Russlands Offensive: Berät die Nato in Prag auch schon die Nachkriegsordnung?

Wohnhaus in Charkiw, nach Einschlag einer russischen Rakete. Bild: Anna Bohdan, Shutterstock.com

Russische Armee stößt mehreren Orten der Ukraine vor. Nato debattiert diese Woche Reaktion. Washington denkt offenbar schon einen Schritt weiter.

Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen mit Russland besucht US-Außenminister Antony Blinken diese Woche Moldau und die Tschechische Republik. Die Absicht ist klar: Der US-Chefdiplomat will die Unterstützung der Vereinigten Staaten für diese und weitere Länder zwischen Tschechien, dem Kaukasus und dem Baltikum demonstrieren.

Denn je mehr Russland in der Ukraine militärisch die Oberhand gewinnt, desto stärker gerät die gesamte Region unter Druck. Blinkens Reise ist Teil daher auch eines politisch-diplomatischen Abwehrkampfes, bei dem es im Kern auch bereits um die Nachkriegsordnung von Osteuropa bis zum Kaukasus gehen dürfte.

Der Blick in die Ukraine dürfte nicht nur Blinken unangenehm sein. Zwei Wochen, nachdem er in einer Kiewer Jazzkneipe "Rockin' in The Free World" gespielt hat, rücken russische Truppen in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, vor. Der ukrainische Widerstand ist ins Stocken geraten, weil es unter anderem an Waffen und Munition mangelt.

In Prag geht es diese Woche bei einem zweitägigen Nato-Treffen daher auch um die Frage, ob und inwieweit westliche Waffen gegen Ziele in Russland eingesetzt werden können, um das Ruder doch noch herumzureißen. Gerade mit Blick auf die Nachbarstaaten verfestigt sich aber der Eindruck, dass Washington inzwischen zumindest auch die Zukunft der Region und den eigenen Einfluss im Blick hat.

US-Präsident Joe Biden hat in diesem Kontext kürzlich ein Gesetz unterzeichnet, das neue Tranchen von Militärhilfe für die Ukraine vorsieht und von beiden großen US-Parteien unterstützt wird. Doch selbst die New York Times (NYT) weist darauf hin, dass Russland seine Munitionsproduktion in hohem Tempo fortsetzt und damit einen anhaltenden Vorteil gegenüber der Ukraine und den Nato-Staaten hat.

Die von den USA forcierten Sanktionen des Westens hätten die militärindustrielle Kapazität Russlands nicht so geschwächt, wie US-Vertreter einst gehofft hatten, schreibt die NYT weiter. Bei seinen Gesprächen mit seinen Nato-Kollegen in Prag dürfte Blinken daher auch Chinas Unterstützung für Russland auf die Tagesordnung setzen – auch das eine erkennbare Verschiebung von der regionalen auf die politische Ebene.

Blinken nimmt in Prag an einem zweitägigen Planungstreffen des Nordatlantikpaktes teil. Auch wenn eine Aufnahme der Ukraine in die Nato – ein langgehegter Wunsch von Präsident Wolodymyr Selenskyj – vorerst nicht zu erwarten ist, werden die Nato-Vertreter in Prag voraussichtlich Details für ein entsprechendes Programm für Kiew bekannt geben.

Für das Kriegsgeschehen hat das keine Auswirkung. Bereits Mitte des Monats hatten internationale Medien über eine wichtige Wende im Ukraine-Krieg berichtet. Die russischen Truppen, die noch vor 18 Monaten fast schon vor dem Rückzug aus der Ukraine gestanden hatten, erobern neue Gebiete. Das weckt in der Biden-Regierung zunehmend die Sorge, so heißt es in der US-Presse, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Kriegsverlauf wieder deutlich zu seinen Gunsten ändern und seine einstmals fragwürdigen Aussichten verbessern könnte.

Russlands überraschender Vorstoß in der Ukraine

In der ersten Maihälfte starteten russische Truppen eine neue Offensive in der Nähe der zweitgrößten Stadt des Landes, Charkiw. Dies zwingt die Ukraine dazu, ihre bereits ausgedünnten Truppen zur Verteidigung eines Gebietes abzuziehen, das sie im Herbst 2022 in einem beeindruckenden Sieg von den russischen Streitkräften zurückerobert hatte.

US-Vertreter äußern sich in Interviews zuversichtlich, dass viele dieser russischen Siege rückgängig gemacht werden können, sobald westliche Waffen in größerem Umfang zur Verfügung stehen. Diese Lieferungen werden im Laufe des Julis erwartet.

US-Vertreter zögern jedoch, Vorhersagen darüber zu treffen, wo die Frontlinien in einigen Monaten verlaufen könnten oder ob Selenskyj in der Lage sein wird, seine lange aufgeschobene Gegenoffensive zu starten.

Russland erlangt Vorteile auf dem Schlachtfeld

Die Verzögerung der US-Finanzierung hat Russland in den vergangenen Wochen und Monaten einen enormen Artillerievorteil gegenüber der Ukraine verschafft. Der Mangel an Flugabwehrmunition ermöglichte es Russland, seine Luftwaffe beinahe ungehindert einzusetzen und die ukrainischen Linien mit Gleitbomben anzugreifen. Mit mehr Luftabwehrmunition könnte die Ukraine die russische Luftwaffe zurückdrängen.

Die Verzögerung bei den US-Lieferungen will Kiew mit einer Novellierung des Mobilisierungsgesetzes ausgleichen: Mehr und jüngere Soldaten sollen in die Armee eingezogen werde. Die Ukraine leidet unter akutem Truppenmangel und hat Schwierigkeiten, die neu rekrutierten Soldaten angemessen auszubilden.

Russlands Druck in Charkiw

Russlands neues Momentum zeigt sich am deutlichsten in Charkiw, dem Schauplatz einer der größten Panzerschlachten des Zweiten Weltkriegs. Im Herbst 2022 starteten ukrainische Truppen eine überraschende Gegenoffensive, kämpften sich bis in die Stadt vor, vertrieben die russischen Truppen aus der Region und eroberten ein riesiges Stück Land zurück.

Seitdem nutzt die Ukraine das zurückeroberte Gebiet um Charkiw für ihre Strategie der militärischen Nadelstiche gegen Russland. Diese Angriffe haben die Russen dazu veranlasst, in den vergangenen Wochen Land zurückzuerobern, um eine Pufferzone zu schaffen, die es der Ukraine erschweren soll, grenzüberschreitende Angriffe durchzuführen.

Rückschlag für die Ukraine

Dass Moskaus jüngste Offensive zu den größten Gebietsgewinnen seit Ende 2022 geführt hat, ist verheerend für die Moral der ohnehin angeschlagenen ukrainischen Truppen.

Analysten prognostizieren, dass Russland seine Eroberungen in den kommenden Monaten ausweiten könnte, während die Ukraine derzeit noch auf die Ankunft US-amerikanischer Militärhilfe wartet, die dann auch erst in einen Vorteil verwandelt werden müsste.

Ein detaillierter Blick auf einige der jüngsten russischen Vorstöße zeigt die Brisanz der Lage.

Russland vor der Rückeroberung von Robotyne

Das russische Verteidigungsministerium behauptete letzte Woche, seine Truppen hätten Robotyne, ein kleines Dorf in der Region Saporischschja im Südosten der Ukraine, eingenommen. Das Dorf war im August von ukrainischen Soldaten zurückerobert worden – ein seltener Erfolg in der ansonsten enttäuschenden Gegenoffensive Kiews im Sommer.

Die Ukraine bestreitet diese Behauptung, aber von unabhängigen Analysten erstellte Karten des Frontgeschehens, die auf Satellitenbildern und Videoaufnahmen der Kämpfe basieren, zeigen, dass russische Truppen von Süden her den nördlichen Teil des Dorfes erreicht haben.

Abwehrkampf gegen vorrückende russische Einheiten

Emil Kastehelmi, ein Analyst der Black Bird Group, sagte, Robotyne könne als "Grauzone" bezeichnet werden, ein Gebiet, das zwar umkämpft, aber derzeit überwiegend unter russischer Kontrolle sei.

Die ukrainischen Hauptkräfte hätten sich zwar zurückgezogen, doch würden weiterhin Angriffe, insbesondere mit Kampfdrohnen, aus dem Norden durchgeführt, um eine dauerhafte russische Präsenz vorerst zu verhindern.

Trotz der strategischen Irrelevanz des weitgehend zerstörten Dorfes wäre sein Verlust ein symbolischer Schlag für die Ukraine.

Moskau verstärkt Kontrolle im Osten

Weiter östlich rückten russische Truppen in Klischtschiwka ein, eine Siedlung, die die Ukraine im September zurückerobert hatte. Das russische Verteidigungsministerium teilte am Dienstag mit, das Dorf sei eingenommen worden. Kremlnahe russische Militärblogger bezweifeln dies. Tatsächlich zeigen unabhängige Frontkarten, dass Russland derzeit nur etwa die Hälfte des Dorfes kontrolliert. Ukrainische Stellen haben sich bislang nicht zu dem Vorstoß geäußert.

Die Kontrolle über Klischtschiwka könnte den Druck auf die russischen Truppen in der Stadt Bachmut verringern und ihre Operationen zur Einnahme der ukrainischen Festung Chasiw Jar erleichtern. Die Eroberung von Chasiv Yar würde Russland die Kontrolle über strategisch wichtige Höhen verschaffen und es ermöglichen, die Städte im östlichen Donbass, die als militärische Logistikzentren dienen, verstärkt unter Artilleriebeschuss zu nehmen.

Im Norden fliehen wieder Zivilisten

Die bisher größten russischen Vorstöße in diesem Jahr fanden im Nordosten der Ukraine nahe der Stadt Charkiw statt. Moskau eröffnete dort vor rund zwei Wochen eine neue Front, eroberte im Herbst 2022 befreite Gebiete zurück und intensivierte die Luftangriffe auf Charkiw selbst.

Bei einem russischen Raketenangriff auf eine Druckerei wurden laut Oleg Siniegubow, dem Leiter der regionalen Militärverwaltung von Charkiw, mindestens sieben Menschen getötet und 16 verletzt.

Die ukrainische Armee entsandte Elitebrigaden, die den russischen Vormarsch in der Region Charkiw vorerst gestoppt zu haben scheinen. Dennoch kontrollieren russische Truppen nun mehr als 180 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums in diesem Gebiet, darunter etwa zehn Siedlungen.

Der Vormarsch zwang Tausende Einwohner erneut zur Flucht und zur Zerstörung ihrer Dörfer durch Bombardements. Laut Syniehubov wurden in den vergangenen zwei Wochen fast 11.000 Menschen aus dem Gebiet evakuiert.

Die genannten Informationen und Einschätzungen stammen aus unabhängigen Analysen, Satellitenbildern und Berichten, die unter anderem von der New York Times und dem russischen Verteidigungsministerium veröffentlicht wurden.