Rheinische Hexenküche brennt

Containerschiffe vor dem ChemPark Leverkusen. Bild: Bundesanstalt für Wasserbau - Leverkusen/Rhein/ CC BY 2.0

NRW-Chemieunfall: In Leverkusen explodieren drei Gifttanks. Es gibt Tote und Vermisste, wütende Anwohner und überforderte Behörden. Dazu viel Rauch in Sachen Information

Nach einer gewaltigen Explosion in einer Leverkusener Chemiemüllanlage sind dort am Donnerstagnachmittag drei weitere tote Arbeiter geborgen worden, zwei werden noch vermisst (Stand: Samstagabend). Die Zahl der Todesopfer stieg damit auf fünf. 31 Personen wurden nach Angaben der Betreiberfirma Currenta verletzt. Ein Schwerverletzter erlag seinen Verbrennungen in einer Kölner Klinik.

Die Detonation zeitigte nach Angaben von Hausbewohnern kilometerweite Auswirkungen, in Solingen wackelten noch die Fensterscheiben. Der Ort des Geschehens selbst glich nach dem Ereignis einem Trümmerfeld.

Riskante Cocktails

Laut Werksleitung ereignete sich der Unfall am Dienstagvormittag in einem Tanklager des Entsorgungs- und Recyclingzentrums Bürrig. Das Tanklager gehört zur Sondermüllverbrennungsanlage des sogenannten "Chemparks", in welcher Produktionsrückstände der ansässigen Firmen gesammelt und entsorgt werden.

Drei Tanks waren demnach in Brand geraten. Das gesamte Chem-Parkgelände erstreckt sich über eine Gesamtfläche von 480 Hektar und vereint rund 200 Betriebe mit über 31.000 Mitarbeitern. An dem Chemiestandort in Leverkusen werden mehr als 5.000 Chemikalien hergestellt.

Werk- und Stadtfeuerwehr brauchten Stunden, um das Feuer zu löschen. Brandexperten der Kölner Kriminalpolizei nahmen die Ermittlungen auf. Die Beamten richteten eine 16-köpfige Ermittlungsgruppe "Deich" ein. Der Name bezieht sich auf die Adresse der Müllverbrennungsanlage "Am Alten Bürriger Deich". Die Ermittler seien mit zwei Teams vor Ort, sagte ein Sprecher. Ein Team stand bereit, um zu dokumentieren und zusammen mit der Feuerwehr die Leichen zu bergen.

Am Mittag des Unglückstages, um 14.00 Uhr, gab es eine Pressekonferenz am Standort, die u.a. der Kölner Sender WDR übertrug. Werksvertreter sowie die Sprecher der Einsatzteams äußerten sich wenig erhellend zur Sache, das ursächliche Geschehen blieb völlig im Unklaren. Eher nebulöse Nichtinformation erhielt man auch bezüglich der gigantischen Rauchwolke, die sich während der PK massiv über die dicht besiedelte Stadtlandschaft der Umgebung ausbreitete.

Informationskatastrophe

Mehrfach mussten Mikrofone im Presseraum nachjustiert werden, die Klangqualität miserabel, Pressevertreter rückten umständlich eigene Mikrofone auf dem Podium hin- und her. Nach den spärlichen Angaben der Betreiberfirma Currenta lagerten in den Tanks "organische Lösungsmittel". Viel mehr war zunächst nicht zu erfahren.

Eine Stromleitung, die über das Gelände führt und in Mitleidenschaft gezogen war, musste erst umständlich vom Netz genommen werden. Während die Einsatzkräfte vor Ort versuchten, sich zum Brandherd vorzukämpfen und dabei hofften, eventuell noch Vermisste zu finden, verstrich die Zeit, was Information angeht.

Die ganze Informationslage gestaltete sich als eine Katastrophe in der Katastrophe: Außer selbstredenden Appellen gab es nicht viel zu hören. Türen und Fenster solle man geschlossen halten, Kinder nicht auf Spielplätze lassen. Gartenmöbel sollten nicht berührt und nicht abgespritzt werden, Obst und Gemüse aus den Gärten nicht verzehrt werden. Und wieso genau nicht?

Dieser Standort hat es in sich

Dem WDR zufolge ging das Landesumweltamt davon aus, dass "über die Rauchwolke Dioxin,- PCB- und Furanverbindungen in die umliegenden Wohngebiete getragen wurden". Wohngebiete, die teils weniger als einen Kilometer entfernt von dem Chemie-Standort liegen. Die Katastrophe macht eben auch klar: Dieser Standort hat es in sich.

Die Nachbarn im Leverkusener Ortsteil Bürrig, zu dem die Anlage gehört, wohnen gerade mal 800 Meter (in östlicher Richtung) vom Explosionsherd entfernt. Leverkusen-Wiesdorf im Süden ist ähnlich nah. Der Kölner Stadtteil Merkenich befindet sich westlich in nur etwa 1,5 Kilometer Entfernung. Im Norden liegt Leverkusen-Rheindorf mit knapp 1,5 Kilometer Luftlinie zum Unglücksort.

"Abstand halten, Hotline benutzen"

Am Tag 1 nach der Katastrophe tritt der Chempark-Leiter Lars Friedrich vor die Kamera und gibt sich betont sachlich, ohne näher auf die freigesetzten Chemikalien einzugehen. Da ist die Rede von einer "Klasse von Reststoffen, die in der Chemie anfallen", sogenannte organische Lösungsmittel, das klingt alles wenig beängstigend und wenig konkret. Man könne die ausgetretenen Stoffe vergleichen mit "haushaltsüblichen", aber auch "durchaus gefährlichen Chemikalien". Im Wörtchen "Haushalt" soll wohl Beruhigungspotenzial zur Anwendung gelangen.

Zum Teil seien die Reststoffe unvollständig verbrannt. Alles klar also? Die Kollegen vor Ort müssten zuerst mal Proben einsammeln, "jedem einzelnen Hinweis nachgehen", die Analytik müsse "sehr breit aufgesetzt werden", das sei "methodenbedingt", man wolle "sichere Ergebnisse haben", alles "sehr komplex".

Die besorgten Anwohner aus den umliegenden Wohngebieten und den benachbarten Städten und Gemeinden erhalten weniger komplexe Ratschläge: "Abstand halten, Hotline benutzen" lautet der simple Rat, dutzendfach wiederholt. Die Angesprochenen wundern sich, dass alles so lange dauert, dass man nichts Konkretes erfährt, machen sich Sorgen um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder und mancher fragt sich: Was ist Aufklärung, was Verschleierung?

Anwohner fragen

Die Statements und Floskeln in den Pressekonferenzen lassen so manchen "enttäuschter und verwirrter zurück, als wenn sie gar nicht stattgefunden hätten", so merkt eine Anwohnerin im Interview an. "Solch ein Unternehmen hat die Verpflichtung, mehr als umfassend und schnell bei so einem Ereignis zu informieren. Lückenlos. Sofort. Unbürokratisch". Findet sie jedenfalls.

Eine Äußerung, die dafür steht, was offenbar viele Leverkusener Bürgerinnen und Bürger empfinden: Kritik am Tempo und an mangelnder Transparenz bei der Aufklärung der Öffentlichkeit.

Nicht ignorieren kann ich die lückenhafte und schleppende Aufklärung der zuständigen Firma nach dieser Druckwelle, die mir durch Mark, Bein und Herz gegangen ist, die so viele Opfer gefordert hat.

Victoria Ishag gegenüber RP-Online

Die Leverkusenerin hakt dann noch konkreter nach als mancher auf der Pressekonferenz: "Warum plant man ein Gelände so, dass eine Stromleitung erst eine Stunde lang vom Netz genommen werden muss, bevor überhaupt mit den Löscharbeiten begonnen werden kann? Womit hat der Tankinhalt reagiert, dass es zur Explosion kommen konnte? Warum werden die armen Bewohner von Bürrig allein gelassen mit einer nicht funktionierenden Hotline und tennisballgroßen verseuchten Rußpartikeln im Garten?"

Die Staatsanwaltschaft hat nach der Explosion in der Müllverbrennungsanlage ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung eingeleitet. Zudem werde wegen fahrlässigen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion ermittelt, teilte die Behörde mit. Der Vorwurf richtet sich gegen Unbekannt.

"Dioxin-, PCB- und Furanverbindungen"

"Was ist in Leverkusen wirklich passiert? (…) Wieviel giftige Substanzen wurden NICHT verbrannt, sondern lediglich in die Atmosphäre getragen? Wieviel tödliches Dioxin ist bei diesem Chemieunfall entstanden? Und wen bedroht es in welchem Umfang?" fragt Roland Appel, Autor und Kommentator mit politischem Hintergrund, auf seinem Blog. Die Informationslage nennt Appel, der auch als Unternehmensberater tätig ist, "ein Desaster".

Im Falle Bayer Leverkusen und seiner diversen Subunternehmen am betroffenen Standort scheint es weder Transparenz, noch klare Verantwortlichkeiten zu geben. (…) Dioxin, PCBs (Polychlorierte Biphenyle), organische Kohlenwasserstoffe und sogar radioaktive Substanzen sollen in den drei explodierten Tanks in der Chemieabfalldeponie zusammengeschüttet und gelagert worden sein.

Roland Appel

Das nordrhein-westfälische Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) spricht von "Dioxin,- PCB- und Furanverbindungen". Am Freitag (30. Juli) wird auf einer Pressekonferenz über "erste Ergebnisse" der Untersuchungen informiert. Die Meldungen zum Wochenende hin lauten: "Keine Rückstände von Dioxin in Rußpartikeln festgestellt". Die ganze Wahrheit scheint das aber (noch) nicht zu sein.

Die Untersuchungen der Ruß- und Staubrückstände, die nach dem Brand in den umliegenden Wohngebieten niedergingen, hätten demzufolge nur eine geringe Schadstoffbelastung ergeben. Es seien keine Rückstände von Dioxin und dioxinähnlichen Stoffen in den Rußpartikeln festgestellt worden, teilt das Amt mit. Bei den Polychlorierten Biphenylen (PCB) und den Polyzyklischen Aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) seien nur geringe Werte gemessen worden, die die Bewertungsgrenzen unterschritten. Weitere Ermittlungen, welche Stoffe noch bei dem Unfall beteiligt waren, dauerten noch an.

Aber festhalten kann man als Beobachter dennoch einiges.