Revolution im Rundfunk: Mitarbeiter rebellieren gegen Meinungskorridor im ÖRR
Manifest für Meinungsvielfalt: Mitarbeiter der öffentlich-rechtlichen Sender fordern radikale Reformen für echten Journalismus.
Sie wissen, was sie tun und wovon sie reden. Über hundert Personen haben das Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland unterzeichnet. Veröffentlicht wird dies auf einer Webseite, die den Kern ihrer Forderung in zwei Worte fasst: Meinungsvielfalt, jetzt.
Der Unterschied zur Kritik, die an den ÖRR wie auch an sogenannten Leitmedien schon seit vielen Jahren gerichtet wird – dass sich "zwischen Politik und Medien eine stille Übereinkunft über legitime politische Vorstellungen gebilde" habe (Die Zeit, Februar 2015): Sie kommt nicht von außen, sondern aus der Arbeitserfahrung in den Sendeanstalten.
Das gibt den Aussagen nochmal eine andere Wucht, zumal sie verbunden wird mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zum ÖRR:
Wir, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandradio, sowie alle weiteren Unterzeichnenden, schätzen einen starken unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland als wesentliche Säule unserer Demokratie, der gesellschaftlichen Kommunikation und Kultur. Wir sind von seinen im Medienstaatsvertrag festgelegten Grundsätzen und dem Programmauftrag überzeugt.
Beides aber sehen wir in Gefahr.
Meinungsvielfalt, jetzt
Klima der Angst und Einordnungen
Dem folgen Statements, die in Ausschnitten veranschaulichen, wie sich der "eingeschränkte Meinungskorridor" in der Arbeitswelt der Sender den Mitarbeitern vermittelt hat. Sie beschreiben ein "Klima der Angst":
Mein Eindruck ist, dass viele Kolleginnen und Kollegen selbst sehr stark von ihrer Angst geleitet werden und gar nicht offen sind für einen Diskurs.
Mitarbeiterin / Mitarbeiter, Westdeutscher Rundfunk (WDR)
Es gibt nur wenige im Haus, mit denen man sich verbunden und nicht verraten beziehungsweise unsolidarisch fühlt. Denn diejenigen, die in den vergangenen Monaten kritische Fragen gestellt oder eben auch mal nicht nur aus dem Öffentlich-Rechtlichen ihren Wissensdurst gestillt haben, sind rar.
Mitarbeiterin / Mitarbeiter, Südwestrundfunk (SWR)
Oder über Maßgaben der Einordnung:
Meine Beobachtung: In unserer Redaktion wird bei Sitzungen nicht darüber geredet, wie wir die Menschen mit unserem Programm möglichst vielfältig informieren und verschiedene Ansichten präsentieren könnten. Nein, es wird darüber geredet, wie man ein Ereignis mithilfe von Experten einordnen kann. Am Ende sieht die Regierung dabei meist gut aus.
Dazu werden dann in der Regel dieselben Experten von einschlägigen Stiftungen und Denkfabriken angerufen, die sich in der Vergangenheit als gute "Einordner" bewährt haben.
Mitarbeiter einer ARD-Anstalt
Auffällig an diesen Statements, und das zeigt sich auch bei anderen, ist, dass den Mitarbeitern bange ist, ihren Klarnamen zu nennen, dass die Erfahrungen, die man während der Corona-Zeit gemacht hat, als krasser Einschnitt erlebt wurden.
Wer unter Druck kam
Da wurde für die ÖRR-Mitarbeiter deutlich, dass es nicht mehr darum ging, wie es Uwe Krüger in seinem Buch zur Medien-Vertrauenskrise (Mainstream) schon 2016 formuliert hat: "Dass Medien das politische Entscheidungszentrum auf zu bearbeitende Probleme aufmerksam machen … und die Mächtigen durch die Formulierung von politischen Optionen unter Druck setzen."
Stattdessen kamen während der Corona-Zeit die unter Druck, die der Regierungspolitik gegenüber sich als unbequeme Journalisten oder Kritiker herausstellten. Namhafte Beispiele finden sich in der Unterzeichnerliste des Manifests.
Zentrale Kritikpunkte
So war der politische Umgang mit Corona, wie er sich in den Redaktionen gezeigt hat, auch ausschlaggebend für die Initiative, die nun in das Manifest gemündet hat.
Dessen Forderungen fußen auf einer Kritik, die, wie gezeigt, schon seit Jahren Lebenszeichen gibt, aber, ohne dass sich groß was geändert hätte: namentlich die "Eingrenzung des Debattenraums".
Wir vermissen den Fokus auf unsere Kernaufgabe: Bürgern multiperspektivische Informationen anzubieten. Stattdessen verschwimmen Meinungsmache und Berichterstattung zusehends auf eine Art und Weise, die den Prinzipien eines seriösen Journalismus widerspricht. Nur sehr selten finden relevante inhaltliche Auseinandersetzungen mit konträren Meinungen statt
Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland
Und damit verbunden: die Ausgliederung der Kritiker durch Herabsetzung.
"Stimmen, die einen – medial behaupteten – gesellschaftlichen Konsens hinterfragen, werden wahlweise ignoriert, lächerlich gemacht oder gar ausgegrenzt."
Auch die sogenannten Faktenchecks werden von der Kanzel geholt:
Das sorgfältige Überprüfen zweifelhafter Meldungen ist wichtig. Allerdings suggerieren sogenannte Faktenchecks oft durch ihre Machart, Überschrift und Formulierungen eine vermeintlich absolute Wahrheit, die selten existiert. Der freie gesellschaftliche Diskurs wird dadurch schmerzhaft beschnitten.
Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland
Die große Kulturkritik: Neue Horizonte
Die Verfasser machen anders als viele Kritiker hier nicht Halt, sie wollen grundsätzliche Veränderungen in der Zukunft: Das Geld soll anders verteilt werden, "in einem für alle geltenden Tarifvertrag geregelt". Also keine opulenten Zahlungen mehr für das Führungspersonal, wird hier angedeutet, plus eine Änderung der Bezahlung von Journalisten im "Maschinenraum".
Dass "zwei Drittel des redaktionellen Personals nur Zeitverträge haben oder gar komplett ohne Angestelltenverhältnis als sogenannte Freie arbeiten müssen" führe zu Existenzängsten und einem "angepassten Journalismus".
Gefordert wird grundsätzlich mehr Transparenz bei der Verwendung der Gelder und mehr Demokratie, mehr Partizipation der Beitragszahler.
Die Verwaltungsräte kontrollieren die Geschäftsführung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, doch wer kontrolliert die Verwaltungsräte? Das heißt: Es gibt keine Partizipation der Beitragszahler bei medienpolitischen, finanziellen und personellen Entscheidungen. (…)
Den Beitragszahlern gehört der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk. Ihre mehrheitliche Einbindung in den Kontrollgremien ist daher selbstverständlich. Diese Arbeit wird angemessen honoriert. Sie schließt die Wahrnehmung eines weiteren Amts, welches Interessenkonflikte birgt, aus.
Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland
Die öffentlich-rechtlichen Sender haben in den letzten Jahren viel Kritik an ihnen unter den Teppich gekehrt. Das fällt leichter, wenn die Kritiker als Akteure "eingeordnet" werden, die letztendlich darauf aus sind, demokratische Institutionen zu unterminieren. Nicht selten werden sie dem Milieu der AfD-Anhänger zugesellt. Was zu einer Polarisierung beiträgt, woraus die Neuen Rechte das meiste politische Kapital schöpfen können.
Das Manifest baut auf Kritik aus konkreten Erfahrungen. Daran kommen die Sender nicht so einfach vorbei. Das Bekenntnis zum ÖRR ist eindeutig, die Kritik erfolgt nicht aus einer unterhöhlenden Absicht, sondern Verbesserungen wegen. Vorgebracht werden dort Selbstverständlichkeiten der journalistischen Arbeit, etwa das Nicht-Abschotten gegenüber konträren Meinungen.
Es ist eine breit angelegte Kulturkritik, mit der sich die Sender auseinanderzusetzen verpflichtet sind, wenn es denn um die Pflege einer substanziellen demokratischen Diskussionskultur geht. Und nicht zuvörderst um einen erzieherischen Auftrag, wie es den Anschein macht.
Ob es, wie es die Verfasser des Manifests wünschen, zu einer größeren Debatte kommt, liegt nicht zuletzt daran, welches journalistisches Selbstverständnis im ÖRR vorherrscht, was von dort in die Diskussion kommt.