Raketen auf Wohngebäude: Versucht die Ukraine, den Terror des Krieges nach Russland zu tragen?

Auch in der Ukraine waren immer wieder zivile Gebäude angegriffen worden. Völkerrechtlich ist das kaum geregelt. Am Ende zählt bei der Bewertung nur eine Frage.

Die Zahl der Todesopfer nach dem teilweisen Einsturz eines zehnstöckigen Wohngebäudes in der südwestrussischen Stadt Belgorod ist auf 15 gestiegen. Dies vermeldete das russische Ministerium für Katastrophenschutz auf seinem Telegram-Kanal. Das Unglück ereignete sich am gestrigen 12. Mai 2024 infolge eines ukrainischen Angriffs.

Ukrainischer Angriff verursacht Gebäudekollaps

Bei diesem Angriff wurden Belgorod und seine Vororte massiv von den ukrainischen Streitkräften beschossen. Trümmer einer abgeschossenen taktischen Rakete vom Typ Tochka-U beschädigten ein zehnstöckiges Wohngebäude, was zum Einsturz eines Teils des Gebäudes führte.

"Die Rettungskräfte haben eine weitere Leiche gefunden. Insgesamt wurden bereits 15 Leichen aus den Trümmern geborgen", heißt es in der Mitteilung des Ministeriums. Die Rettungsarbeiten dauern weiterhin an.

Auf dem Kurznachrichtendienst Telegram wurde auch behauptet, vor Ort seien Raketenfragmente von GRM-70 Vampire Mehrfachraketenwerfersystemen (MLRS) aus Tschechien gefunden worden. Das russische Verteidigungsministerium hatte bereits im Januar erklärt, einen Raketenangriff der Ukraine auf die Region Belgorod erfolgreich abgewehrt zu haben.

Damals berichtete das US-Nachrichtenmagazin Newsweek, russische Abwehrkräfte hätten zehn Geschosse aus tschechischen RM-70, die von der Ukraine verwendet werden, zerstört. Diese Aussagen konnte von Newsweek allerdings nicht unabhängig bestätigen. Das ukrainische Verteidigungsministerium wurde damals kontaktiert, nahm zu den Thesen aus Moskau offenbar aber nicht weiter Stellung.

Belgorod: Im Fadenkreuz von Angriffen

Belgorod, eine Region an der Grenze zur Ukraine, war in den vergangenen Wochen und Monaten wiederholt Ziel von Angriffen. Während der frühen Phasen des vor fast zwei Jahren von Russland gegen die Ukraine eingeleiteten Krieges blieb die Region weitestgehend verschont. Dies änderte sich jedoch im Frühjahr 2023, als Belgorod mehrfach von proukrainischen bewaffneten Gruppen attackiert wurde. Die Ukraine hat jedoch nie Verantwortung für diese Angriffe übernommen.

Aufgrund der Angriffe seit Beginn dieses Jahres hat der Gouverneur von Belgorod, Vyacheslav Gladkov, bereits im Januar dazu geraten, das Gebiet rund 20 Meilen von der ukrainischen Grenze zu evakuieren. "Etwa 300 Bewohner von Belgorod, die sich entschieden haben, das Gebiet vorübergehend zu verlassen, werden derzeit in Notunterkünften in Stary Oskol, Gubkin und dem Korochansky Bezirk untergebracht", so Gladkov in einer am Montagmorgen auf Telegram veröffentlichten Nachricht.

Russland gibt Ukraine die Schuld

Das russische Verteidigungsministerium erklärte laut Newsweek, dass "ein Versuch des Kiewer Regimes, einen terroristischen Angriff mit dem RM-70 Vampire Mehrfachraketenwerfersystem auf Ziele auf dem Territorium der Russischen Föderation durchzuführen, gestoppt wurde. Die diensthabenden Luftverteidigungssysteme zerstörten 10 Raketen über der Region Belgorod."

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, machte Großbritannien und die USA für den Angriff auf Belgorod verantwortlich, bei dem 25 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt wurden.

Nato-Staaten geben Russland die Schuld

Ein Vertreter des französischen Außenministeriums wies hingegen dem Kreml bereits früher im Jahr die "volle Verantwortung" für die Opfer der Angriffe auf Belgorod zu und betonte: "Russland kann diesem Konflikt und den menschlichen Tragödien, die ihn begleiten, ein Ende setzen, für die es die volle Verantwortung trägt." Ähnlich hatten sich andere Mitgliedstaaten, der Nato mit Blick auf die Folgen westlicher Waffenlieferung an die Ukraine geäußert.

Die Lage ist für beide Seiten heikel. Russland wurde in der Vergangenheit mehrfach vorgeworfen, Zivilgebäude in der Ukraine angegriffen zu haben. Rechtlich ist das per se nicht verboten, wie ein Interview der Völkerrechtler Andreas Schüller erklärte.

Ein Raketenangriff auf Gebäude der Zivilbevölkerung wäre nur dann erlaubt, wenn diese Gebäude zu militärischen Zwecken genutzt werden und der erwartete militärische Vorteil größer ist als die potenziellen zivilen Verluste. Selbst in solchen Fällen müssen die angreifenden Parteien alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen treffen, um zivile Verluste und Schäden so gering wie möglich zu halten. Am Ende geht es lediglich um die Frage, ob der Angriff militärisch zu rechtfertigen wäre. Und die lässt sich so gut wie nie beantworten. Völkerrechtlich kritisieren, dass dies Kriegsparteien ein Freibrief zu Angriffen auf die Zivilbevölkerung gibt.

Kritik an Russland sein Kriegsbeginn

Die russische Armee steht seit Beginn der Inversion im Februar 2022 wegen wiederholter Angriffe auf zivile Infrastruktur in der Kritik. Völkerrechtler sehen allerdings auch die Stationierung von militärischen Einheiten in zivilen Gebäuden kritisch.

Auch die ukrainische Armee hat sich mit Angriffen mit Blick auf die Zivilbevölkerung bislang aber nicht zurückgehalten. Nach dem Raketenangriff auf einen Marktplatz in der ostukrainischen Stadt Kostjantyniwka im September 2023 hat die ukrainische Regierung eine Untersuchung angekündigt, die bis heute allerdings kein Ergebnis gebracht hat. Andreas Schüller, ein Experte für Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung, hatte im Telepolis-Inteview die Bedeutung und die Herausforderungen solcher Ermittlungen in einer Kriegssituation erläutert.

Die Rolle der Informationshoheit im Krieg

Schüller betont, dass in Kriegssituationen immer auch um die Informationshoheit gekämpft wird. Die Ukraine versucht, das Vertrauen ihrer Unterstützer zu sichern. Die New York Times hatte eine Recherche veröffentlicht, die nahelegt, dass die Rakete von ukrainischer Seite kam, eine These, die Kiew vehement zurückgewiesen hat. Schüller betont, dass die Transparenz der ukrainischen Ermittlungen und die Bereitschaft, den Untersuchungen der New York Times nachzugehen, entscheidend sein werden.

Die Herausforderungen der Ermittlungen

Die Ukraine führe Ermittlungen zu einer Vielzahl von Vorfällen durch, unterstützt durch internationale Hilfe, so Schüller. Ein Hindernis ist jedoch, dass das Land bisher nicht bereit sei, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes zu ratifizieren. Das Römische Statut bildet die Grundlage für Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofes. Die ukrainische Zivilgesellschaft fordert daher seit Langem die Ratifizierung und ein eindeutiges Bekenntnis zur unparteiischen Aufklärung aller Vorfälle.

Die Rolle internationaler Ermittlungen

Schüller weist darauf hin, dass bereits internationale Ermittlungen stattfinden. Die UN-Untersuchungskommission könnte den Vorfall in Kostjantyniwka in den Blick nehmen. Die Hinweise der New York Times legen nahe, dass es sich um eine technische Fehlleitung handeln könnte. Daher geht es zunächst um Aufklärung und nicht unbedingt um strafrechtliche Ermittlungen.

Die Frage der Verantwortung

Das Auswärtige Amt und der Europäische Auswärtige Dienst hatten im vergangenen September schnell Russland für den Angriff verantwortlich gemacht. Schüller betont jedoch, dass in jedem Einzelfall sehr genau geprüft werden muss, was getroffen wurde und woher die Raketen kamen. Erst nach Klärung dieser und anderer Fragen können Schlussfolgerungen über die Verantwortung gezogen werden.

Die Schwierigkeiten des Nachweises

Schüller erklärte im Telepolis-Interview, dass der Nachweis von Kriegsverbrechen oft schwer zu erbringen ist. Insbesondere bei Luftangriffen ist das Recht, das diese regelt, relativ schwach und begünstigt eher den Angreifer als den Schutz von Zivilisten. Daher ist es extrem schwierig, vornehmlich strafrechtlich, Beweise zu führen.