Richtungswechsel zu Ukraine? Erster Nato-Staatschef offen für Verhandlungen mit Moskau
Petr Pavel: "Brauchen Ende des Krieges". Tschechiens Präsident fordert mehr Realismus mit Blick auf den Konflikt. Putin-Versteher ist er nicht – ganz im Gegenteil.
Tschechiens Präsident Petr Pavel hat sich in einem Interview mit dem britischen Fernsehsender Sky News für einen "realistischen Kurs" westlicher Staaten gegenüber dem laufenden Krieg in der Ukraine ausgesprochen. Erstmals plädiert mit Pavel der Staatschef eines Nato-Mitglieds dafür, mit Russland eine Verhandlungslösung zu suchen, um diesen Krieg in Europa zu beenden – und fordert zugleich Kiew zum zumindest vorübergehenden Gebietsverzicht im Osten auf.
In dem kurzen Interview mit Sky-News-Moderatorin Yalda Hakim betont Pavel, dass eine Aufnahme der Ukraine in die Nato erst nach Beendigung des Krieges in der Region in Betracht gezogen werden könne. Zugleich äußert Pavel Skepsis hinsichtlich der Aussichten der Ukraine, zeitnah die volle Kontrolle über die von Russland besetzten Gebiete wiederzuerlangen. Er betonte, dass zunächst der Krieg gestoppt werden müsse, bevor über eine nachhaltige Regelung verhandelt werden könne.
Realismus statt Naivität
Auf die Frage, ob die Ukraine nun Verhandlungen mit Russland zur Beendigung des Konflikts aufnehmen sollte, antwortete Pavel, dass die Ukraine in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein werde, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern.
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"Wir müssen realistisch sein. Es wäre naiv zu glauben, dass die Ukraine demnächst die volle Kontrolle über ihr Territorium wiedererlangen kann. Russland wird die Gebiete, die es derzeit besetzt hält, nicht aufgeben", so Pavel Analyse der militärischen und politischen Lage, zwei Jahre nach der russischen Invasion in die Ukraine.
Kompromiss als mögliche Lösung
Pavel schlug vor, dass eine mögliche Lösung für die Situation in Form eines Kompromisses gefunden werden könnte, dem die Ukraine jedoch zustimmen müsste. "Was wir jetzt brauchen, ist ein Ende des Krieges und dann können wir über eine künftige Regelung verhandeln. Es könnte zu einem Kompromiss kommen. Aber dieser Kompromiss kann nicht ohne die Zustimmung der Ukraine, Russlands und der Länder, die Garanten dieser Vereinbarung sein werden, erreicht werden", fügte er hinzu.
Rückblick auf die russische Offensive
Pavel sprach auch über die aktuelle russische Offensive, die insbesondere in der Region Charkow stattfindet, wo Russland wahrscheinlich eine Pufferzone schaffen will.
"Was wir sehen, ist das Ergebnis einer langen Vorbereitung. Es war klar, dass Russland mit dem Einsetzen des besseren Wetters eine Offensive starten würde. Die Ukrainer haben sich lange darauf vorbereitet. Sie haben uns um erhöhte Unterstützung, Munition und technische Ausrüstung gebeten", sagte Pavel.
Georgien und die Sicherheit der EU
Der tschechische Präsident äußerte sich auch zur aktuellen Situation in Georgien, wo in den letzten Wochen Proteste stattgefunden haben. Pavel sieht in Georgien eine wiederkehrende Situation pro- und antirussischer Kräfte.
Die Menschen seien frustriert über die freundliche Haltung der aktuellen Regierung gegenüber Russland, obwohl Georgien seine Bestrebungen, Teil der EU oder der NATO zu werden, nicht aufgegeben habe. Pavel glaubt, dass die Unruhen in Georgien von Russland unterstützt werden: am Ende komme die Instabilität in Georgien Russland zugute.
Europas Sicherheitslage
Angesprochen auf die aktuelle Sicherheitslage in Europa und zunehmende Probleme im Verhältnis zu den USA, äußerte sich Pavel kritisch. Er glaubt, dass Europa angesichts der größten Sicherheitsrisiken seit dem Zweiten Weltkrieg "nicht flexibel genug" reagiere.
Die Regierungen des Euroraums würden der Verteidigungsindustrie keine klaren Anforderungen und Garantien für die Übernahme der militärischen Produktion geben. "Wir müssen wirklich viel flexibler sein, wenn es um unsere eigene Sicherheit geht", betonte Pavel. Dies würde nicht nur den Europäern, sondern auch den US-Amerikanern dienen, da sie einen gleichberechtigten Partner in Europa bräuchten und nicht einen Abhängigen.
Die militärische Unterstützung Kiews
Hinblick auf die militärische Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten äußerte Pavel ebenfalls Kritik.
Ich bin mir sicher, dass die Ressourcen der Europäischen Union zusammen mit denen unserer nordamerikanischen Verbündeten ausreichen, um die Ukraine so zu unterstützen, dass sie auf dem Schlachtfeld gewinnen kann. Wenn wir jedoch zu vorsichtig mit unseren Lieferungen sind und ständig das Risiko einer Eskalation bewerten … Die Ukrainer verlieren ihr Leben, verlieren Territorium und könnten am Ende sogar den Krieg verlieren.
Petr Pavel
Realistische Erwartungen
Pavel hatte bereits zuvor darauf hingewiesen, dass realistische Erwartungen hinsichtlich des Krieges in der Ukraine notwendig sind. Er hatte in diesem Kontext auch das Zögern westlicher Länder, insbesondere der USA, bei der Genehmigung weiterer militärischer Hilfe für die kämpfenden Ukrainer beanstandet.
"Die kühnen Hoffnungen, dass die Ukrainer, die die Initiative ergriffen haben, die Besatzer verdrängen würden, haben sich nicht erfüllt. Die Ukraine gerät in die Defensive", stellte Pavel bereits im März fest. Die ukrainische Bevölkerung leistet jedoch Widerstand, gerade weil sie erkannt hat, zu was die Besatzer fähig sind, fügte er damals hinzu.