Rechte von Menschen mit Behinderung im Fall der Triage gestärkt
Das Bundesverfassungsgericht mahnt schnelle Vorkehrungen zum Schutz dieser Gruppe an, hält mögliche Verletzungen der Schutzpflicht aber für "begrenzt überprüfbar"
Diese Entscheidung sei nicht überraschend, aber erfreulich und "überhaupt nicht selbstverständlich", sagte der Anwalt der neun Klägerinnen und Kläger, Oliver Tolmein, zum "Triage-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts am Dienstag. Das Gericht in Karlsruhe hatte Regierung und Parlament verpflichtet, "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall der sogenannten Triage zu treffen.
Die Klägerin Nancy Poser sprach von großer Erleichterung, da es schwer sei, beim Thema Triage von Freude zu sprechen. Sie glaube, der Gesetzgeber habe verstanden, dass nicht ohne die Beteiligung gefährdeter Gruppen, in Ausschüssen hinter verschlossenen Türen über Triage-Kriterien entschieden werden könne. Die Grünen kündigten am Dienstag an, zügig im Bundestag über eine verfassungsgemäße Regelung zu beraten.
In welcher Form der Bundestag regelt, dass Menschen mit Behinderung oder schweren Vorerkrankungen bei einer Überlastung der Behandlungskapazitäten in der Pandemie nicht benachteiligt werden, ließ das höchste deutsche Gericht jedoch offen: Die Verletzung einer Schutzpflicht sei "aufgrund des weiten gesetzgeberischen Spielraums zur Ausgestaltung des Schutzes nur begrenzt überprüfbar", heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten Beschluss.
Eine solche Verletzung könne nur festgestellt werden, wenn Schutzvorkehrungen entweder gar nicht getroffen würden, wenn die Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben. Ärzte und Ärztinnen bräuchten rechtlich verbindliche Grundlagen für Entscheidungen, wen sie angesichts pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen retten sollen und wen nicht.
Verweis auf die Behindertenrechtskonvention
Das Bundesverfassungsgericht erklärte, aus dem Grundgesetz ergebe sich eine Pflicht für den Gesetzgeber, das höchstrangige Rechtsgut Leben zu schützen. Diese habe er verletzt, weil er keine Vorkehrungen getroffen habe. Mit der nun veröffentlichten Entscheidung vom 16. Dezember gab das Gericht neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Recht, die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten.
Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Der Erste Senat verwies dabei auch auf die Behindertenrechtskonvention.
"Dem Gesetzgeber steht hier grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu." Er könne selbst Vorgaben zu Kriterien von Verteilungsentscheidungen machen, so das Gericht.
Als weitere Beispiele nannte es Vorgaben für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen, Regelungen zur Unterstützung vor Ort und spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege, insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation zu vermeiden. "Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind", heißt es in dem Beschluss.
Die Präsidentin des Sozialverbands VDK, Verena Bentele, begrüßte die Entscheidung: "Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage", erklärte sie.
Das Gericht hatte hierfür zahlreiche Experten von Behindertenverbänden, dem Ethikrat, der Bundesärztekammer und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zurate gezogen.
Die Divi hatte mit anderen Fachgesellschaften "Klinisch-ethische Empfehlungen" zur Triage erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger waren aber bei den dort genannten Kriterien skeptisch, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchteten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer im Nachteil zu sein.
Ein Kläger, der jetzt 41 ist und die Prognose aus seiner frühen Kindheit
Das Bundesverfassungsgericht teilt diese Sorge und sieht die Gefahr "dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können". Es müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird".
Der Menschenrechtsaktivist Raul Krauthausen, der mit Glasknochen geboren wurde, betonte am Dienstag in diesem Zusammenhang, ihm sei als Kind attestiert worden, keine drei Jahre alt zu werden, inzwischen sei er aber 41.
Das Wort Triage stammt vom französischen Verb "trier", das "sortieren" oder "aussuchen" bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht – zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in den Kliniken landen, dass es nicht in ausreichender Zahl Intensivbetten gibt.
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