Run auf die Börsen: Warum die Demokratisierung von Aktienvermögen ein Traum bleibt
Seite 2: Auswirkungen: Oberstes Zehntel erhöht seinen Anteil leicht
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Wie steht es nun mit dem Versprechen, das Vermögen zu demokratisieren, auch die unteren Bevölkerungsschichten endlich an steigenden Aktienkurse teilhaben zu lassen? Der wirklich starke Run auf die Neo-Broker begann Ende 2019. Wie hat sich seither die Demokratisierung der Vermögen entwickelt? Haben die Neueinsteiger und Kleinanleger mittlerweile einen höheren Anteil am Aktienvermögen?
Der Aktienindex Standard & Poor's 500 (S&P 500), der die 500 größten börsennotierten US-Firmen umfasst, stand Ende 2019 bei etwa 3.240 Punkten und Ende März 2021 bei 4.020. Das entspricht einem Zuwachs von 24 Prozent. Laut US-Notenbank besaßen Ende 2019 die oberen zehn Prozent der US-Amerikaner 88,29 Prozent aller Aktien, Ende März 2021 (das sind die letzten vorliegenden Zahlen) gehörten ihnen 88,66 Prozent. Das oberste Zehntel der US-Bevölkerung konnte seinen Anteil in diesen 15 Monaten Run der Kleinanleger auf die Börsen also leicht erhöhen. Das klingt nicht gerade nach Demokratisierung der Vermögen. Entsprechend sank der Aktienanteil der "unteren" 90 Prozent der Bevölkerung von 11,71 auf 11,36 Prozent.
Praktisch überhaupt keine Rolle bei den Aktienvermögen spielen die unteren 50 Prozent der US-Amerikaner, also die Hauptzielgruppe der Neo-Broker. Ende 2019 besaßen sie 0,558 Prozent aller Aktien, bzw. 5,58 Promille. Ende März 2021 betrug ihr Anteil 0,561 Prozent bzw. 5,61 Promille. Rundet man auf zwei Stellen hinter dem Komma, blieb ihr Anteil bei 0,56 Prozent, er hat sich also so gut wie nicht verändert.
Angesichts der wohl weit über 20 Millionen Neukunden und der in Summe nicht unerheblichen Gelder, die von ihnen in die Aktienmärkte gesteckt wurden, ist das ein recht ernüchterndes Ergebnis: Die untere Hälfte der US-Bevölkerung besitzt nach wie vor einen verschwindend geringen Teil des Aktienvermögens: Etwa eine von 200 Aktien gehört jemand aus der unteren Bevölkerungshälfte, 199 von 200 Aktien gehören der oberen Hälfte. Die oberen ein Prozent der US-Bürger besitzen 20.000 Milliarden Dollar Aktienvermögen, die unteren 50 Prozent 210 Milliarden. Das sind nach wie vor nicht gerade demokratische Aktienvermögensverhältnisse.
Kleinanleger als Preistreiber
Was ist also durch die Neo-Broker geschehen? Der Zustrom der zusätzlichen Gelder von Kleinanlegern an die Börsen hat die Aktienpreise weiter in die Höhe getrieben, aber zu keiner Demokratisierung der Vermögen geführt. Am 1. Januar 2020 lag das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 bei knapp 25. Bis zum 1. April 2021 stieg es auf etwa 44. Derzeit liegt es bei 46 und ist damit etwa dreimal so hoch wie im Durchschnitt der letzten 150 Jahre. Die Aktien sind zurzeit so teuer wie noch nie in der US-Geschichte. Man muss heute dreimal so viel für einen erwarteten Dividendenstrom zahlen wie im Durchschnitt der letzten 150 Jahre. Die vielen neuen, jungen, zum größten Teil vollkommen unerfahrenen Kleinanleger werden also mit fragwürdigen Marketing-Methoden in riskante Käufe zu stark überhöhten Preisen getrieben.
Dazu kommen die oben erwähnten extrem günstigen Kreditbedingungen, die viele Kleinanleger in Verschuldung über Lombardkredite (durch Wertpapiere besicherte Kredite) treibt. Das erhöht das Risiko eines Totalverlustes. Außerdem ist bei Robinhood der Anteil der Einnahmen aus dem Optionshandel sehr hoch. Im ersten Quartal 2021 entfielen etwa 60 Prozent aller Handelseinnahmen auf den Handel mit Optionen, also Umsätze mit extrem volatilen und riskanten Spekulationspapieren. Die Kleinanleger gehen also offenbar deutlich überdurchschnittlich hohe Risiken ein. Das kann ein böses Erwachen bescheren.
Analogie zum Immobilienboom bis 2007
Das Neo-Broker-Schema wirkt meines Erachtens wie ein Schneeball- oder Ponzi-System: Die nachkommenden Gelder treiben die Kurse weiter in die Höhe, bis die Blase platzt. Die Letzten beißen die Hunde. Die Vorgehensweise erinnert an die Immobilienblase in den USA bis 2007. Auch damals wurde den unteren Bevölkerungsschichten versprochen, an den Immobilienpreissteigerungen teilnehmen zu können. Die Eigentumsquote sollte erhöht werden und wurde erhöht. Eine ganze Weile ging das auch gut. Von Ende 1998 bis 2005 stieg die Eigenheimquote in den USA tatsächlich von unter 66 auf über 69 Prozent, um dann im Zuge der Immobilienkrise auf 63 Prozent abzufallen. Vor den Lockdowns, Anfang 2020, hatte sie sich wieder auf etwa 65 Prozent erholt. Im Endergebnis ist also durch das Versprechen, die unteren Bevölkerungsschichten am Immobilienvermögen stärker zu beteiligen, das Gegenteil erreicht worden.
Etwas Ähnliches ist dieses Mal wieder zu befürchten. Geschäftstüchtige Broker aus den gehobenen Bevölkerungsschichten locken die unprofessionellen Kleinanleger mit hochintelligentem Marketing immer stärker in Wertpapierinvestments, entlocken den einfachen Leuten einen ordentlichen Teil ihrer staatlichen Unterstützungszahlungen und verdienen ein Vermögen daran. Die ganzen neuen, unerfahrenen Kleinanleger steigen, historisch betrachtet, zu weit überhöhten Aktienkursen ein. Ihnen wird vorgespiegelt, besonders klug und viel fitter als die etablierten Dinosaurier zu sein.
Ich fürchte, eines Tages wird dieses Kartenhaus einstürzen. Die von den vielen Millionen Kleinanlegern seit eineinhalb Jahren zusätzlich an die Börsen fließenden Gelder befeuern den laufenden, durch die Niedrigzinspolitik geförderten Aktienboom noch zusätzlich. Die Überbewertung wird dadurch noch etwas höher getrieben, die "irrational exuberance" verstärkt. Die Bereinigung wird daher noch etwas stärker ausfallen. Absackende Finanzmärkte drücken normalerweise auch die Realwirtschaft mit nach unten. Das sind keine guten Aussichten.
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Homepage: www.menschengerechtewirtschaft.de
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