Revolution ohne Blut: Warum Gewaltlosigkeit der wahre Gamechanger ist

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Gewaltloser Widerstand ist erfolgreicher. Soziale Medien galten lange als Gamechanger für friedlichen Protest. Doch gerade sie werden für Aktivisten zunehmend zur Gefahr. (Teil 2 und Schluss).
Sie haben die Waffen, wir haben die Dichter. Deshalb werden wir gewinnen.
Howard Zinn
Gewaltloser Widerstand ist oft erfolgreicher als gewaltsamer Aufstand, wie die Forschung der Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth zeigt. In einer umfassenden Analyse von Widerstandsbewegungen seit 1900 stellte sie fest, dass über 50 Prozent der friedlichen Revolutionen erfolgreich waren, verglichen mit nur 26 Prozent der gewaltsamen. Eine entscheidende Erkenntnis ist die "3,5-Prozent-Regel".
Weitere Vorteile, die die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth bei der wissenschaftlichen Untersuchung von 627 Widerständen in den Jahren 1900 – 2019 belegen konnte:
• Ein friedlicher Widerstand wird von der Elite eher als Gesprächspartner wahrgenommen als bewaffnete Widerstandskämpfer.
• Friedliche Bewegungen führen zu stabileren und dauerhafteren Demokratien, weil schon in der Bewegung diese Tendenz angelegt ist.
• Gewaltlose Massenproteste verstärken und verbessern den Übergang zur Demokratie und kippen seltener in Bürgerkriege.
Das Problem mit Gewalt
Ein Teil der Gründe, die den Erfolg des gewaltlosen Widerstands und die geringe Aussicht auf Erfolg berklären, liegt in den bedenklichen Konsequenzen des Einsatzes von Gewalt. Der Sozialwissenschaftler Gene Sharp, Autor des Buches "Von der Diktatur zur Demokratie", warnt:
Wenn man auf gewaltsame Mittel vertraut, entscheidet man sich genau für die Art von Kampf, bei die Unterdrücker so gut wie immer überlegen sind.
Die wissenschaftlich belegten Folgen von Gewalt als Form des Widerstands:
• Erfolgreiche gewaltsame Umstürze kippen häufiger in autoritäre Regime als gewaltlose Formen.
• Auch gewaltloser Widerstand, bei dem es am Rand immer wieder zu Gewaltausbrüchen kam, endete häufiger in Bürgerkrieg oder in autoritärem Staat.
Bedingungen für Erfolg
Eine breite Beteiligung der unterschiedlichsten Bereiche der Gesellschaft ist für den Erfolg eines Widerstandes besonders wichtig. Chenoweth schreibt:
Je größer und vielfältiger die Teilnehmerbasis einer Kampagne ist, desto größer sind die Erfolgsaussichten. Eine Massenbeteiligung bringt den Status quo ernsthaft ins Wanken, macht eine fortgesetzte Unterdrückung unmöglich, führt zur Abkehr von den Institutionen und Anhängern des Gegners, häufig auch von den Sicherheitskräften, und schränkt die Möglichkeiten des Machthabers ein.
Chenoweth unterstreicht, dass es wichtig ist, auf folgende Aspekte des Widerstands zu achten:
• Besonderer Augenmerk soll darauf gelegt werden, die loyale Unterstützung von Regimebefürwortern ins Wanken zu bringen.
• Die Verwendung unterschiedlicher Techniken des Widerstands ist wichtig. In jedem Fall sollte man nicht nur Demonstrationen organisieren, sondern möglichst unterschiedliche und damit und unvorhersehbare Techniken verwenden.
• Gerade in Angesicht von genereller Unterdrückung und der drohenden Unterdrückung des Widerstands ist Disziplin und Resilienz besonders wichtig.
• Die Rolle der Frau im gewaltlosen Widerstand ist wichtig. Kaum ein Widerstand, der Frauen ausschloss, führte in der Geschichte zum Erfolg.
• Im Schnitt benötigen erfolgreiche gewaltlose Kampagnen 16 Monate Vorbereitung.
Grundsätzlich ist Mut für jeglichen gewaltlosen Widerstand entscheidend. So schrieb Mahatma Gandhi aus eigener Erfahrung:
Mein Credo der Gewaltlosigkeit ist eine äußerst aktive Kraft. Es hat keinen Platz für Feigheit oder gar Schwäche. Es gibt Hoffnung für einen gewalttätigen Menschen, eines Tages gewaltfrei zu sein, aber es gibt keine für einen Feigling.
Auch gegen Unternehmen
Spätestens seit den Massenprotesten gegen Nike in den 1990er-Jahren, als das Unternehmen wegen der Herstellung seiner Schuhe in Sweatshops massiv in Kritik stand, ist das Potential von Widerständen auch gegen Unternehmen deutlich, wie Naomi Klein in ihrem Klassiker "No Logo" beschrieben hat.
Chenoweths Forschung beweist überdies, dass gewaltloser Widerstand auch gegen Unternehmen erfolgreich sein kann.
In einer Studie zur Bewertung von Kampagnen gegen Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen in Thailand, Brasilien, Mexiko und Indonesien wurde beispielsweise deutlich, dass zivile Widerstandskampagnen in allen vier Ländern erhebliche Zugeständnisse von Unternehmen erreicht haben.
Aktuelles Problem: Soziale Medien
Während des Arabischen Frühlings war es ein Allgemeinplatz, Facebook zu loben, weil das soziale Medium bei der Organisation des Widerstands eine zentrale Rolle gespielt hat. Heute haben sich die Dinge etwas geändert. Chenoweth berichtet:
Die Daten deuten auch darauf hin, dass die Regierungen revolutionäre gewaltfreie Bewegungen häufiger als in früheren Jahrzehnten besiegen.
Die Daten zu diesen Bewegungen legen nahe, dass dieser offensichtliche Rückgang der Effektivität der Bewegungen mit den Veränderungen in der Art und Weise zusammenhängen könnte, wie sich diese Bewegungen im digitalen Zeitalter entwickelt und entfaltet haben.
Zuletzt sank die so vielversprechende Erfolgsquote des gewaltlosen Widerstands. Beispielsweise waren in Bahrain, der Türkei, dem Iran, Venezuela und Russland Massenbewegungen, die die Regierung herausforderten, schlussendlich erfolglos.
Der Hintergrund, wie Chenoweth entdeckte: Die zunehmende Nutzung des Internets zur Organisation des Widerstands macht es Regierung und Polizei einfacher, diesen zu brechen.
Die zunehmende Abhängigkeit der Aktivisten vom Internet erleichtert es zudem den Regierungen, jeden politischen Dissens zu verfolgen, das Entstehen des Widerstands frühzeitig zu entdecken, wichtige Teilnehmer und Organisatoren zu identifizieren, diese Netzwerke zu stören und sie daran zu hindern, sich erfolgreich zu organisieren.
Es gibt ein weiteres Problem, wie Chenoweth entdeckt:
Darüber hinaus kann das Internet nicht nur Aktivisten bei der Organisation helfen, sondern auch Regierungstreuen und Gegendemonstranten bei der Koordinierung ihrer Reaktionen.
Während des gescheiterten Aufstands in Bahrain im Jahr 2011 nutzte das Regime Facebook, um Gegenproteste zu organisieren und Loyalisten einzusetzen, die die Demonstranten mit Drohungen und Schikanen einschüchterten.
Patrick Meier berichtet, dass die Regierung während des gescheiterten Aufstands gegen Assad im Sudan 2011 Facebook nutzte, um in abgelegenen Gebieten loyale Truppen zur "Verteidigung" des Regimes aufzustellen und sogar vorgetäuschte Protestseiten einzurichten, um die Opposition zu fangen.
In einem Fall "schlossen sich Tausende von Aktivisten sofort dieser Gruppe an. Die Regierung änderte dann absichtlich den Zeitpunkt der Proteste am Tag, um Verwirrung zu stiften und stationierte die Polizei am Treffpunkt, wo sie prompt mehrere Dutzend Demonstranten auf einen Schlag verhaftete. Es gibt auch glaubwürdige Berichte, dass viele der Festgenommenen anschließend gefoltert wurden, um ihr Facebook- (und E-Mail-) Passwort preiszugeben".
Chenoweth nennt weitere Gründe der aktuellen Entwicklung, die es zu berücksichtigen gilt, um die Möglichkeit des erfolgreichen gewaltlosen Widerstands und Hintergründe besser zu verstehen:
Die heutigen Bewegungen sind kleiner als ihre historischen Vorbilder.
• Zeitgenössische Bewegungen scheinen sich mehr auf Demonstrationen zu stützen als auf andere Methoden der gewaltfreien Aktion, wie z. B. die massenhafte Verweigerung der Zusammenarbeit, Arbeitsniederlegungen, Warnstreiks, Boykotte oder Generalstreiks. Symbolische Widerstandsbekundungen schwächen nicht unbedingt die Machtquellen des Gegners.
• Zeitgenössische Bewegungen neigen zu "führerlosem Widerstand", anstatt rechenschaftspflichtige Führungsstrukturen aufzubauen, die bei der Koordination und Strategie helfen können.
• Zeitgenössische Bewegungen sind zunehmend durch weniger disziplinierte, gewaltfreie Aktionen gekennzeichnet. Dies ist wichtig, weil Gewalt am Rande der Bewegung dazu führt, dass sich die Anhänger entfremden, die Gesellschaften polarisieren und die harte Repression durch den Staat zunimmt, anstatt die Unterstützungsbasis und Bündnisse der Bewegung zu erweitern oder transformative Macht aufzubauen.
Gene Sharp führt in seinem extrem verbreiteten Ratgeber "Von der Diktatur zur Demokratie" im Anhang knapp 200 Methoden des gewaltfreien Widerstands an, die es zu studieren lohnt, um Ideen für eine breitere Palette an Widerstandsformen zu finden, als den von Chenoweth kritisierten Fokus einzig und allein auf Demonstrationen.
Wissenschaftlicher Ratschlag
Am Ende ihres aktuellen Buches "Civil Resistance" formuliert Chenoweth eine Reihe von Ratschlägen für einen erfolgreichen gewaltlosen Widerstand, die hier aufgrund ihrer Bedeutung ausführlich zitiert werden sollen:
Die einfachen Menschen sollten die richtigen Lehren aus den historischen Beispielen ziehen - dass einige grundlegende Muster klare Implikationen für heutige Bewegungen bieten. Erstens ist es wahrscheinlicher, dass Bewegungen, die vor der Massenmobilisierung eine sorgfältige Planung, Organisation, Ausbildung und Koalitionsbildung betreiben, eine große und vielfältige Anhängerschaft anziehen als Bewegungen, die auf die Straße gehen, bevor sie ein politisches Programm und eine Strategie entwickelt haben.
Zweitens ist es wahrscheinlicher, dass Bewegungen, die an Größe und Vielfalt zunehmen, erfolgreich sind – vor allem, wenn sie in der Lage sind, ihren Schwung beizubehalten.
Drittens ist es wahrscheinlicher, dass Bewegungen, die sich nicht nur auf Proteste, Demonstrationen und digitalen Aktivismus stützen, sondern auch durch parallele Institutionen, die Organisation von Gemeinschaften und Techniken der Nichtkooperation Macht aufbauen, eine effektive und nachhaltige Anhängerschaft gewinnen.
Viertens haben Bewegungen, die vorausschauend eine Strategie entwickeln, um intelligenter Repression entgegenzuwirken, größere Erfolgsaussichten – dies erfordert, Repressionstaktiken zu erkennen und zu identifizieren, wenn sie entstehen und sich weiterentwickeln.
Und schließlich können Bewegungen, die Instrumente und Strategien zur Aufrechterhaltung von Einheit und Disziplin unter Druck entwickeln, besser abschneiden als Bewegungen, die diese Entwicklungen dem Zufall überlassen.
Erica Chenoweth
Der zivile Widerstand habe sich in den letzten hundert Jahren als weitaus wirksamer erwiesen als der bewaffnete Widerstand, so Erica Chenoweth. Das gelte laut ihrer Forschung sowohl für die Durchsetzung wichtiger "progressiver Veränderungen und der Demokratisierung" als auch Vermeidung langfristiger humanitärer Krisen in der Zwischenzeit.
Letztlich sei der gewaltlose Widerstand zwar nicht immer erfolgreich, er funktioniere aber viel öfter, als seine Gegner glauben machen wollen.
Literatur:
Chenoweth, Erica: Why Civil Resistance Works
Chenoweth, Erica: Civil Resistance
Sharp, Gene: Von der Diktatur zur Demokratie