von der Psychologischen Hochschule Berlin fragwürdig sind. Ein Kommentar
Da ist sie wieder, die Frage aller Fragen zur psychischen Gesundheit: "Nehmen psychische Krankheiten zu?" Gestellt wird sie diesmal in der Märzausgabe der Zeitschrift Gehirn&Geist, worauf der Psychologieprofessor Frank Jacobi antwortet.1
Zunächst einmal: Man spricht besser gar nicht von psychischer Krankheit, sondern von psychischen Störungen. "Krankheit" suggeriert, man könne die Krankheitsentitäten klar voneinander abtrennen und wüsste viel über ihre Ursachen, wie in der somatischen Medizin. Beides trifft aber auf psychisches Leiden nicht zu. Darum: psychische Störungen. Manche sprechen auch von "Syndromen", um die Vielschichtigkeit und fließenden Grenzen zu betonen.
Das ist nicht nur ein sprachlicher Punkt. Denn wenn man etwas misst und Aussagen darüber treffen will, ob das Gemessene im Laufe der Zeit ab- oder zunimmt, dann muss man genau wissen, was man misst. Ansonsten kann man allenfalls so tun, als ob man die Frage beantworte.
Kommen wir nun zu Jacobis Antwort, der, das bestreite ich gar nicht, das Beste tut, was nach den Regeln seines Fachs üblich ist. Er schreibt:
Epidemiologische Feldstudien, die die Verbreitung psychischer Störungen in der deutschen Bevölkerung untersuchen, sprechen nicht dafür, dass psychische Störungen vermehrt um sich greifen. Sie finden relativ konstant eine Prävalenz von 20 bis 30 Prozent […]. In solchen groß angelegten Untersuchungen werden bei einer umfangreichen Stichprobe, die die Bevölkerung in wichtigen Merkmalen abbildet, psychische Symptome anhand gängiger Diagnosekriterien abgefragt.
Frank Jacobi, Gehirn&Geist 3/2021
So weit so gut. Wir wollen hier aber auch nicht die international maßgebliche Studie zur psychischen Gesundheit in Europa weglassen, die Jacobi mit seinem langjährigen Mentor Hans-Ulrich Wittchen veröffentlichte. (Ja, das ist der Wittchen, der kürzlich mit einem riesigen Forschungsskandal in die Schlagzeilen kam.) Diese laut Google Scholar über 3.500-mal zitierte Studie schätzte die Häufigkeit nämlich eher auf 40 Prozent – und dabei wurden gerade einmal Symptome von einem kleinen Teil aller psychischen Störungen abgefragt.
Unzuverlässiges Instrument
Lassen wir uns diese Zahlen auf der Zunge zergehen: Der Epidemiologe schickt also seine Hilfskräfte mit psychologisch-diagnostischen Fragebögen für standardisierte Interviews durch die Länder. Je nach Untersuchung kommt er damit zum Ergebnis, dass rund 20 bis 40 Prozent der Bevölkerung jedes Jahr an mindestens einer psychischen Störung leiden. (Das nennt er dann die Zwölf-Monats-Prävalenz.) Laut der einflussreichen Studie betrifft das schlappe 165 Millionen Bürgerinnen und Bürger in der EU.
Stellen Sie sich zum Vergleich vor, Sie hätten eine Waage, mit der Sie Ihren Goldklumpen wiegen. Mal würde der Apparat 20 Kilogramm, mal 30 Kilogramm, mal 40 Kologramm anzeigen. (Das entspräche übrigens einem derzeitigen Marktwert zwischen 940.000 und 1.880.000 Euro.) Wären das bedeutende Unterschiede zwischen den Messungen? Und würden Sie dieser Waage vertrauen – oder sie vielmehr beim Hersteller reklamieren oder gar wegwerfen?
Bereits beim bloßen Blick auf die Zahlen wird deutlich, dass hier etwas nicht stimmen kann. Und das hat viel mit meinem anfänglichen Punkt zu tun: Dass gar nicht klar ist, was psychische Störungen genau sind; und noch weniger, wie man sie eigentlich misst.
Was der Epidemiologe misst, ist sein Konstrukt. Das macht es nicht weniger real: Ihre Wohnung oder Ihr Kontostand sind auch Konstrukte. Um darauf zu vertrauen, dass Ihr Haus nicht beim nächsten Sturm umfällt oder Ihr Konto auf einmal leer ist, müssen Sie der Arbeitsweise der Baufirma beziehungsweise der Bank vertrauen. Wie weit können wir dem Epidemiologen der psychischen Störungen vertrauen?
Epidemiologische Fehlschlüsse
Der Epidemiologe begeht einen ersten Fehler, wo er unterstellt, Antworten auf Fragen wie: "Haben Sie innerhalb der letzten zwölf Monate Angst erlebt?", würden einen zuverlässigen Hinweis auf das Vorliegen einer psychischen Störung geben. Die gängige Arbeitsweise habe ich vorher schon einmal genauer diskutiert (Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an). Neben den auf der Hand liegenden Verständnis- (was ist "Angst"?) oder Erinnerungsproblemen (was war vor zwölf Monaten?) geben Antworten auf solche Fragen keinen schlüssigen Hinweis auf das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung.
Warum reite ich auf diesem Punkt herum? Weil Behandlungsbedürftigkeit eine notwendige Voraussetzung für die Diagnose einer psychischen Störung ist: Es geht um eine klinisch relevante Einschränkung des Funktionierens im persönlichen oder professionellen (z.B. Arbeit, Schule, Studium) Leben. Ohne Behandlungsbedürftigkeit handelt es sich allenfalls um psychische Probleme, wie sie das Leben eben bringt, kein Problem für Psychotherapeutin oder Psychiater. (Man könnte natürlich trotzdem zu so einem Experten gehen, doch dann handelte es sich eher um Coaching als um Therapie.)
Das müsste dem Epidemiologen – und eigentlich auch allen klinischen Spezialisten, die die Zahlen herbeten - eigentlich sofort ins Auge stechen. Denn hätten 20, 30, 40 oder gar mehr Prozent der Bevölkerung Jahr für Jahr eine behandlungsbedürftige psychische Störung, dann stünden wir nicht nur am Abgrund der Gesellschaft, sondern lägen schon lange an dessen Boden. Denn wenn wir Glück haben, kann man in den Wohlstandsländern vielleicht ein Zehntel davon – also zwei bis vier Prozent der Gesamtbevölkerung – gut psychiatrisch-psychotherapeutisch versorgen.
In der öffentlichen Diskussion zur Häufigkeit psychischer Störungen müsste man dem Epidemiologen hier eigentlich einen zweiten Fehler vorwerfen, nämlich den einer Äquivokation: Dass "psychische Störung" in seiner Forschung und in der Diskussion verschiedene Bedeutungen hat, ohne das zu berücksichtigen. Doch so weit würde ich gar nicht gehen. Ich würde es schlicht einen Etikettenschwindel nennen. Und wenn man gar nicht das Vorliegen psychischer Störungen misst, dann sollte man nicht so tun, als ob; schon gar nicht als Wissenschaftler.
Es geht ums Geld
Warum halten sich diese Zahlen dennoch so hartnäckig? Weil sie eine Vielzahl von Funktionen erfüllen. Da ist erst einmal die Funktion für die Wissenschaftler und klinischen Spezialisten: Wenn 20, 30, gar 40 oder mehr Prozent der Gesellschaft psychische Störungen haben, dann muss man natürlich immense Summen in diesen Bereich investieren.
Es ist dann auch kein Zufall, dass die Epidemiologen wie Jacobi und Wittchen, die diese hohen Prävalenzen berichten, sogleich – in einer anderen vielzitierten Publikation – die Rechnung aufstellen: Nach konservativen Schätzungen würden psychische Störungen die EU-Länder Jahr für Jahr rund 300 Milliarden Euro kosten!
Klar, dass dann ein paar Millionen hier und da zur Erforschung und Behandlung psychischer Störungen wie ein Schnäppchen aussehen. Dieser Art der Berechnung sollte man aber – ebenso wie die Erhebung der Prävalenz – nicht einfach so glauben (Wenn es ums Geld geht).
Raten Sie, wie Jacobi seinen Kommentar in Gehirn&Geist abschließt: "Doch egal, ob psychische Störungen nun real zugenommen haben oder nicht – es lohnt sich, weiter in die seelische Gesundheit zu investieren." Kein Witz! Es fehlt bloß noch die Kontonummer. Alles egal, her mit dem Geld!
Politische Funktion
Diese Zahlen haben aber auch eine politische Funktion: Bedeutende ursächliche Faktoren für die meisten psychischen Störungen sind nämlich Stress (wie z.B. durch Armut) und schwere Lebensereignisse (wie z.B. der Verlust der Arbeit). Der Epidemiologe, der nun Jahr für Jahr berichtet, psychische Störungen nähmen nicht zu, stellt den regierenden Politikern und Beamten einen Persilschein aus: Ihr macht eure Arbeit zumindest nicht schlecht, denn dem Volk geht es nicht schlechter.
Das individualisiert aber umgekehrt die psychischen Störungen: Wenn es dir psychisch sehr schlecht geht und du eine Behandlung brauchst, dann liegt das nicht an deiner Umgebung, sondern an deinen Genen oder "dysfunktionalen Gedankenmustern". Klinische Psychologie und Psychiatrie, vor allem aber die Klinische Neuropsychologie und die Klinische Neurowissenschaft (oder wie ihre führenden Vertreter es nennen: die Schaltkreisepsychiatrie), sind also in diesem Sinne politisch.
Ich behaupte nicht, dass alle Wissenschaftler sich nach den Interessen politischer Mehrheiten richten. Man sollte aber schon einmal bedenken, dass die meisten Professoren Beamte sind – ernannt von anderen Beamten, mit Plazet der Ministerien. Aus dieser Ecke sollte man also nicht gerade Gesellschaftskritik erwarten.
Günter Grass hat das in "Grimms Wörter" sehr schön verarbeitet: Schon den Göttinger Sieben, die sich für die bürgerliche Verfassung einsetzten, fiel die Mehrheit der Kollegen in den Rücken. Die Professoren, die den Aufstand wagten, wurden verbannt. Der große Rest aber: schwieg. Den Verweis auf die opportunistische Rolle der Universitäten in einer späteren Episode der deutschen Geschichte verkneife ich mir.
Es geht bei diesem Thema nicht nur um eine intellektuelle Übung, sondern darum, wie allein in Deutschland Abermillionen Jahr für Jahr mit ihren psychischen Problemen umgehen – und gegebenenfalls Hilfe bekommen. Mehr zu den Hintergründen schrieb ich in den beiden Telepolis-eBooks Was sind psychische Störungen? und Psyche & psychische Gesundheit. (Zum Interessenkonflikt: Ich verdiene am Verkauf keinen Cent, freue mich aber über Leser. Mit dem Kauf helfen Sie der Telepolis-Redaktion.)
Widersprüchliches System
Wer keinem Schelm wie mir Vertrauen schenkt, dem gebe ich zum Schluss ein paar (übersetzte) Sätze aus dem neuen Buch von Damiaan Denys mit auf den Weg, das hier in den Niederlanden in kürzester Zeit schon in mehreren Auflagen erschien. Denys ist Philosoph, Professor für Psychiatrie an der Universität von Amsterdam, Abteilungsleiter der dortigen Psychiatrie und Theaterschauspieler.
In dem eigensinnigen Buch "Het Tekort van het Teveel" (2020) beschäftigt er sich mit den inneren Widersprüchen des psychischen Gesundheitssystems. Bei der folgenden Diagnose bezieht er sich auf die Gesundheitsreformen in den Niederlanden. Ähnliche Schlüsse dürften sich aber für die Gesundheitssysteme in den meisten "hochentwickelten" westlichen Ländern ziehen lassen:2
Man wollte mehr, doch bekam weniger Kontrolle über die Behandlung. [...] Man wollte günstigere, doch erzeugte teurere Behandlungen. [...] Man wollte mehr, doch erzielte weniger Effizienz. [...] Man wollte leichteren Zugang, doch erzeugte mehr Wartelisten. [...] Man wollte mehr, doch erreichte weniger Qualität. [...] Man wollte mehr, doch erreichte weniger Konkurrenz. [...] Man wollte die Arbeit im Gesundheitssektor attraktiv halten, doch erzeugte einen gigantischen Personalmangel. [...] Im Endeffekt hat die Reform des Gesundheitssystems allein für Verlierer gesorgt.
Damiaan Denys (dt. Übers. St. Schleim)
Ich könnte es nicht treffender formulieren. Wie so oft in unserer hochentwickelten Zivilisation löst man Probleme nicht, sondern verwaltet man sie nur. Wenn das unerträglich geworden ist und man nicht mehr weiterweiß, ruft man das Zauberwort: Privatisierung! Und wieder wird für die Mehrheit alles komplexer, stressiger – und teurer. Es gewinnen: die Verwalter, Berater und Privatisierer.
Die Professoren für Klinische Psychologie Jürgen Margraf und Silvia Schneider von der Universität Bochum hatten in einem mutigen Fachaufsatz aus dem Jahr 2016 schon einmal auf des Kaisers neue Kleider im psychischen Gesundheitssystem hingewiesen. Dass es beispielsweise Patienten mit der Diagnose Schizophrenie in vielen Entwicklungsländern besser geht als bei uns, hätte uns schon vor vielen Jahren wachrütteln sollen. Was ist seitdem passiert? Im Westen nichts Neues.
Mit den Füßen abgestimmt
Zur Beantwortung der Frage, ob immer mehr Menschen psychische Störungen haben, halte ich mich bis auf Weiteres lieber an die Stimme der Patienten als die der Epidemiologen. Die Patienten "stimmen mit den Füßen ab" und die Antwort ist unzweideutig: Jahr für Jahr suchen immer mehr Menschen Hilfe für ihr psychisches Leiden (Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an) - ebenso wie übrigens für Krankheiten allgemein (Die Deutschen sind kränker denn je).
Die gängigen epidemiologischen Instrumente sind auf diesem Gebiet unzuverlässig und verfehlen das eigentliche Thema. In Fachsprache: Sie sind weder reliabel noch valide. Werfen wir sie weg.
Zum psychischen Leiden, dem Umgang damit und dem neuen Ansatz von Damiaan Denys sei ein Andermal mehr geschrieben.
Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.