Russland gegen Ukraine: Von wegen erster Krieg in Europa seit 1945
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Blick auf Kriegsgeschehen in Osteuropa entlarvt Tunnelblick auf gemeinsame Geschichte. Menschen aus Ex-Jugoslawien wissen das, Griechen auch
Der "erste Krieg" in Europa seit 1945, der im Bewusstsein vieler Griechen mitnichten der erste Krieg auf unserem Kontinent ist, hat bereits griechische Opfer gefordert. Zehn Todesopfer der griechischen Minderheit, die seit Jahrhunderten in der Region präsent ist, wurden am Samstag gemeldet.
Auf einem Nebenschauplatz des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gibt es diplomatischen Streit zwischen Griechenland und der Türkei. Historische und religiöse Beziehungen erleichtern die Situation nicht. Premierminister Kyriakos Mitsotakis jedenfalls befürwortet die schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU.
Wie denken die Griechen über den Krieg?
Das Institut Kapa Research hat ermittelt, dass 47 Prozent der Griechen dafür sind, dass sich Griechenland in die Koalition der westlichen Staaten einreiht. Dagegen möchten 42 Prozent lieber eine vollkommen neutrale Haltung sehen. Die Umfrage ergab zudem, dass die Griechen von der Entwicklung überrascht wurden und sich vor einer starken Rezession sowie einem neuen Kalten Krieg fürchten. 83 Prozent der Griechen sind wegen des Krieges besorgt um ihre Zukunft.
So begründet die EU Sanktionen gegen russische Politiker und Journalisten (23 Bilder)
Russlands Ansehen im Land hat gelitten. In den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrtausends lag die Zustimmung für Russland in Bereichen zwischen 40 und 50 Prozent. Heute sind es wegen der Invasion nur noch 20 Prozent. Das Ansehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin sank auf ein Rekordtief von 19 Prozent positiver Meinung. 75 Prozent sehen ihn kritisch.
Beliebtester politischer Akteur ist der französische Präsident Emmanuel Macron, der auf insgesamt 59 Prozent Zustimmung kommt. Die Zustimmungswerte des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz liegen mit 23 Prozent unter denen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die auf 27 Prozent kommt. Wolodymyr Selenskyj liegt mit 30 Prozent noch vor dem US-Präsidenten Joseph Biden im oberen Mittelfeld.
56 Prozent der Griechen identifizieren sich mit der Politik Frankreichs, Deutschland liegt im Ranking mit 21 Prozent auf dem vorletzten Platz vor der mit zehn Prozent abgeschlagenen Türkei. Das größte Vertrauen unter den internationalen Organisationen genießt mit 25 Prozent die EU. 63 Prozent der Griechen finden, dass die Sanktionen gegen Russland in die richtige Richtung gehen, 48 Prozent wünschen sich noch schärfere Sanktionen.
Parteien und ihre Nato-Treue
Die Parteien, die bisher seit dem Ende der Diktatur 1974 in Griechenland regiert haben, die konservative Nea Dimokratia, Syriza und die heute unter dem Namen "Kinall" auftretende sozialdemokratische Pasok haben über die Jahrzehnte ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Nato und stets eine größere Nähe zur UdSSR und zu Russland gezeigt als die übrigen Nato-Partner. Als Faustregel für die Einstellung der Parteien zur Nato kann eine kritische Haltung angenommen werden, wenn die jeweilige Partei in der Opposition ist.
So wollte die Pasok unter Andreas Papandreou vor den Wahlen 1981 als Oppositionspartei die US-amerikanischen Militärbasen im Land, als "Basen des Todes" bezeichnet, schließen lassen. Kaum an der Regierung wurden die Verträge für die Militäranlagen von der Pasok verlängert. Umgekehrt gilt, dass regierende Parteien sich normalerweise den Vorgaben der Nato fügen.
Erster Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg?
Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis hat in seinen Stellungnahmen das von allen Regierungschefs der Nato-Staaten geteilte Narrativ vom ersten Krieg in Europa übernommen. Dafür hagelte es Kritik von allen Seiten.
Mitsotakis hätte es nicht nur wegen der Nato-Intervention im benachbarten früheren Jugoslawien besser wissen müssen. Denn auch 1974 standen sich mit Griechenland und der Türkei zwei europäische Nato-Partner im Krieg gegenüber. Es ging damals um die Inselrepublik Zypern, einen dritten, neutralen Staat.
Die griechische Militärregierung, die von den USA gestützt und installiert wurde, hatte gegen die rechtmäßige Regierung in Nikosia einen Putsch inszeniert und die Türkei griff als Garantiemacht neben Griechenland und Großbritannien militärisch ein, und hält den nördlichen Teil der Insel auch heute noch besetzt hält. Zudem hält die Türkei gegenüber Griechenland den "Casus Belli", die Drohung eiunes Krieges aufrecht.
Für die Installation der siebenjährigen Militärdiktatur hat sich der damalige US-Präsident William "Bill" Clinton bei seinem Besuch in Athen 1999 im Namen der Vereinigten Staaten entschuldigt.
Die Militärregierung wurde damals installiert, weil bei den anstehenden Wahlen im Land ein "Linksruck" drohte. Die Nato hat sich weder in Griechenland, noch in Zypern und auch nicht in der mehrfach von Diktatoren regierten Türkei als "Garant für Demokratie" erwiesen. Sie hat es nicht geschafft, die griechische und die türkische Regierung von Feinden zu friedfertigen Partnern zu wandeln.
Es ist bemerkenswert, dass es entgegen dem "Kalten Krieg" der griechischen und türkischen Regierungen zwischen den Bevölkerungen der Länder, abgesehen von einigen Extremisten, privat kaum Streit gibt.
Es gibt eine Reihe weitere Kriege, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa stattfanden. Schlimmer noch als dieser Fauxpas, der von Politikern und Medien gebetsmühlenartig wiederholt wird, ist, dass der Krieg in der Ostukraine seit Jahren Todesopfer fordert. Nur haben die meisten Journalisten und Politiker dem keine große Beachtung geschenkt. Jahrelang wurde das System Putin auch mit unseren Erdgaskäufen finanziert und gestärkt.
"Putinversteher" von einst geben sich heute geschockt
Die Regierung von Kyriakos Mitsotakis steht heute in den Reihen der Allianz gegen Putin. Das war nicht immer so. 2018, als die Vorgängerregierung von Alexis Tsipras den jahrzehntelangen Namensstreit mit Nordmazedonien beilegte, und damit dem Staat den Zugang zur Nato-Mitgliedschaft ermöglichte, gab es aus Moskau und der Parteizentrale der von Kyriakos Mitsotakis geführten Nea Dimokratia scharfe Kritik. Die Aufnahme Nordmazedoniens in die Nato war 2008 in Bukarest am Veto des damaligen Vorsitzenden der Nea Dimokratia und Premierministers Kostas Karamanlis gescheitert.
Putins Regierung störte sich an einer erneuten Erweiterung der Nato und finanzierte Proteste gegen den Namenskompromiss in Griechenland. Der damalige Außenminister Griechenlands, Nikos Kotzias, Architekt des Namenskompromisses, ließ daraufhin russische Diplomaten ausweisen. Die Nea Dimokratia goutierte das gar nicht und bezweifelte, dass russische Interventionen nötig gewesen wären, um gegen den Namenskompromiss zu protestieren.
Die Syriza-Regierung hatte es dagegen vermieden, sich nach dem Attentat auf Sergej und Julia Skripal mit der harten Linie der übrigen EU-Staaten gegen Russland zu solidarisieren. Der frühere Syriza-Koalitionspartner und Verteidigungsminister Panos Kammenos, der Parteichef der Unabhängigen Griechen, macht auch heute aus seiner Sympathie für Russland und Putin keinen Hehl. Seine Partei schaffte es bei den Wahlen 2019 nicht ins Parlament.
Tsipras erster Finanzminister, Yanis Varoufakis, heute Generalsekretär von Mera25, Jannis Varoufakis, sieht die Nato-Erweiterung kritisch. Er meint:
"Nur diejenigen, die Selbstbestätigung über die Interessen der Ukrainer stellen, konzentrieren sich auf das Recht, der Nato beizutreten, und lehnen das beste Ergebnis ab: eine unabhängige, neutrale Ukraine. Fragen Sie die Menschen in Österreich und Finnland, die während des Kalten Krieges mit mehr Freiheit und Demokratie gelebt haben als wir in der Nato Griechenland!"
Im griechischen Parlament sitzt mit der "Griechischen Lösung" eine russlandfreundliche Partei rechts der Nea Dimokratia. Deren Vorsitzender Kyriakos Velopoulos vermeidet es, eindeutig Stellung gegen den Angriffskrieg zu nehmen. Seine Allianz zu Putin hat er vor der Invasion bewiesen, als er die Argumente des russischen Staatschefs als vollkommen begründet einstufte.
Er meint jedoch, dass es kein internationales Recht gäbe, weil sonst die Besetzung Zyperns beendet worden wäre. Er bringt die Inseln "Imvros und Tenedos" ist Spiel. Imvros? Die Türkei nennt diese zu ihrem Hoheitsgebiet gehörende Insel seit 1970 Gökçeada. Vorher hieß sie İmroz. Sie ist von Türken und einer alteingesessenen griechischen Bevölkerung bewohnt. Tenedos heißt Bozcaada. Beide Inseln fielen mit dem Vertrag von Lausanne an die Türkei.
Russland unter Putin sieht Velopoulos als Supermacht. Den Europäern wirft er vor, dass sie mit ihrer Politik die USA ins Boot geholt hätten. Velopoulos hat bereits die gestiegenen Kosten der Energiewende dazu eingesetzt, populistisch für Braunkohle zu werben. Die aktuelle Krise nutzt er dafür, der griechischen Politik vorzuwerfen, dass sie ihre Bürger nicht vor den Folgen des Krieges schützen würde.