Rückeroberung der Krim: Traum oder Albtraum?
Kiew spricht von einer Rückeroberung der Halbinsel. Dabei verkennt die Regierung, wie sich die Stimmung der Bevölkerung dort von der auf ukrainischem Festland unterscheidet. Auch westliche Umfragen bestätigen das.
Deutsche Medien sind voll von freudigen Spekulationen: Die Halbinsel Krim, immerhin seit 2014 an Russland angeschlossen, könnte noch im Dezember von der Ukraine zurückerobert werden.
Ausgelöst wurden diese Spekulationen auch durch ein Interview, dass der stellvertretende ukrainische Verteidigungsminister Wolodymyr Havrylov dem Sender Sky News gab und in dem er ein Ende des Krieges mit ukrainischem Sieg für den Frühling in Aussicht stellte. Auch Andriy Yermak, Büroleiter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, sprach von einer kommenden Offensive der Kiewer Truppen zur Rückeroberung der Krim.
Noch sind die ukrainischen Truppen weit von der Krim entfernt
Die Frankfurter Rundschau erzählt aktuell davon, dass erste Russen die Krim bereits verließen. Sie unterschlägt dabei, dass praktisch alle Bewohner der Halbinsel russische Staatsbürger sind und eine tatsächlich im August stattgefundene Fluchtwelle Urlauber betraf, nachdem Angriffe aus der Luft auf Krim-Stützpunkte ausgeführt wurden. Die Einheimischen sind weiter vor Ort - die Krim ist vielmehr ein Rückzugspunkt für Kollaborateure der russischen Truppen, die aus den geräumten Gebieten der Region Cherson geflohen sind.
Tatsächlich stehen die ukrainischen Truppen noch nicht am Übergang zur Halbinsel. Der Teil der Region Cherson, den sie nun erobern konnten, liegt nordwestlich von ihr – auf der falschen Seite des Dnjepr-Stroms, um die Offensive wirklich sofort fortsetzen zu können. Aktuell befestigen die russischen Truppen in der Defensive jedoch nicht nur das Ufer des Stroms, sondern als mögliche Rückzugsstellung den Eingang der Krim, wie Regionschef Sergej Aksjonow in seinem Telegram-Kanal bestätigte.
Auch der russische Duma-Abgeordnete Andrej Gurulew sprach öffentlich von der Notwendigkeit der Verstärkung der Krim-Verteidigung.
Krasser reagierte Putins früherer Premier und Übergangspräsident Dmitri Medwedew auf die in Kiew verkündeten Planungen. Er schwadronierte bei Telegram davon, dass es sich bei Kiew um eine russische Stadt handele, in der man stets immer nur Russisch gedacht und gesprochen habe. Medwedew sprach damit einmal mehr der gesamten Ukraine ein Recht auf Staatlichkeit ab.
Die Bevölkerung in Cherson und auf der Krim ist sehr verschieden
Was in deutschen Berichten seit Kriegsbeginn unterschlagen wird – wohl aus Rücksicht auf die ukrainischen Verbündeten – ist die völlige Unterschiedlichkeit der Region Cherson und der Krim.
Cherson galt vor der russischen Besetzung nie als besondere Hochburg des Anti-Maidan oder gar der prorussischen Bewegung in der Ukraine. Die Mehrheit der Bewohner war vor dem Krieg ukrainischer Muttersprachler und die ukrainischen Bilder von freudig von Kiewer Truppen befreiten Einheimischen dürften der Wahrheit entsprechen (wobei kollaborierende Ukrainer zuvor aus diesen Gebieten aus Angst vor Racheakten geflohen sind).
Ganz anders die Krim. Die Annexion im Jahr 2014 ging auf der Halbinsel nicht zuletzt deswegen ohne Abgabe eines einzigen Schusses vonstatten, da sie von der weiten Mehrheit der meist russisch sprechenden Bevölkerung unterstützt wurde. Der russische Plan, der Anfang 2022 bei Kiew scheiterte, eine Eroberung im Handstreich, gelang 2014 auf der Krim voll und ganz.
Selbst westliche Meinungsumfragen vor Ort von Gallup oder dem deutschen Forschungsunternehmen "Gesellschaft für Konsumforschung" (GfK) ergaben große Mehrheiten für eine russische Krim, sowohl während als auch nach dem Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit. Bei GfK 2015 waren es 82 Prozent Unterstützung für den Anschluss an Russland, nur elf Prozent wären lieber bei der Ukraine geblieben. Bei Wahlen zählt die Krim stets zu den Hochburgen kremlnaher Kräfte.
Kiews Truppen wären auf der Krim im Feindesland
So wären ukrainische Invasoren auf der Halbinsel mit der für sie komplett neuen Situation konfrontiert, vor Ort fast die gesamte Bevölkerung gegen sich zu haben. Sie müssten mit Sabotageakten und Anschlägen auf die eigenen Soldaten rechnen. Die örtliche Verwaltung würde gegen sie arbeiten, die 2014 mit fliegenden Fahnen nach Russland über ging.
Die Krim besitzt darüber hinaus für Russland einen hohen Symbolwert, ganz anders als die vier erst kürzlich annektierten Regionen der Ukraine. Jedes Eindringen von ukrainischem Militär auf die Halbinsel würde die aktuell eher kriegsmüde Stimmung in Russland in eine revanchistische Welle verwandeln.
Völkerrechtliche Argumentationen, wie sie deutsche Journalisten zum Thema gerne anwenden, werden dabei sowohl den Einheimischen als auch den Russen im Mutterland völlig egal sein.
Auch ukrainischer Druck würde an dieser Situation nichts ändern. 2014 nach dem Euromaidan und dem Wechsel der Krim riegelte Kiew den sogenannten Nord-Krim-Kanal, in der Region Cherson gelegen, mit einem Staudamm ab, der zuvor 85 Prozent der örtlichen Wasserversorgung sicherte. Der folgende Wassermangel auf der Halbinsel führte mitnichten zu einer Änderung der konsequent prorussischen Stimmung.
Die Krim-Infrastruktur wird ausgespäht
Währenddessen laufen Vorbereitungen für einen ukrainischen Eroberungsversuch an und die Methoden, mit denen eine Invasion vonstatten gehen würde, scheinen nicht so viel anders zu sein als die russischen in der übrigen Ukraine: Einer Zerstörung der zivilen Infrastruktur. So sind wohl Schläge auf die Stromversorgung geplant, wie eine kürzlich abgeschossene ukrainische Aufklärungsdrohne über einem Umspannwerk des Krim-Ortes Kafa zeigt.
Doch noch sind die Kiewer Träume von einer Krim-Rückeroberung weit von einer Realisierung entfernt. Die Halbinsel verbindet mit dem ukrainischen Festland die nur neun Kilometer breite Landenge von Perekop, was Verteidigern einen strategischen Vorteil gegenüber potentiellen Invasoren verschafft.
Eine rasche Eroberung der Krim könnte den Ukrainern nur gelingen, wenn sich die russische Armee zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger in Auflösung befindet - und einen solchen Zustand der Russen bereits im Dezember zu erwarten, ist weit mehr als Optimismus auf Seiten von Kiew.
Sollte der Krieg in einem Verhandlungsfrieden enden, wäre es vielmehr ein strategisch günstiger Schachzug für die dortige Regierung, die Halbinsel als Verhandlungsmasse einzubringen, an der man sich nicht gegen den Willen der einheimischen Bevölkerung festkrallt.