Rehabilitierung von Milošević?

Radovan Karadžić, de "verrückte Doktor", bei Verlesung des Urteils im März 2016. Bild: ICTY/CC-BY-SA-2.0

Nach dem Urteil gegen Radovan Karadžić könnte der im Gefängnis verstorbene jugoslawische Präsident, der als "Schlächter des Balkans" bezeichnet wurde, neu bewertet werden

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Zehn Jahre ist es her, dass Slobodan Milošević im Gefängnis des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag an einem Herzinfarkt verstorben ist (And Justice for None). Ein Urteil gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten wurde deshalb nicht mehr gesprochen. Nicht über seine Verantwortung im Bosnienkrieg und auch nicht im Kosovokrieg, wo die Anklage Milošević jeweils für schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Massaker, Deportationen, Völkermord und vieles mehr verantwortlich machte.

Um so interessanter ist, was der britische Journalist John Pilger kürzlich in seinem Blog schrieb: "Der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien in Den Haag hat in aller Stille den früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milošević vom Vorwurf der Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges 1992-1995, einschließlich dem Massaker in Srebrenica, freigesprochen." War Milošević also doch nicht der "Schlächter des Balkans", wie ihn wohl zuerst die Time 1992 genannte hatte? Ein nachträglicher Freispruch, kann das sein?

Slobodan Milošević 1999 vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Bild: ICTY/CC-BY-SA-2.0

Zunächst: Einen förmlichen Freispruch gibt es natürlich nicht. Der Internationale Strafgerichtshof vermerkt auf seiner Internetseite: "Verfahren gegen Slobodan Milošević beendet. Angeklagter verstarb in Haft am 11. März 2006." Dennoch hat sich der Strafgerichtshof noch mal zum Fall Milošević geäußert - nämlich in dem Urteil gegen Radovan Karadžić, den früheren Führer der bosnischen Serben. Ihn verurteilte das Gericht am 24. März 2016 zu 40 Jahren Haft, schuldig unter anderem wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Srebrenica.

Ein Urteil mit 2615 Seiten

In dem 2615 Seiten starken Urteil arbeitet das Kriegsverbrechertribunal die Beziehung zwischen Karadžić und Milošević auf. Und diese Darstellung hat es in sich: Demnach war Milošević nämlich keineswegs der irre Schlächter des Balkans, sondern viel eher Karadžić. Zwar habe Milošević die bosnischen Serben personell, logistisch und militärisch versorgt, so das Den Haager Gericht. Auch hätten beide das gleiche Ziel geteilt, "Jugoslawien zu bewahren und die Abspaltung oder Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina zu verhindern". Das berücksichtigend, kommt das Gericht in Punkt 3460 zu dem Schluss:

Aufgrund der der Kammer vorliegenden Beweise gab es unterschiedliche Interessen zwischen den bosnischen Serben und der serbischen Führung während des Krieges. Besonders kritisierte und missbilligte Milošević wiederholt die Politik und die Entscheidungen des Angeklagten und der Führung der bosnischen Serben. Die Kammer ist nicht überzeugt, dass die in diesem Verfahren vorgelegten Beweise ausreichen, dass Slobodan Milošević dem gemeinsamen Plan zugestimmt hat.

Internationale Strafgerichtshof

"Völliger Irrsinn"

Der "gemeinsame Plan" beinhaltete laut Punkt 3463, alle bosnischen Kroaten und Muslime aus Gebieten zu entfernen, die die bosnischen Serben bis zum 30. November 1995 unter ihrer Kontrolle hatten. Dagegen habe Milošević schon 1992 vor einer "explosiven" Lage in Bosnien-Herzegowina gewarnt und den Angeklagten aufgerufen, die Lage zu "beruhigen" (3280). Bei einem Treffen in Belgrad am 15. März 1994, bei dem auch der Angeklagte und Ratko Mladić (der derzeit in Den Haag vor Gericht steht wegen Völkermord in Srebrenica) waren, habe er klargestellt, dass "alle Mitglieder anderer Nationen und Ethnien geschützt werden müssen". "Das nationale Interesse der Serben ist nicht Diskriminierung" (3288).

Ab 1992, spätestens ab 1994, seien die Differenzen zwischen Karadžić und Milošević offensichtlich gewesen, so das Urteil in Fußnote 11027: Milošević habe die bosnischen Serben wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuerungen offen kritisiert. Je größer die Meinungsverschiedenheiten wurden, desto weniger Einfluss habe Milošević gehabt (3290).

Dass die bosnischen Serben den Vance-Owen-Plan ablehnten, habe ihn schwer geärgert (3289). Milošević habe sich für eine Verhandlungslösung eingesetzt und gewarnt, dass die Welt es nie akzeptieren werde, wenn die bosnischen Serben, die nur ein Drittel der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina stellten, die Hälfte des Territoriums bekämen (3290). Noch mehr Gebiete zu erobern habe er als "völligen Irrsinn" bezeichnet (3294).

"Der verrückte Doktor"

Wegen der Meinungsverschiedenheiten habe Jugoslawien seine Unterstützung für die bosnischen Serben 1993 und 1994 reduziert und auf eine Friedenslösung gedrungen (3292): "Die jugoslawische Führung wusste, dass die Führung der bosnischen Serben einige extreme Ansichten hatte und dass sie diese Ansichten nicht unterstützen konnte, etwa in Bezug auf ethnische Säuberungen."

Bei einem Treffen am 20. September 1994 mit Mladić und anderen habe Milošević den Bruch offen angesprochen und klargestellt, dass serbische Politik in Belgrad und nicht in Pale, der Hauptstadt der bosnischen Serben, definiert werde. Er habe ein Ende des Krieges gefordert und gesagt, der größte Fehler der bosnischen Serben sei es gewesen, eine komplette Niederlage der bosnischen Muslime anzustreben.

Unter Anspielung auf Karadžić, der Doktor der Medizin ist, sagte er: "Der verrückte Doktor glaubt wohl, dass Serbien vor ihm zu Kreuze kriecht - aber das wird nicht passieren" (3293). Im Mai 1995 sei auch internationalen Beobachtern klar gewesen, dass der Bruch zwischen Milošević und dem Angeklagten vollständig war. In einem Treffen am 3. Mai 1995 habe Milošević gesagt: "Ich habe gute persönliche Beziehungen zu Mladić. Aber solange Karadžić und Krajišnik da sind, werden sie keine friedliche Lösung akzeptieren." Im November 1995 sagte Milošević vor dem Obersten Verteidigungsrat von Jugoslawien, Pale sei das Haupthindernis für eine territoriale Aufteilung von Bosnien-Herzegowina (3297), und verurteilte alle Versuche, mehr als die Hälfte von Bosnien-Herzegowina zu erobern:

Wir stellen ein Drittel der Bevölkerung […] Wir haben nicht das Recht auf mehr als die Hälfte des Gebietes. Man darf nicht etwas nehmen, was einem anderen gehört! […] Wie kann man annehmen, dass zwei Drittel der Bevölkerung in 30 Prozent des Staatsgebiets gesteckt werden können, während für Sie 50 Prozent zu wenig sind?! Ist das menschlich, ist das fair?!

Milošević

Ende der Schuld?

Mit diesem Zitat enden die Passagen über Milošević in dem Urteil des Den Haager Strafgerichtshofs gegen Karadžić. Entsprechend feiern Milošević-Anhänger das Urteil jetzt. Es zeige, dass "Milošević unschuldig war" und "die Beschuldigungen gegen ihn und gegen Serbien, die Teilrepublik Jugoslawiens, falsch und erlogen waren", sagte der serbische erste Vize-Premier und Außenminister Ivica Dačić. Er ist Vorsitzender der Sozialistischen Partei Serbiens, in den 1990ern war er Pressesprecher der Partei, als Milošević ihr Vorsitzender war. Heute distanziert er sich gelegentlich von seinen alten Ansichten, gibt sich pro-westlich und will Serbien in die EU führen.

In Serbien hat mit dem Urteil die Debatte über die eigene Vergangenheit, die Ära Milošević und den NATO-Krieg gegen das Land 1999 wieder begonnen. Milutin Mrkonjić, Ehrenvorsitzender der Sozialisten, sagte: "Wir wissen alle, dass Milošević unschuldig war. Er sollte ein Denkmal und eine nach ihm benannte Straße erhalten."

Als "Spieler von Weltformat" bezeichnet ihn die Regierungszeitung "Politika". Arbeitsminister Aleksandar Vulin sagte: "Wenn dieses Tribunal anerkennt, dass Milošević nicht an organisierten kriminellen Vergehen beteiligt war, dann heißt das, dass Serbien im Recht war."

Neutraler Premier, wütende Opposition

Ministerpräsident Aleksandar Vučić lehnte es allerdings ausdrücklich ab, die Äußerungen seiner Minister zu kommentieren: "Ich habe keine Zeit, mich mit so was zu beschäftigen ... Ich habe nicht die geringste Lust, wieder in den 1990ern zu leben, ich lebe und arbeite für die Zukunft von Serbien."

Milošević-Gegner wittern indes "Geschichtsrevisionismus". Der Vorsitzende der oppositionellen Liberaldemokratischen Partei (LDP), Čedomir Jovanović, erklärte mit Blick auf Außenminister Dačić, "Politiker, die versuchen, ihre Rolle in einer tragischen Politik zu rechtfertigen, sind der Grund für die Stagnation."

Umstrittenes Denkmal

Im Internetdienst Twitter reagierten einige Nutzer belustigt auf den Vorschlag, Milošević ein Denkmal zu errichten. Unter dem Hashtag "ein Denkmal für Slobo" (#SpomenikSlobi) posteten sie Bilder, was sie an dessen Regierungszeit erinnere: Veröffentlicht wurden Banknoten aus der Zeit der Hyperinflation oder Flüchtlingstrecks.

Der serbische Präsident Tomislav Nikolić nimmt die Idee eines Denkmals dagegen ernst. Selbst einst Vizeministerpräsident unter Milošević, meinte Nikolić, er sei "hin- und hergerissen", ob ein Denkmal gebaut werden sollte. Es liege aber "nicht in seiner Macht", das zu entscheiden.

Gericht in Erklärungsnöten

Die Anklage in Den Haag sieht Milošević keineswegs als entlastet an. Geoffrey Nice, seinerzeit stellvertretender Ankläger im Prozess, zeigte sich empört, dass der Angeklagte jetzt reingewaschen werden solle. Es sei so "simpel wie unwiderlegbar", dass Serbien in dem Konflikt die meisten Verbrechen begangen habe, "und das führt zu Milošević".

"Slobodan Milošević ist kein Held", warnte auch der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien, Serge Brammertz, in einem Kommentar für Al Dschasira. Es gebe auch keine Entlastung, denn "die einzige Person, über die im Fall Karadžić geurteilt wurde, war Karadžić selbst", schrieb er. Die Beweislage gegen Milošević sei klar:

Unsere Ermittler haben überwältigende Beweise vorgelegt - mehr als 350 Zeugen und 5.700 Dokumente bestehend aus 150.000 Seiten -, die die behauptete kriminelle Verantwortlichkeit belegen. Bedauerlicherweise starb er 2006, bevor sein Verfahren abgeschlossen und ein Urteil gefällt werden konnte.

Serge Brammertz

Das Den Haager Gericht selbst betonte auf Nachfrage des österreichischen "Kurier", Milošević habe "den Bosnischen Serben Personal, Vorräte und Waffen während des Konflikts zur Verfügung gestellt". "Im Karadžić-Fall wurde Herr Milošević also tatsächlich nicht beschuldigt. (...) Das hat aber keinen Einfluss auf den Status seines eigenen Falles oder seiner eigenen kriminellen Verantwortung", so ein Gerichtssprecher.

Ein Freispruch?

Ist Milošević also nun entlastet und freigesprochen? Nein, denn erstens kommt in dem Gerichtsurteil der Kosovokrieg überhaupt nicht vor. Außerdem wäre zu diskutieren, ob die Ausführungen des Gerichts zum Verhältnis Milošević-Karadžić überhaupt zutreffen.

Aber es ist auf jeden Fall ein bemerkenswertes Urteil, schon allein deshalb, weil Milošević selber das Gericht in Den Haag gar nicht akzeptiert hat (Der Angeklagte als Ankläger). Für ihn war es nur Siegerjustiz.