Russland – ein imperialistisches Land?

Seite 2: Der Krieg als Teil des globalen Nord-Süd-Konflikts

Die hier dargestellten Positionen linker Politiker zeigen, dass man sich leicht verheddern kann, wenn man kritiklos historisch einst zutreffende Kriterien auf die Bewertung einer heute andersgearteten Situation anwendet.

Dies ist übrigens eine Herangehensweise, die Lenin stets missbilligte. Von ihm kann man noch heute lernen, dass man bei der konkreten Analyse der konkreten Situation die Wirklichkeit jeweils neu zu bewerten hat, wozu eben auch gehört, sich immer wieder selbst zu korrigieren. Lenin hat das in seinem Leben dutzendfach getan.

Lassen wir also solch schematischen Betrachtungen beiseite und beginnen wir stattdessen mit der Analyse der Situation, indem wir von der westlichen Version des Krieges ausgehen. Demnach handelt es sich längst nicht mehr um einen Konflikt zweier benachbarter Länder, die eine lange gemeinsame Geschichte verbindet, den man daher als einen Krieg unter Brüdern, wenn nicht gar als Bürgerkrieg bezeichnen kann.

Glaubt man den hiesigen Medien, so kämpfen hier vielmehr die liberalen Demokratien - auch als „Westen“ bezeichnet - um den Erhalt einer freiheitlichen, auf Menschenrechten basierenden Rechtsordnung, wobei der Begriff Westen hier nicht als geographischer Begriff, sondern als Werteordnung verstanden wird. Dem gegenüber stehe mit Russland eine Autokratie, die auf einem alles beherrschenden Staat beruhe und über grundlegende Eigenschaften westlicher Demokratien wie Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Achtung der Menschenrechte nicht verfüge.

In diesem Bild eines unzivilisierten Russlands kann man unschwer die Umrisse der alten Sowjetunion erkennen, der im Kalten Krieg vergleichbare Vorwürfe gemacht wurden. Vorbei sind die Jahre, in denen Russland zwischen 1991 und 2014 - erst unter Boris Jelzin und dann unter Wladimir Putin selbst zum Westen gerechnet wurde.

Das war die Zeit der Mitgliedschaft des Landes im elitären Klub der G 8, dem informellen Zusammenschluss der bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt. Doch bereits Anfang der 2000er-Jahre begann der Entfremdungsprozess zwischen dem Westen und Russland. Unter der Präsidentschaft Putins verlief dieser in mehreren Etappen, bis es schließlich mit dem Einmarsch in die Ukraine zum endgültigen Bruch kam.

Es ist verblüffend, dass die Konstellation des Kalten Krieges jetzt wiederaufersteht, hatte sich doch die einst so verhasste Sowjetunion 1991 selbst aufgegeben, womit– zumindest in Europa - zugleich der Systemgegensatz von Kapitalismus und Sozialismus verschwand. Da in Moskau aber kaum jemand ernsthaft darüber nachdenkt, zum Sozialismus zurückzukehren, muss es also einen anderen Grund geben, warum die Liaison mit dem Westen so kurzlebig war.

Die erneute Entfremdung verweist daher auf einen viel älteren Konflikt als den zwischen Kapitalismus und Sozialismus: Es ist der traditionelle, in Jahrhunderten entwickelte Anspruch des Westens – unter historisch sich einander ablösenden Vormächten - auf Weltherrschaft, auf Kolonisierung und Beherrschung peripherer Gebiete, deren Rohstoffe und Arbeitskräfte sowie Märkte er für seinen Wohlstand glaubt benötigen zu müssen.

Nach Jahren voller Illusionen musste Moskau am Ende einsehen, dass man in diesem Klub der elitären Staaten nur geduldet ist, wenn man die Rolle des willigen Rohstofflieferanten und des offenen Absatzmarktes spielt. Die Verfolgung eigener strategischer Interessen wird hingegen nicht akzeptiert.

Der Konflikt des Westens mit Russland ist daher Teil des globalen Nord-Süd-Gegensatzes zwischen westlichem Vormachtstreben und aufstrebenden Schwellenländern, die an die Stelle der bestehenden, von den USA und der EU bestimmten Weltordnung eine multipolare setzen wollen. Der frühere indische Chefdiplomat Melkulangara K. Bhadrakumar hat erst kürzlich darauf hingewiesen, dass der vom Westen heute wieder bemühte Gegensatz von „Demokratie versus Autokratie“ eine altbekannte „manichäische Allegorie“ darstellt, die der Aufstiegsphase des Imperialismus entstammt.

Wo Sanktionen und Waffenlieferungen abgelehnt werden

Nur so ist zu erklären, dass sich der Globale Süden jetzt bis auf wenige Ausnahmen nicht vor den Karren von USA und der Nato spannen lässt, dass dort Sanktionen gegenüber Russland und erst recht Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt werden. In Asien sind es lediglich die drei Staaten Japan, Südkorea und Singapur, die sich an den Sanktionen beteiligen.

Eine besondere Enttäuschung für den Westen stellt die Haltung Indiens dar. Seit Ausbruch des Krieges reisen deshalb hochrangige Repräsentanten der USA, der EU und Großbritanniens im Wochentakt nach Neu-Delhi, um das Land doch noch umzustimmen - bislang vergeblich. Auch die BRICS-Staaten Südafrika und Brasilien lassen sich nicht in den Konflikt hineinziehen.

Und da ist vor allem China, dem Putin noch kurz vor Beginn des Krieges einen Staatsbesuch abstattete. Nach dem Treffen verkündeten er und Xi Jinping in einer gemeinsamen Erklärung eine neue Ära der bilateralen Beziehungen, die "keine Grenzen" kenne und „den politischen und militärischen Allianzen der Zeit des Kalten Krieges überlegen“ sein werde.

Seit Jahren zeigen sich die USA inzwischen aber auch die EU besorgt darüber, dass der wirtschaftliche und militärische Aufstieg des Reichs der Mitte ihre Vormachtstellung gefährden könnte. Beide denken über Strategien nach, wie diese Entwicklung gestoppt bzw. umgekehrt werden kann. Eine der Maßnahmen wäre die nachhaltige Schwächung des chinesischen Bündnispartners Russland, indem man diesem Land im Krieg mit der Ukraine eine Niederlage beifügt.

Wenn der Dollar als Waffe benutzt wird

Mit der angestrebten Schwächung Moskaus soll vor allem die Vormachtstellung des Dollars als Weltwährung gesichert werden. Angesichts der Größe der chinesischen Wirtschaft und des hohen Wachstumspotenzials der indischen Wirtschaft liegt es nahe, dass beide Länder Schritte unternehmen, den Dollar zu umgehen.

Ihre Haltungen könnten dabei richtungsweisend für andere Länder sein. Das von den westlichen Sanktionen betroffene Russland hat die BRICS-Gruppe der Schwellenländer bereits aufgefordert, die Verwendung nationaler Währungen auszuweiten und die Zahlungssysteme zu integrieren.

Die Tatsache, wie die USA gegenüber Russland den Dollar als Waffe benutzen und der rücksichtslose Schritt des Westens, Russlands Reserven einzufrieren, hat vielen Entwicklungsländern die Augen dafür geöffnet, wie existenziell gefährdet sie in einem ernsthaften Konflikt mit dem Westen wären.

Betrachtet man den Krieg in der Ukraine aus diesem Blickwinkel, so ist leicht zu erkennen, dass er nur eine weitere Etappe des Ringens um eine Weltordnung darstellt, die nicht länger vom Westen bestimmt ist.

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