Russland: Hohe Arbeitslosigkeit und großer Arbeitskräftemangel
Situation auf dem Arbeitsmarkt mitten in der Coronavirus-Pandemie ist paradox
Insbesondere die Baubranche hat einen so massiven Mangel an Arbeitskräften, dass die Arbeiten in ganzen Regionen zum Erliegen kommen. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit landesweit die höchste seit zehn Jahren. Wie kann das gleichzeitig sein?
Arbeitsmigranten verlassen Russland ohne Ersatz
Meist schlecht bezahlte oder anderweitig unattraktive Segmente des russischen Arbeitsmarktes werden von Migranten dominiert. Etwa der Baubereich, die Entsorgung, Hilfsarbeiten in der Gastronomie oder bei Lieferdiensten. Das ist gar nicht so anders als in Mittel- und Westeuropa, jedoch kommen die ausländischen Arbeitskräfte zwischen Kaliningrad und Kamtschatka vor allem aus Mittelasien und Kaukasusstaaten.
Zwischen neun und elf Millionen Arbeitsmigranten hielten sich laut dem russischen Innenministerium zum Jahresbeginn 2020 in der Russischen Föderation auf - viele legal mit Arbeitsgenehmigungen, andere illegal und die meisten in prekärer Beschäftigung.
Nach dem Pandemiejahr 2020 sollen es aktuell nur noch sechs Millionen sein, zitiert RIA Nowosti den Pressedienst des russischen Innenministeriums - eine Reduzierung um mehr als ein Drittel. Das hat mehrere Ursachen. Zum einen schloss die Russische Föderation nach dem internationalen Ausbruch von Covid-19 seine Grenzen für die Einreise zur Eindämmung der Infektion.
Viele Arbeitsmigranten, die sich zuvor noch nicht fest in Russland verwurzelt hatten, kehrten in die alte Heimat zurück, andere verloren durch die beginnende Wirtschaftskrise ihre Jobs und kehrten deswegen dem Arbeitsort und -land den Rücken.
Arbeitstrends in Russlands Wirtschaft
Auch innerhalb der russischen Wirtschaft gab es große Verschiebungen, wo das Heer der Migranten eingesetzt ist. Eine wichtige Rolle spielen Arbeitsmigranten traditionell in Hilfsjobs auf Baustellen. Manche Bauarbeit kam in der Pandemie ins Stocken. Gleichzeitig boomten Online-Lieferdienste, ein Marktsegment, das in Russland durch die einheimischen New Economy-Konzerne wie Yandex noch moderner und vielfältiger ausgebaut ist als in Mitteleuropa.
Ebenso anders als im deutschsprachigen Raum werden Lieferservice und Baustelle ähnlich bezahlt. So entschieden sehr viele Beschäftigte, dass das Tragen von Mahlzeiten und anderen Lebensmitteln doch eigentlich einfacher sei als das von Ziegeln und Zement und wechselten ihren Job, erläutert Alexej Sacharow von der führenden russischen Online-Arbeitsvermittlung SuperJob der Zeitung gazeta.ru den aktuellen Trend.
Durch das sinkende Gesamtpotential der ausländischen Arbeitskräfte brachte das der russischen Bau- und Entsorgungswirtschaft einen inzwischen großen Mangel an Arbeitskräften. Dieser hat nun massive Ausmaße, über die die Moskauer Zeitung Kommersant berichtet. Knapp 200.000 Bauarbeiter fehlten aktuell in 53 russischen Regionen, in Moskau ruhten die Bauarbeiten mittlerweile fast überall. Auch anderswo ständen viele Baustellen still, 50 Regionen hätten inzwischen offiziell nach ausländischen Arbeitskräften gefragt.
Das alles entfachte bereits Maßnahmen der obersten Verwaltungsspitze. Das Bauministerium arbeitet an vereinfachten Einreisebedingungen für Migranten, die sich für Arbeiten am Bau interessieren. Sie müssen einen negativen Covid-Test vorweisen und einen Arbeitgeber finden, der ihre Anstellung garantiert. Eine weitere Hürde für ihren Zuzug ist aber weiter die russische Bürokratie. "Es ist recht schwer, die neuen Einwanderungsregeln wirklich als vereinfacht zu bezeichnen", schreibt Kommersant zu den Ministeriumsplänen.
Kein Ersatz durch russische Arbeitslose
Durch die Wirtschaftskrise in Folge der Corona-Pandemie wurden auch zahlreiche Russen arbeitslos. Die vorher recht niedrige Arbeitslosenquote stieg auf mittlerweile 6,3 %, das ist der höchste Wert seit zehn Jahren. Warum rekrutiert man neue Kräfte für unbesetzte Migrantenstellen nicht aus dem Heer dieser einheimischen Arbeitslosen?
Sacharow weiß dafür eine wichtige Erklärung: Die Ausländer und ihre Stellen seien schon dort, wo die Nachfrage nach Arbeitskräften hoch sei, etwa in Metropolen. Dagegen verteilt sich die Arbeitslosigkeit regional ganz anders und im größten Flächenstaat der Erde bedeutet das, dass viele Arbeitslose in strukturschwachen Regionen Tausende von Kilometern entfernt vom Ort des Arbeitskräftemangels leben.
Zwar sind viele Russen in Bezug auf eine Arbeitsstelle räumlich sehr flexibel und ziehen auch mal mit Kind und Kegel einige Tausend Kilometer weiter für einen passenden Job. Dieser muss nicht unbedingt der eigenen Ausbildung entsprechen - laut der Nesawisimaja Gaseta arbeiten 64 % der russischen Beschäftigten in Jobs, die nicht ihrer Ausbildung entsprechen - ein Wert weit über dem in Deutschland (37 %).
Jedoch sind die frei bleibenden Migrantenstellen unsichere, schlecht bezahlte Stellen in miesen Verhältnissen, für die kaum jemand sein komplettes gewohntes Lebensumfeld am anderen Ende des Landes aufgeben will. Noch dazu befinden sie sich in Regionen Russlands mit überdurchschnittlich hohen Lebenshaltungskosten, in die man höchstens umzieht, weil man dort eine gesicherte und gut bezahlte Stellung findet. Einen weiten räumlichen Sprung in einen unsicheren, unattraktiven und mäßig bezahlten Job etwa in Moskau macht nur, wer dazu keine Alternative hat - wie die Bewohner von mittelasiatischen Staaten ohne inländische Zukunftschancen.
Eine mögliche Alternative ist hierbei für Russen in ihrer Heimatregion übrigens der Bezug des vergleichsweise niedrigen russischen Arbeitslosengeldes in Kombination mit einer der weit verbreiteten illegalen Beschäftigungen - zusammen bietet sich hier ein vergleichbarer oder sogar besserer Lebensstandard als der von Bau-Hilfsarbeitern in Moskau.
Die Wiederankurbelung der Baubranche ist für Russland gesamtgesellschaftlich wichtig. Der Bau sei der Motor des russischen Wirtschaftswachstums stellt Kommersant dazu fest. Die öffentliche Hand gibt viele Projekte in Auftrag, 1.100 Bauinvestitionen sind hier in den kommenden zwei Jahren geplant. Weitere Bauaufträge entstehen durch eine hohe, unbefriedigte Nachfrage nach angemessenem Wohnraum in den Metropolen.
So ist mit weiteren Aktionen der Behörden zu rechnen, um der fehlenden Umsetzung wichtiger Vorhaben durch den Arbeitskräftemangel zu begegnen - sie sind für die wirtschaftliche Zukunft Russlands lebenswichtig. Ob sie wirkungsvoller werden, als die erste Maßnahme des Bauministeriums, bleibt abzuwarten.