Putin verliert sein Volk: 63 Prozent der Russen wollen Friedensvertrag
Putins Kriegskurs stößt auf wachsenden Widerstand. Neue Studien zeigen: Die Mehrheit der Russen wünscht sich Frieden. Doch wagt es kaum jemand, das öffentlich zu sagen.
"Die Russen stehen zu Putin und wollen den Krieg", titelte in der Woche die Frankfurter Allgemeine Zeitung und bezieht sich dabei auf eine Studie des Chefs des russischen Lewada-Zentrums, Lew Gudkow. Laut dem Papier unterstützen 75 Prozent den Krieg des Kremls gegen die Ukraine. Doch es gibt auch Untersuchungen mit gänzlich anderem Ergebnissen zur Kriegszustimmung in Russland.
Eher in exilrussischen Medien Schlagzeilen machte im September eine Telefonumfrage des Cronicle-Projekts in Russland die Runde, Daraus geht hervor, dass fast die Hälfte der russischen Bürger (49 Prozent) Friedensverhandlungen mit der Ukraine derzeit auch unterstützen würde, wenn die Ziele der "speziellen Militäroperation", wie die Invasion des Nachbarlandes offiziell genannt wird, durch den Kompromiss nicht erreicht würden.
Nur etwa ein Drittel spricht sich dagegen aus, der Rest ist unentschieden.
Viel Zuspruch für Kompromissfriedens im Jahr 2025
Noch deutlicher schaut das Ergebnis aus, wenn die Russen vor die Alternative Frieden oder neue Mobilisierung gestellt werden – oder wenn die Meinungsforscher nach der Möglichkeit eines Friedensvertrags im nächsten Jahr mit gegenseitigen Zugeständnissen fragen.
Ein solches Abkommen im Laufe des Jahres 2025 würden in der Umfrage von 63 Prozent der Russen befürworten. Der gegenüber den Meinungsforschern am häufigsten genannte Grund, warum sich dennoch weitere Landsleute freiwillig für die Front melden, sind die damit verbundenen materiellen Vorteile.
Wie sind so unterschiedliche Ergebnisse möglich? Bei allen Umfragedaten in Russland ist zu beachten, inwieweit Russen den ausländischen Demoskopen die Wahrheit zu politischen Themen sagen.
Falsche Äußerungen der eigenen Meinung selbst im kleinen Kreis sind in Russland inzwischen sehr gefährlich. Cronicle hat versucht, diesen Effekt zu minimieren, indem es sich nicht nach der Meinung der Befragten, sondern der Leute im Umfeld der Teilnehmer erkundigt hat.
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Das ist der entscheidende Unterschied zu Gudkow und ein Vorteil der Cronicle-Studie, der den Effekt von Anpassungsantworten aus Angst minimiert. Prompt ergab sich weniger Kriegsbegeisterung.
Cronicles Ergebnis stimmt überein mit einem tieferen Blick in russische soziale Medien, den die Forschungsgruppe Extreme Scan anhand von über einer Million Posts zu drei Themen vorgenommen hat: Der Invasion in der Ukraine, der Haltung gegenüber dem Krieg und einer weiteren Mobilisierung. Die ukrainische Invasion der russischen Kursk-Region hatte kurz zuvor ein verstärktes Interesse der Russen am Kriegsgeschehen ausgelöst, das vorher stetig zurückgegangen war. Um 196 Prozent sind Postings zum Krieg zu Beginn der Gegeninvasion im Vergleich zur Vorwoche gestiegen.
Die Strategie des Kreml, sich trotz dieses Vorstoßes zunächst weiter auf den aktuell laufenden Vormarsch im Donbass zu konzentrieren, stieß dabei laut der Untersuchung auf Kritik und erhöhte die Angst vor einer neuen Mobilisierungswelle.
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Mit ihrer verbalen Beschwichtigungsstrategie in Bezug auf Kursk trafen die Offiziellen einmal nicht den Nerv der Bevölkerung, "der Kreml nutzte die Invasion nicht als Mittel zur Mobilisierung der breiten Bevölkerung gegen eine existenzielle Bedrohung des Staates", stellen die Forscher von ExtremeScan fest.
Ihre Ergebnisse stimmen mit der Umfrage von Cronicle überein. Bei der dortigen Erhebung wünschen 53 Prozent der Russen eine Konzentration der eigenen Armee auf die Vertreibung der Ukrainer aus dem Gebiet Kursk.
Nur 15 Prozent unterstützen die Prämisse der Regierung auf die Donbass-Offensive. Dass der Kreml auf solche Stimmungen achtet, die generell auch die soziologische Abteilung des russischen Geheimdienstes FSO erfasst, zeigt sich daran, dass in den folgenden Wochen doch größere Truppenverlegungen in die Region Kursk stattfanden.
Psychische Probleme unter Älteren nehmen zu
Es rumort also in Russland. Viele Russen belastet die Tatsache, dass der Krieg mit Eskalationspotenzial inzwischen ein mehrjähriger Normalzustand geworden ist. Mehr als die Hälfte der über 60-jährigen Russen, die eine zentrale Stütze des aktuellen politischen Systems sind, leidet aktuell unter Angstzuständen oder Depressionen, berichtet die Moskauer Zeitung Kommersant. Das Blatt führt das auf den Krieg zurück. Das zuständige Komitee der Staatsduma beschwichtigt: Es erwiderte, dass "ihre Depressionen nach dem Sieg verschwinden" würden.
Dazu passt selbst ein Ergebnis des Levada-Zentrums, das für die Zeit vom Februar bis August einen leichten Anstieg des Protestpotentials feststellt. Das ist angesichts des politischen Klimas in Russland eine erstaunliche Entwicklung.
Mehrheit für Regierung
Hierbei muss erwähnt werden, dass die Regierung wirklich unter Älteren und Konsumenten klassischer Medien die Unterstützung der großen Mehrheit genießt und man bei der aktuellen Unzufriedenheit mitnichten von einer "Revolutionsstimmung" sprechen kann.
Bei vielen fehlt aktuell schlichtweg die Begeisterung, die für den aktuell eingeschlagenen Kurs – aktiver Widerstand aber ist nicht erkennbar. Die exilrussische Onlinezeitung Meduza spricht nach einer Auswertung der Cronicle-Daten davon, dass Russen, die generell Putin unterstützen, dennoch andere Dinge wollen, als er umsetzt.
Etwa wünschten seine Anhänger mehrheitlich eine stärkere Konzentration auf innere Probleme in Russland oder eben einen Friedensvertrag. Zu einem offenen Aufbegehren gegen die langjährige Symbolfigur führt das aber nicht. Seine Anhänger hoffen, dass Putin weiß, was er tut. Sie schauen dem Kriegsgeschehen mit ungutem Gefühl entgegen oder behalten ihre Unzufriedenheit für sich.
"Angepasste" Antworten vermeiden
Um den Effekt der "angepassten" Antwort ganz auszuschalten, führten Soziologen des PS-Laboratory, einer russischen Forschungsgruppe, die zwangsweise von den Behörden als "ausländischer Agent" registriert wurde, ein interessantes Experiment durch. Soziologische Fachleute reisten in drei russische Provinzen, wo sie jeweils einen Monat verbrachten, um anhand der Gespräche der Leute unerkannt die Stimmung im Land zum Krieg zu erfassen.
Zur Tarnung nutzten sie örtliche Bekannte, die sie als deren Besucher ins Provinzleben einführten. "Sie besuchten öffentliche Veranstaltungen mit patriotischen und militärischen Themen, führten Gespräche mit Fahrern, Verkäufern, Barkeepern oder Kosmetikerinnen und fragten sie beiläufig, wie sich die spezielle Militäroperation auf das Leben in ihrer Stadt auswirkt", beschreiben die Forscher ihr Vorgehen.
Sie bemerkten dabei etwa im Ural, dass "die sichtbaren Zeichen des Krieges im vergangenen Jahr fast vollständig verschwunden sind". So hätten die Leute Autoaufkleber mit Unterstützung des Krieges entfernt, Trauerfeiern oder Verabschiedungen zur Front fänden nur noch im kleinen, privaten Kreis statt.
In der gleichen Stadt gab es weiter einen "patriotischen" Kreis, gruppiert um den örtlichen orthodoxen Priester, bestehend etwa aus Verwandten von Frontkämpfern. Doch solche Kreise seien klein. Die Forscherin besuchte etwa zwei angekündigte öffentliche Vorführungen von Propagandafilmen. In einer dieser Vorführungen war sie die einzige Besucherin, die andere fiel komplett aus.
Der Krieg stoße jedoch nicht generell auf Desinteresse. Tagesgespräch seien stets Gefallene aus der eigenen Stadt oder dem Bekanntenkreis gewesen. Hier herrsche vor allem Bedauern vor, dass so junge Menschen in den Krieg müssten.
Die Schuld würden die Provinzbewohner "abstrakten Mächtigen zuschreiben, die ihre Ziele auf Kosten des Lebens einfacher Menschen erreichen". Die generelle Politikferne vieler Russen weit weg von Moskau wird hier deutlich sichtbar.
So wird die oft fehlende Kriegsbegeisterung verständlich. Immer mehr Russen haben Gefallene im eigenen Freundes- oder Bekanntenkreis. Diese Verluste motivieren sie, den Sinn des Geschehens zu hinterfragen.