Sanktionen gegen Russland sollten funktionieren - warum tun sie es nicht?

Annalena Baerbock erklärt Russland-Sanktionen für gescheitert. Ökonomen diskutieren das Warum. Was das mit westlicher Arroganz und Cancel Culture zu tun hat. Ein Kommentar.

Die Sanktionen des Westens gegen Russland sind gescheitert. Oder sie zeigen nicht die erhoffte Wirkung, erklärt der frühere Manager der russischen Sberbank, Oliver Kempkens, in der Berliner Zeitung. Die russische Wirtschaft wachse, die Arbeitslosigkeit bleibe niedrig und die Versorgung mit Gütern erhole sich.

Das Scheitern wird inzwischen auch von der Bundesregierung eingeräumt. So zeigte sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kürzlich enttäuscht über die Wirkung der Sanktionen. "Eigentlich hätten wirtschaftliche Sanktionen wirtschaftliche Auswirkungen", sagte sie. In diesem Fall sei das aber nicht der Fall.

Sie begründete das Versagen damit, dass "die Logiken von Demokratien nicht in Autokratien greifen". Man habe erlebt, "dass mit rationalen Entscheidungen, rationale Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden" sei.

Die letzten Worte werfen Fragen auf und lassen viel Spielraum für Interpretationen. Schon der Begriff "zivilisierte Regierung" erinnert an den Vergleich, den EU-Chefdiplomat Josep Borrell im vergangenen Jahr bemüht hatte und der ihm den Vorwurf des Rassismus einbrachte. Borrell verglich die Europäische Union mit einem Garten und den Rest der Welt mit einem Dschungel, in dem andere Gesetze gelten.

Auch Baerbocks Äußerung geht auf dieses kolonialistische Denken zurück. Im 18. Und 19. Jahrhundert begründeten unter anderem die Engländer, Franzosen und US-Amerikaner ihr kolonialistisches Streben mit ähnlichen Worten: "Wir bringen Kultur und Zivilisation, und die Barbaren haben kein Recht, sich ihrer Zivilisierung zu widersetzen". Der italienische Philosoph Domenico Losurdo hat sich in seinem Buch "Freiheit als Privileg" eingehend mit dieser Haltung auseinandergesetzt.

Aber entsprechen Wirtschaftssanktionen wirklich den "Logiken von Demokratien", wie Baerbock es formulierte? Gehören Sanktionen zu den "rationalen Maßnahmen zwischen zivilisierten Regierungen"? Und wenn Sanktionen gegen Autokratien nicht funktionieren, ist es dann rational, an ihnen festzuhalten? Den Beweis, dass Wirtschaftssanktionen in Kriegszeiten einen Politikwechsel herbeiführen können, bleibt die grüne Außenministerin schuldig.

Die Sanktionen wirken, argumentiert der Ökonom Maurice Höfgen in der Berliner Zeitung. Zwar wachse die russische Wirtschaft, aber das könne auch daran liegen, dass sie durch die Kriegsausgaben künstlich aufgebläht werde. Mittlerweile flössen in diesem Jahr rund 100 Milliarden Euro ins Militär, was etwa einem Drittel aller Staatsausgaben entspreche. Die Inflation steige und viele Unternehmen seien ins Ausland abgewandert.

Oliver Kempkens relativierte dagegen die Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung. Viele Russen lebten noch wie vor 50 Jahren. Fast ein Drittel sei immer noch ohne Gasanschluss. Rund zehn Prozent hätten kein fließendes Wasser. Die Alten seien mit ihrer Rente ohnehin auf im Inland produzierte Lebensmittel angewiesen – und auf nationale Unterhaltungsprogramme.

Den Oligarchen habe man mit den Sanktionen weitgehend die Möglichkeit genommen, im Westen Geld zu verdienen. Dafür habe man sie wieder in die Arme des Kreml getrieben. Und ärmer seien sie auch nicht geworden, hätten westliche Banken in ihren Berichten festgestellt.

Die russische Machtelite schert sich wohl kaum darum, ob KFC nun Rostic’s heißt – übrigens nutzt der neue russische Eigentümer der Schnellrestaurants noch dieselbe Lieferkette – oder dass statt deutscher VW-Autos vermehrt chinesische Pkw zugelassen werden: Der Anteil der chinesischen Autoimporte in Russland liegt nach dem zweiten Quartal 2023 bereits bei 70 Prozent.

Oliver Kempkens

Westliche Güter gelangen nicht mehr auf direktem Weg nach Russland, sondern nehmen den Umweg über andere Staaten. Von diesen Gütern sind die Russen aber keineswegs abgeschnitten. Ähnlich verhält es sich mit den russischen Exporten. Erdgas strömt weiterhin über die Ukraine nach Europa, Erdöl nimmt den Umweg über Indien, erreicht aber dennoch die westlichen Staaten.

Recherchen der russischen Nichtregierungsorganisation "Verstka", die Ende Juli veröffentlicht wurden, ergaben, dass nach wie vor fast alle sanktionierten Warengruppen im Wert von hunderten Milliarden US-Dollar nach Russland gelangen. Vom iPhone bis zu Mikrochips für Raketen wird weiterhin alles geliefert. Anders als von Baerbock erklärt, scheint es vor diesem Hintergrund für Russen nicht notwendig zu sein, Chips aus deutschen Waschmaschinen in ihren Raketen zu verbauen – an die notwendigen Chips gelangen sie offenbar auch anders.

Auch EU-Länder betreiben weiterhin regen Handel mit Russland. Lettland etwa, das zusammen mit Polen und den anderen baltischen Staaten als antirussischer Hardliner auftritt, weiß den russischen Markt nach wie vor zu schätzen. Trotz der Sanktionen exportierten lettische Unternehmen im ersten Halbjahr 2023 mehr Waren nach Russland als im Vorjahreszeitraum.

Es verwundert nicht, dass sich die Regierung in Moskau von Anfang an wenig beeindruckt gezeigt hat ob der Sanktionen. Die Bild-Zeitung veröffentlichte nun den Wortlaut eines Telefonats zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Damals sagte Scholz:

Etwas bedrückt mich mehr als die Gespräche: Er (Putin) beschwert sich gar nicht über all die Sanktionen. Ich weiß nicht, ob er das im Gespräch mit Dir getan hat. Aber er hat die Sanktionen gar nicht angesprochen.

Macron antwortete darauf nur: "Bei mir auch nicht". Der russische Präsident war offenbar alles andere als schockiert von den "Kosten", die ihm auferlegt wurden.

Dass die westlichen Sanktionen nicht die erwünschten Resultate brachte, führt Kempkens auch auf "eine populistische und moralisierende Cancel Culture" westlicher Länder zurück. Und Höfgen sagt, dass es ein Land gebe, in denen die Sanktionen ihre Wirkung entfalten: Deutschland. Die Frage bleibt offen, ob beides zur Rationalität und Zivilisiertheit gehört, von der Baerbock sprach.

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