Putin-Erdogan-Deal: Wohin die türkische Reise führt

"Operation Friedensquelle": Angriffe auf Ra's al-'Ain (kurdisch: Serekaniye) am 11.10.2019. Bild: A. Lourie/VOA/gemeinfrei

Kommentar: Es geht um die Kapitulation der nordsyrischen Bevölkerung

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Die Verhandlungen zwischen Putin und Erdogan dauerten mehr als sechs Stunden. Herausgekommen ist die Aufforderung zur Kapitulation der Selbstverwaltung in Nordsyrien. Der einzige demokratische Ansatz für den Nahen Osten, der zumindest ein Lichtblick, ein Modell, gewesen war, wie die ethnischen Konflikte in den Vielvölkerstaaten Türkei, Syrien, Irak und Iran friedlich zu lösen sind, wurde quasi beerdigt.

Denn es geht nicht nur um eine militärische Kapitulation der Selbstverteidigungseinheiten in Nordsyrien, es geht um die Kapitulation desjenigen Teils der multiethnischen Bevölkerung, die für ein demokratisches Syrien gekämpft hat und dafür einen hohen Blutzoll bezahlt hat.

Bereits in den letzten anderthalb Jahren konnte man in der Provinz Afrin im Nordwesten Syriens verfolgen, was man jetzt von der Türkei und ihren dschihadistischen Söldnern zu erwarten hat. Seit langem ist es kein Geheimnis mehr, dass die Türkei, anstatt den IS zu bekämpfen, mit zahlreichen Islamistenmilizen zusammenarbeitet, in denen sich auch ehemalige IS-Terroristen tummeln.

Davor haben europäische und amerikanische Politiker seit 2014 die Augen und Ohren verschlossen. Ob ihnen das angesichts der aktuellen Gräueltaten, die anders als im Falle der Afrin -Berichterstattung auch von den Medien veröffentlicht werden, wieder gelingen wird?

Die "Armee Mohammeds"

"Ich küsse die Stirn der Helden der Armee Mohammeds, die an der Operation Friedensquelle teilnehmen", twitterte der türkische Präsident zu Beginn seines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges (Türkei bombardiert gezielt IS-Gefängnisse). Mittlerweile ist bekannt, wer diese Helden sind.

Die kurdische Nachrichtenagentur ANF veröffentlichte eine detaillierte Liste der beteiligten Milizen. Demnach stationiert die Türkei an strategischen Punkten turkmenische islamistische Milizen wie z.B. die Sultan-Murad-Brigade, die Sultan-Suleiman-Shah-Brigade, die Fatih-Sultan-Mehmet-Brigade, die Muntassir-Billah-Brigade und die Samarkand-Brigade. Die Mehrheit der Mitglieder der Gruppen kommt aus Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und dem Kaukasus oder stammt wie die Uiguren aus Zentralasien.

Vorher waren sie vor allem in Idlib und al-Bab als türkische Söldner stationiert. Nun werden sie gerade im 5 km breiten Grenzstreifen zwischen Tall Abyad (kurdisch: Gire Spi) und Ra's al-'Ain (kurdisch: Serekaniye) angesiedelt. Die Grenzposten wurden ihnen schon übergeben. Unter der sogenannten Nationalen Syrischen Armee (SNA - oft auch: Turkish-backed Free Syrian Army: TFSA), wie Erdogan seine Söldnertruppen nennt, sind so ziemlich alle dschihadistischen Gruppen, die es in dieser Region gibt, versammelt. Auszüge aus der ANF-Liste):

  • Ahrar al-Sharqiya: eine IS-Abspaltung, die Deir ez-Zor verlassen hat und nach Idlib gegangen war. Sie trat durch ihre Brutalität, Plünderung, Diebstahl und Vergewaltigungen ins Rampenlicht. Diese Gruppe ist ermordete die Generalsekretärin der Zukunftspartei, Havrin Khalaf.
  • Jaish al-Mukha: Vorher Jaysh al-Tahrir, reorganisierte sich 2017 als Jaysh al-Mukha. Diese Gruppe operierte in Aleppo, Latakia, Hama und Idlib und nahm an der Besatzung von Afrin teil.
  • Suqhur al-Sham: Diese Gruppe wurde 2011 von Ahmed Abu Isa gegründet, arbeitete lange Zeit mit al-Nusra zusammen, schloss sich dann Ahrar al-Sham an. Sie ist bekannt für ihre dschihadistischen Ideologie und besteht zu einem großen Teil aus ausländischen Dschihadisten. Auch sie sind Teil der Besatzungstruppen von Afrin.
  • Failaq al-Sham: Die Miliz schloss sich 2014 aus 19 Gruppen zusammen. Die Gruppe, die sich auch in Afrin befindet, hat gute Beziehungen zum türkischen Staat und ist eine der bedeutendsten Strukturen innerhalb der SNA/TFSA.
  • Ahrar al-Sham: Diese Gruppe ist eine der größten der SNA und Al-Qaida-Ableger. In Idlib ist sie mit al-Nusra/HTS zusammen, in Afrin Teil der Besatzungsmilizen.
  • Hamza-Division: Unter der Leitung des ehemaligen IS-Mitglieds Seyf Abu-Bakr unterhält sie gute Beziehungen zur Republik Türkei und nimmt an der Besatzung von Afrin teil.
  • Liwa al-Fatih: ist 2017 der Gruppe Jabhat al-Shamiya beigetreten.
  • Jaish al-Ahfad: Sie ist eine der ersten Gruppen, die der Nationalen Armee beitrat. Zusammen mit Liwa Samarkand war sie zunächst Teil von Furqat al-Hamza.
  • 23. Division: Sie war früher in Aleppo und Idlib tätig. Sie nahm an der türkischen "Schutzschild Euphrat"-Operation und an der Besetzung von Afrin teil.
  • 9. Division: Diese Gruppe, die 2014 als Spezialeinheit organisiert wurde, war Teil der vom Pentagon unterstützten Hazim-Bewegung. Als diese Struktur der Muslimbrüder einige Aktionen gegen al-Nusra durchführte, wurde sie von dieser liquidiert. Anschließend wurde sie vom türkischen Staat reorganisiert.
  • Fevc al-Mustafa: Sitz in Mare. Sie ist für ihre Nähe zum türkischen Staat bekannt und ist insbesondere im besetzten Kreis Bilbile in Afrin aktiv.
  • Liwa al-Awwal Magavir: Im Jahr 2013 zog sich diese Gruppe, die in den ländlichen Gebieten von Homs und Damaskus aktiv war, nach einer Vereinbarung mit dem Regime nach Idlib zurück und nahm an der Besatzung von Afrin teil.
  • Firqa Mutassim: Diese Gruppe mit Sitz in Marê erhielt Waffen und Training durch die USA. Sie nehmen an der Besetzung von Afrin teil.
  • Jabhat al-Shamiya: Diese Gruppe wurde 2014 gegründet und ist Teil der Besetzung von Afrin.
  • 5. Regiment: Es ist auch bekannt als Fevc al-Khames. Diese Gruppe ist im Norden von Hama und Idlib aktiv und nimmt an der Besetzung von Afrin teil.
  • Liwa asl Shimal: Die Gruppe ist eine Gründung durch Faylaq al-Sham. Faylaq al-Sham brachte mehrere Dschihadistenfraktionen zusammen. Die Gruppe ist in der Umgebung von Minbic, in Dscharablus und Sehba aktiv und ist Teil der Besatzungstruppen in Afrin.
  • Rical el-Harb: Eine Gruppe, die rund um Aleppo und Idlib operiert.
  • Liwa Sultan Osman: Wurde 2017 gegründet und ist in Bilbilê im besetzten Afrin aktiv.
  • Jaish al-Islam: Wurde 2011 in Ost-Ghouta gegründet und war eine der größten Milizen. Der Kommandant dieser Struktur war der Salafist Zahran Alloush. Diese von Saudi-Arabien unterstützte Gruppe verwendete bei den Angriffen auf Sex Meqsud Chlorgas. Nachdem Zahran Alloush getötet worden war, übernahm sein Bruder Mohammed Alloush seinen Platz. Diese Gruppe nahm an den Treffen in Riad und Astana teil, und nachdem sie Ghouta verlassen hatte, errichtete sie ihre Stützpunkte zusammen mit Faylaq al-Rahman in al-Bab und Afrin.
  • Festakin Kema Umirte: Wurde 2012 unter Beteiligung von sieben Gruppen in Istanbul gegründet. Die Gruppe wird von der Türkei, Katar und Saudi-Arabien unterstützt.
  • Jaish al-Sharqiyya: Eine der kleinen Gruppen. Ihre Mitglieder kommen aus den östlichen Regionen Syriens.
  • Suwar al-Jazeera: Sie ist gegründet worden, um gegen die Kurdinnen und Kurden in der Region Cizire zu kämpfen. Diese in Dscharablus ansässige Gruppe nahm an den Angriffen auf Minbic und an der Besatzung von Afrin teil.
  • 51. Brigade: Wurde 2015 gegründet. Als sich die Gruppe der SNA anschloss, wurde Mohammed Deri Gruppenleiter. Die Gruppe nahm an den Treffen in Genf und an der Besatzung von Afrin teil.
  • Firqa Shimal: Diese Gruppe wurde unter dem Namen Liwa Fursan al-Haq 2012 in der Stadt Kefer Nubul in Idlib gegründet. Die von der CIA unterstützte Gruppe wurde von Faris al-Beyoush geführt.
  • Sultan-Murad-Brigade: Die Gründung dieser Gruppe geht auf das Jahr 1998 nach dem Adana-Abkommen zurück. Die Beziehungen des Anführers Yusuf al-Seleh zum MIT gehen auf diese Zeit zurück. Es ist die Gruppe, in die der türkische Staat am meisten investiert. Die Kontrolle der Grenzen und der Grenzübergänge bleibt dieser Gruppe überlassen.
  • Sultan Suleiman Shah: Gruppe, die sich aus Turkmenen aus der Region Bab rekrutiert.
  • Fatih-Sultan-Mehmet-Brigade: Diese Gruppe wurde 2012 vom türkischen Staat in der Stadt Khendura bei Dscharabulus gegründet und blieb lange Zeit in Aleppo. Sie schloss sich 2015 der Sultan-Murad-Brigade an und verließ diese wieder im Jahr 2016. Sie ist in Dscharablus, al-Rai und Azaz aktiv und stellt einen Teil der Besatzungstruppen in Afrin.
  • Muntassir-Billah-Brigade: Diese Gruppe, die zuerst in Aleppo aktiv war, ist hauptsächlich in al-Bab, al-Rai und Dscharabulus tätig. Sie ist direkt dem türkischen Geheimdienst unterstellt und nimmt an der Besatzung von Afrin teil.
  • Samarkand-Brigade: Diese Gruppe wurde 2016 im ländlichen Aleppo gegründet und wird vom türkischen Staat unterstützt. Sie besteht aus Personen aus Zentralasien, insbesondere aus Usbeken. Sie wurde zum Kampf "gegen Kurden und das Regime" gegründet und ist Teil der Besatzungsmacht in Afrin.

Hilfloses Agieren des Westens

Der Westen hat trotz vieler Warnungen über Monate komplett versagt. Die nun eilig formulierte Kritik von Außenminister Heiko Maas und der CDU Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und ihre Lösungsvorschläge kommen Monate zu spät und dienen vor allem zur Beruhigung der eigenen Bevölkerung, die zu über 90 Prozent den Krieg der Türkei in Nordsyrien ablehnt.

Die Idee einer international kontrollierten Sicherheitszone in Nordsyrien wird kaum umsetzbar sein, weil die Partner dafür fehlen. Außerdem bedarf es eines UNO-Mandates, das wahrscheinlich an Russlands Veto scheitern würde. Nun rächt sich auch, dass man die Vertreter und Vertreterinnen der Selbstverwaltung in Nordsyrien nicht mit in die Beratungen mit einbezogen hat.

Diese hatten schon vor Monaten nicht nur eine international kontrollierte Sicherheitszone gefordert, um Konflikte mit der Türkei zu entschärfen und ihre Bevölkerung zu beschützen. Sie forderten auch einen Internationalen Gerichtshof vor Ort, um den inhaftierten IS-Terroristen den Prozess zu machen und sie forderten die zügige Rückholung der ausländischen IS-Anhänger.

Es wird interessant, wie sich künftig der syrische Präsident Assad positioniert. Noch am Dienstag sagte er nach Angaben der Jungen Welt: "Wir sind bereit, jede Gruppe zu unterstützen, die den Volkswiderstand gegen Erdogan und die Türkei mitträgt." Möchte man Assads Worten Glauben schenken, wären die SDF der Selbstverwaltung in Nordsyrien jedenfalls die richtigen Partner, denn diese fordern nach wie vor den vollständigen Rückzug der türkischen Truppen und ihrer islamistischen Verbündeten.

Moskau scheint dies aber anders zu sehen als Assad, denn am Mittwoch drohte ein Kremlsprecher, wenn sich die "Kurdenmiliz YPG" nicht aus den Gebieten entlang der türkischen Grenze zurückziehe, würden sich die "syrischen Grenzwächter und die russische Militärpolizei zurückziehen. 'Die verbleibenden kurdischen Formationen werden dann aber von der türkischen Armee in der Tat zermalmt.'"

Damit übernimmt der Kreml die martialische Sprache Erdogans. Die Türkei werde die "Köpfe der Rebellen zerquetschen", sagte Erdogan vor einigen Tagen auf einer Veranstaltung in Kayseri, sollten die Kurden nicht aus Nordsyrien verschwinden.

Berichte aus der neuen Besatzungszone der Türkei

Erdogans Worte haben die dschihadistischen Söldner wörtlich genommen. Es mehren sich die Berichte über Hinrichtungen und Leichenschändungen. Am Donnerstag brachte die ARD Sendung Kontraste einen Beitrag über IS-Kämpfer im Dienst der Türkei. In dem Beitrag wurde ein Video gezeigt, in dem sich eine Gruppe verbündeter Islamisten an der schwer verstümmelten Leiche einer YPJ-Kämpferin ergötzen, die bei einem Angriff in der Ortschaft Celbe (Jalba) ermordet wurde. Dabei rufen sie "Allahu Akbar".

Die Fotos von Menschen, überwiegend von Kinder mit schweren Verbrennungen nach türkischen Luftangriffe, empörten die Menschen weltweit. Mittlerweile mehren sich die Stimmen internationaler Chemiewaffen-Experten, wonach die auf Fotos und Filmen dokumentierten Verbrennungen auf den Einsatz von weißem Phosphor durch das türkische Militär zurückzuführen seien.

Im von der Türkei neu besetzten Tall Abyad (Gire Spi) haben die dschihadistischen Söldner nach Informationen des Kommunikationswissenschaftlers Kerem Schamberger eine Verordnung erlassen, die Frauen zwingt schwarze Schleier zu tragen. Dies berichtet der Journalist Nazım Dastan, der vor Ort ist.

Der Wiesbadener Arzt Michael Wilk ist seit Mittwoch mit einer sechsköpfigen Delegation internationaler Ärzte in Nordsyrien, um seine Kollegen und Kolleginnen vor Ort zu unterstützen. Er berichtet auf Facebook

In Rojava ist heute eine medizinische Delegation eingetroffen, um akut Hilfe zu leisten. Acht Ärzte*innen und Gesundheitsschaffende aus vier Ländern, Dänemark, Schweiz, Schweden und Deutschland. Die Lage ist auf vielen Ebenen schwierig bis desaströs, mehrere hunderttausend Menschen sind aus dem türkischen Invasionsbereich und dem nördlichen Grenzgebiet nach Süden geflohen. Viele Menschen sind durch die Angriffe getötet und schwer verletzt worden. Viele Leichen liegen noch unter Trümmern. Krankenhäuser wurden beschädigt, lagen im Kampfbereich und mussten geräumt werden. Die notwendige medizinische Versorgung überfordert sowohl das selbstverwaltete Gesundheitssystem als auch Heyva sor a kurd, den Kurdischen Roten Halbmond. Im Bewusstsein, dass unsere Anwesenheit eher einen Ausdruck der Solidarität und nur eine kleine Unterstützung darstellt, geben wir unser Bestes.

Michael Wilk

Wilk berichtete am Donnerstag von fortdauernden Bombardements: "Im frontnah gelegenen Krankenhaus treffen in nur fünf Stunden vier schwerverletzte Patient*innen ein, die stabilisiert werden müssen. Das Personal und wir haben alle Hände voll zu tun. Die Türkei greift trotz des sogenannten 'Waffenstillstands' weiter an und scheut auch nicht vor Bombardements in der Kampfzone zurück."

Die Kommandantin der Frauenselbstverteidigungseinheiten YPJ gab in einem Statement bekannt, dass am 21. Oktober die Soldatin Cicek Kobane in einem Dorf in der Region Ain Issa am Bein verletzt und in die Hände der türkischen Proxytruppen gefallen ist. Angesichts der bekannt gewordenen Folterungen, Exekutionen und Leichenschändungen ist ihr Leben in akuter Gefahr.

Am Mittwoch berichtete die Selbstverwaltung über fortlaufende Angriffe der Türkei trotz angeblicher Waffenruhe. Demnach gab es vor allem Angriffe auf Dörfer rund um die Stadt Ra's al-'Ain (Serekaniye), die mittlerweile von den Türken besetzt ist und in den Dörfern rund um Kobane (Ayn al-Arab) und Ain Issa. Die Angriffe gingen auch am Donnerstag weiter, während Erdogan in türkischen Medien davon sprach, dass nun Frieden eingekehrt sei.

Der Westen ist raus aus dem Spiel

Das Schicksal Syriens bestimmen künftig Putin, Assad und Erdogan. Europa hätte eingreifen und Erdogan Einhalt gebieten können. Zum Beispiel, indem man eine Flugverbotszone oder Wirtschaftssanktionen verhängt. Aber weder Deutschland noch Frankreich oder Großbritannien konnten sich zeitnah auf eine gemeinsame Linie einigen. Es blieb bei verbalen Warnungen.

Dabei müsste seit mindestens zwei Jahren allen Global Playern klar sein, wohin die türkische Reise führt - in ein neo-osmanisches Reich. Das wurde immer wieder von türkischen Medien und von Erdogan angedeutet.

Zwar hat das Europaparlament in Straßburg am Donnerstag die einseitige Militärintervention der Türkei in Nordsyrien verurteilt, wirksame Sanktionen gegen die Türkei gefordert und sich in einer Resolution mit großer Mehrheit für eine Schutzzone unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Nordsyrien ausgesprochen. Eine bindende Wirkung haben Beschlüsse des EU-Parlaments allerdings nicht. Erdogan wird das deshalb wenig beeindrucken.

Der türkische Präsident hat nun mithilfe der USA und Russlands einen Etappensieg errungen. Damit wird er sich aber nicht zufriedengeben. Am Donnerstag präsentierte er im türkischen Fernsehen eine Karte von Nordsyrien und kündigte ethnische Säuberungen an: "Wichtig ist, dass der Lebensstil in dieser Region unter Kontrolle gehalten wird. Die am besten geeigneten Leute dafür sind Araber. Der Lebensstil der Kurden ist dafür nicht geeignet."

Das heißt, dass er ein friedliches, multiethnisches, demokratisches und gleichberechtigtes Zusammenleben von Männern und Frauen nicht wünscht.

Der Krieg, der etappenweise Eroberungsfeldzug, wird weiter gehen wie bisher: Erst wurde Dscharabulus kampflos vom IS übernommen, weil die Türkei sich mit dem IS abgesprochen hatte. Dann wurde mit Billigung Russlands und dessen Freigabe des Luftraums für türkische Kampfbomber Afrin erobert und zu einem türkischen Protektorat ausgebaut.

Nun wurde wieder ein 120 km langer und 32 km breiter Streifen unter türkische Herrschaft gestellt, der nach dem Vorbild von Afrin türkisiert und islamisiert wird. Diesmal ist das sowohl von Russland wie von den USA gemeinsam abgesegnet worden. Aber das wird noch nicht das Ende sein.

Erstmal wird Erdogan dort die türkischen Strukturen etablieren: Die türkische Wohnungsbaugesellschaft TOKI soll auf dem Terrain der vertriebenen Bevölkerung neue Häuser bauen, das türkische Telefonnetz wird installiert und das Schulsystem wird türkisch-islamistisch umgestellt. Danach wird sich Erdogan das nächste Gebiet vornehmen. In Frage käme das strategisch wichtige Gebiet der Kommune Derik ganz im Nordosten Syriens an der irakischen Grenze.

Von Derik aus fliehen viele Familien über den Grenzübergang Semalka in den Nordirak. Die irakisch-kurdische Agentur Rudaw berichtet von über 1.000 Flüchtlingen täglich, die den Tigris überqueren. Mehr als 10.000 Flüchtlinge sollen bereits innerhalb weniger Tage in den eilig errichteten Lagern angekommen sein. Derik ist eine der Städte, die mit vielen Flüchtlingen aus den umliegenden Dörfern an der türkischen Grenze konfrontiert ist.

Dort ist das Alltagsleben zum Erliegen gekommen, die Geschäfte des Basars sind geschlossen, die Kinder werden aus Angst vor den nächsten Angriffen nicht mehr zur Schule geschickt. Derik ist die Partnerstadt des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Im Juni dieses Jahres waren die beiden Ko-Bürgermeister der Stadt, Rojin Ceto und Feremez Hammo zur Unterzeichnung der Städtepartnerschaftsurkunde in Berlin. Es wurden viele Projekte im ökologischen und sozialen Bereich vereinbart, deren Umsetzung nun gestoppt werden musste.

Der Deutschlandfunk brachte im Juni ein Feature über die Familie des Ko-Bürgermeisters, in dem die Familie noch ganz optimistisch klang. Heute, sechs Monate später, ist nur noch Angst und Wut übriggeblieben. Die Menschen fühlen sich von der Welt vergessen und verraten.

Würde Derik unter türkische Kontrolle geraten, gäbe es keinen Fluchtweg mehr aus Nordsyrien in das irakische Kurdistan. 30 bis 40 km weiter südlich von Derik ist jener Korridor, den die YPG/YPJ 2014 freigekämpft hatten, damit die vom IS eingekesselten Eziden (Jesiden) vom Berg Shengal fliehen und in Flüchtlingscamps bei Derik gebracht werden konnten. Die Türkei und ihre dschihadistischen Söldner könnten dann problemlos durch das wenig besiedelte Gebiet in den Shengal im Nordirak und in die dahinter liegende Ninive-Ebene bis nach Mossul vordringen. Man braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen, was dann mit den dortigen Christen und Jesiden passiert.