Russlands Krieg und wir: Höhere Zwecke und falsches Bewusstsein

Seite 3: Öffentliche Meinungsbildung im Ukrainekrieg – in vorauseilenden Gehorsam

Solche Aufforderungen lassen sich die modernen Meinungsmacher nicht zweimal sagen. Entspricht es doch ganz ihrem journalistischen Selbstverständnis und beruflichen Ethos, das "größte Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt zu sein" (Hegel) und die im "Wir" verkörperten Staatsinteressen als um das Wohlergehen eines jeden Einzelnen bemühte Interessen zu übersetzen.

Haben die Erzählungen der vierten Gewalt die Sorge um das "Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs" (J. Schillo), des "unser Wir", zum Zweck und Inhalt, dann sind Bild und Sprache in der massenmedialen Erzählung nur noch geschickt und mit Bedacht auszuwählen, um beim staatsbürgerlichen Bewusstsein Gehör und Zustimmung zu finden: das oben beschriebene irrtümliche und falsche, das staatsbürgerliche Bewusstseins vorausgesetzt.

In Kriegszeiten wie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine geht es vor allem darum: Die unser "Wir" bedrohenden Subjekte und Ereignisse sind im spezifischen Medium des journalistisch aufgemachten (Feind- oder Bedrohungs-) Bild auch sprachlich so zu übersetzen und zu gestalten, dass der Feind oder die Bedrohung mehr oder weniger greifbar, unmittelbar nahe ist: auf dem Sprung, unser "Wir", dieses höchste Gut, zu erobern oder zu zerstören.

Womit die Böswilligkeit, der Absicht und des Charakters des Feindes oder der Bedrohung im Grunde schon genügend beschrieben sind. Das zu einem appellativ-dramatischen Gemälde auszumalen, macht die journalistische Kunst aus. Die ist umso wertvoller für das Staatsinteresse an Krieg und Gewalt, als auf dem Nährboden des falschen Bewusstseins der Wille erweckt und erwacht, unser "Wir" oder Land notfalls gegen Feind und Bedrohung zu verteidigen. Das verlangt allerdings gewisse Korrekturen in den bisherigen Tugenden des Mitmachens und sich Bescheidens.

Gefordert sind dafür zwar nicht ganz unbekannte, in ihrer Radikalität dennoch ungewohnte, neuartig anmutende Sitten des Denkens, des Nachdenkens und des Verhaltens. Unterstellt ist dabei ohnehin, dass die öffentliche Meinungsbildung sich eines konstruktiven, eines "allein erlaubten Gebrauchs" (Kant. a.a.O.: 275) ihres Verstandes befleißigt; und dergestalt in Sorge um das heimische Wir, dessen Vorankommen und Erfolg nach innen und außen zum Maßstab und Wahrheitskriterium ihrer Informationstätigkeit macht.

Nunmehr aber, wo es darum geht, das Volk auf die Realität des (Ukraine-)Krieges einzustimmen und sie für die Kriegstaten und Kriegsfolgen, die ihnen die für Kriegszeiten und Krieg allein zuständigen Entscheidungsträger in Washington, Berlin, Brüssel und im Nato-Hautpquartier auferlegen, zu gewinnen und bei Laune zu halten, hat sich die öffentliche Meinungsbildung am unlängst ausgegebenen "klaren Wertekompass" (A. Baerbock) zu "orientieren" (Kant).

Zum einen ist die Tugend der Toleranz, das Zulassen, Erdulden und Ertragen anderer Meinungen und pluraler Sichtweisen angesichts des Krieges in der Ukraine hintan zu stellen. Zurückzustellen zugunsten der puren Parteilichkeit und Parteinahme für die dem Publikum dargebotene Meta-Erzählung der Nato und ihrer Wahrheit, die darin besteht, dass nicht von einer Einkreisung Russlands via Nato, sondern umgekehrt von einem russischen Eroberungsfeldzug zu reden ist.

Diesem Erfordernis kommt die öffentliche Meinungsbildung auftragsgemäß und ihrem Berufsethos entsprechend nach. Vorzugsweise Bilder von weinenden, verstörten oder traumatisierten ukrainischen Kindern und ihren verzweifelten Müttern belegen nicht die Unmenschlichkeit eines Krieges, sondern die des (russischen) Feindes.

Zum anderen durch sorgfältig ausgewählte Gäste, Politiker, Professoren, welt- und geopolitischen Experten aus den Denk-Fabriken, die in den zahllosen Talkshows allesamt dasselbe zu berichten wissen. Die Kriegsberichterstatter vor Ort runden das Bild des (russischen) Feindes und der Bedrohung für uns alle ab.

Im vorauseilenden Gehorsam fühlt sich die öffentliche Meinungsbildung weiter dazu berufen, die Damen und Herren über Krieg und Frieden, über Leben und Tod mit Fragen der Art zu bedrängen: Warum hat Deutschland solange gezögert, endlich Waffen an die ukrainische Regierung zu liefern und Nord Stream 2 zu beenden? Will Deutschland wirklich keine Flugverbotszone wagen?

Greifen die politökonomischen Sanktionen totalen Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation weit genug, um in Russland möglicherweise über die Zerstörung seiner ökonomischen Grundlagen einen Staatsumsturz mittels der massiven Verarmung und Verelendung der russischen Bevölkerung zu bewerkstelligen? Auch hier eine ausgeprägte Liebe zur kriegerischen Gewalt: Zu einer Gewalt, die immer schon gute Gründe für sich weiß und deshalb gerechte gegen unrechtmäßige Gewalt ist.

Was die staatlicherseits "über Jahre aufgebauten Hassbilder" (Björn Hendrig) angeht, so fällt die öffentliche Meinungsbildung auf diese Bilder des Hasses nicht herein: In sittlich-ethischer Verantwortung für das "große Wir" (Ex-Bundespräsident Gauck) und dessen jederzeit gewaltbereites und kriegsträchtiges Gelingen, gebraucht die öffentliche Meinungsgbildung ihren Verstand und ihre Vernunft dahingehend, dass sie an der Konstruktion solcher Bilder konstruktiv mitarbeitet und die solcherart erstellten Bilder des Hasses dem Publikum präsentiert und transportiert.

So ist der von den politischen Machern konstruierte, imaginäre Schuldige auch massenmedial bestätigt, um im kollektiven Gedächtnis der westlichen Völkerschaften rund um die Uhr allgegenwärtig zu sein.

Dass die Bedrohung überhaupt exklusiv von außen kommt, gegen die die abendländisch-westliche Freiheit und "Lebensform" (Harry S. Truman, 1947) mit Nato-Bündnis unter US-Führerschaft verteidigt werden muss, nicht nur in der Ukraine, sondern aus Verantwortung für den Frieden in der Welt und um der Menschlichkeit willen, weltweit: Diese Erzählung ist als die alles dominierende Meta-Erzählung in das kollektive Gedächtnis der in der Nato und im Westen eingemeindeten Völkerschaften dank seit 1945 währender Erinnerungsarbeit durch die offiziellen Priester der Erinnerung und ihrer berufenen Assistenten eingraviert, eingebrannt.

Das erleichtert die Beantwortung der Frage, wer "schuld" am Krieg ist, ungemein. In Kriegszeiten wie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine in besonders radikaler Weise: Gerade in diesem Krieg eröffnet die Konstruktion und Benennung des imaginären Schuldigen das moralisch unermesslich ergiebige Feld der Kriegschuldfrage und das mit ihr einhergehende Vorab-Urteil, wer sich ganz gewiss Kriegsverbrechen schuldig macht.

Denn diese Gewissheit haben die allein zuständigen politischen Entscheidungsträger über Krieg und Frieden zu Recht: Einen Krieg ohne Kriegsverbrechen gibt es nicht.