Schattenboxen am East River

UN-Generalsekretär Kofi Annan hat zur Schaffung eines Regierungssystems für das Internet ein Sekretariat für eine Arbeitsgruppe geschaffen. Eine Frage ist beispielsweise, ob ein völkerrechtlicher Vertrag für das Root-Server -System notwendig ist

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der im Dezember 2003 beendete Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) hat die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wer wie zukünftig die Kernressourcen des Internet verwaltet, in die Hände einer von UN-Generalsekretär Kofi Annan zu bildenden Arbeitsgruppe gelegt. Annan aber tut sich schwer, die Gruppe zu gründen. Beim "Global Internet Governance Forum" letzte Woche in New York hat er erst einmal ein Sekretariat für die Arbeitsgruppe mit Sitz in Genf geschaffen. Derweil wird hinter den Kulissen weiter kräftig um das "Design" der Arbeitsgruppe gerungen.

Natürlich benötige das Internet, das mittlerweile von fast einer Milliarde Menschen genutzt wird, eine Art Regierungssystem, sagte Kofi Annan zum Auftakt des zweitätigen Forums im großen ECOSOC-Plenarsaal im UN-Hauptgebäude am New Yorker East River. Aber, fügte er hinzu, dass heiße ja nicht, dass etwas, dass so neuartig globale Kommunikation ermöglicht wie das Internet, in traditioneller Weise gemanagt werden muss. Bei der Entwicklung von Strukturen für "Internet Governance" sollte man nicht weniger kreativ sein als es die "Väter des Internet" vor 30 Jahre gewesen seien.

Die beiden im Auditorium sitzenden "Väter" - Vint Cerf und Bob Kahn -, die 1974 mit der Erfindung des TCP/IP-Protokolls die Entwicklung eines endlosen "Netzwerkes von Netzwerken" ermöglichten, nickten nachhaltig mit dem Kopf zu den Worten des obersten Welt-Diplomaten. Doch vom Appell an die Kreativität der Kinder und Enkel der ersten Internetgeneration zu einer praktikabeln zukunftsfähigen Lösung ist es noch ein weiter Weg. Und nach der zweitätigen Diskussion der hochrangigen Betroffenen und Beteiligten hat man den Eindruck, dass bei diesem Thema die Bewegung alles, das Ziel hingegen nichts sei.

In only a few years, the Internet has revolutionized trade, health, education and, indeed, the very fabric of human communication and exchange. Moreover, its potential is far greater than what we have seen in the relatively short time since its creation. In managing, promoting and protecting its presence in our lives, we need to be no less creative than those who invented it. Clearly, there is a need for governance, but that does not necessarily mean that it has to be done in the traditional way, for something that is so very different. The issues are numerous and complex. Even the definition of what we mean by Internet governance is a subject of debate. But the world has a common interest in ensuring the security and dependability of this new medium. Equally important, we need to develop inclusive and participatory models of governance. The medium must be made accessible and responsive to the needs of all the world's people. At present, its reach is highly uneven, and the vast majority of people have yet to benefit from it, or even to be touched by it at all.

UN-Generalsekretär Kofi Annan am 26. März 2004 in New York

If it is not broken, do not fix it

"If it is not broken, do not fix it", mit diesem Leitmotiv setzte Vint Cerf den Ton für die Debatte. Das Internet funktioniert, also warum sollte man dann an seiner Aufsicht herumdoktern? Und Cerf schrieb den Regierungen gleich noch mit ins Stammbuch, dass es die Grundregel jedes Arztes sei, bei der Therapie zunächst erst einmal keinen neuen Schaden anzurichten.

Zwar wurde nicht so richtig deutlich, welcher Schaden denn von wem wodurch angerichtet werden könnte, aber der Grundsatz, dass Regierungen das Management der technischen Internetressourcen den Technikern überlassen sollten, der zog sich wie ein roter Faden durch die Statements der angereisten Fachkompetenz von ICANN, IANA, IETF, IAB, ISOC, W3C, RIPE, ARNIC, CENTR und den anderen Gremien, die in den letzten drei Jahrzehnten durch eine, wie Cerf es nannte, "große Kollaboration" das Internet zu dem gemacht haben, was es heute ist. Regierungen hätten viel zu tun, wo es um Anwendungen geht. Das Herz des Netzes aber sollte man jenen überlassen, die wissen wie es schlägt.

Gegen dieses Argument ist wenig Kraut gewachsen, es hat aber auch seine Tücken. Nachdenkliche Opposition kam zum Beispiel von Karl Auerbach, unter Vint Cerf zwei Jahre ICANN-Direktor. Wenn "if it is not broken, do not fix it" meine, dass der Ist-Zustand der Idealzustand sei, dann müsse er widersprechen. Das gegenwärtige System sei gut, aber wer könne schon behaupten, dass es nicht besser werden könnte? Wenn man Cerf wortwörtlich folgen würde, könnte man auch die Chancen der Zukunft versieben. TCP/IP und der sogenannte "Legacy Root" seien nicht das Ende der Entwicklung des Internet. Er lud ein zu einer neuen Experimentierphase, wobei Auerbach allerdings mehr an die Techniker denn an die Diplomaten dachte.

Diese wiederum, sofern sie sich überhaupt äußerten, lavierten eher herum. Südafrika und Brasilien, zwei der neuen G 21, plädierten für ein wie auch immer geartetes völkerrechtliches Instrumentarium, das den Regierungen eine Art Mitentscheidungsrecht ermöglicht. Wie dies genau aussehen könnte, blieb jedoch diffus. "Governance" sei nicht "Government", räumte Brasiliens Sprecher ein. Keiner wolle sich in das Tagesgeschäft einmischen. Aber Regierungen müssten z.B. mitreden können, wenn es um ihre Landesdomain (ccTLD) gehe.

Ein völkerrechtlicher Vertrag für den Root?

Die Debatte konzentriert sich hier auf zwei Punkte: Einerseits auf die Kontrolle über das Root-Server-System und andererseits über die mehr im Bereich von Anwendungen liegenden Themen. Während es beim letzteren - Spam, Cybercrime, eCommerce - eigentlich wenig kontrovers zuging und allenfalls darum gestritten wird, in welchem Gremium man das Thema am besten verhandelt, ist die Root-Server-Frage verzwickt und delikat. Hier wird ein an und für sich banaler technischer Vorgang zum Politikum, weil sich darin etwas symbolisiert, was im UN-Kontext operierende Diplomaten die "letztendliche Entscheidungsmacht" nennen. Es war rein zufällig, dass im benachbarten Saal des UN-Sicherheitsrates gerade wieder einmal eine UN-Resolution zum Nahen Osten am Veto der US-Regierung scheiterte. Doch die Frage, ob es so etwas wie ein "Vetorecht" beim Internet gibt und ob man dann so etwas wie einen "UN-Internetrat" braucht, macht sich durchaus nicht zufällig auf den Verhandlungstischen der UN-Diplomaten breit.

Die Sache ist nicht ganz einfach zu bewerten. Einerseits besteht die sogenannte "Kontrolle" über den "Legacy Root", den die US-Regierung ausübt, in einem relativ unspektakulären "Checken" von "Zone Files" durch einen niederen Beamten des US-Handelsministeriums (Department of Commerce/DoC). Die Empfehlung, welche "Zone Files" aktualisiert, verändert, neu eingestellt oder herausgenommen werden sollen, kommt von ICANN/IANA. Wenn der Beamte in Washington "okay" sagt, wird der Manager des A-Root-Servers autorisiert, das "File" zu publizieren. Alle der mittlerweile über 40 Root-Server spiegeln dann diese Daten. Mehr ist da nicht. Das ganze basiert nicht auf einem Vertrag, sondern auf Vertrauen. Und noch nie wurde das Vertrauen missbraucht. Noch nie hat es einen echten Konflikt gegebe,n etwa dergestalt, dass die US-Regierung eine Empfehlung zurückgewiesen hätte oder von sich aus aktiv geworden wäre und den "Zone File" der Top-Level-Länder-Domain eines "Schurkenstaates" als eine Art Sanktion aus dem Root entfernt hätte.

Andererseits aber hat gerade diese Check-Funktion eine große symbolische Bedeutung. Sie ist so etwas wie der rote Knopf bei der Atombombe. Viele Regierungen hätten lieber das Vertrauen in einem Vertrag verankert. Beamte des US-Handelsministeriums haben schon seit einiger Zeit signalisiert, dass sie dieses Kontrollprivileg mittlerweile mehr als Bürde sehen, immerhin hat man sich damit die letztendliche Verantwortung für das Funktionieren des Internet aufgehalst. Inwiefern aber diese Bürde auf verschiedene Schultern verteilt, sprich mittels eines Vertrages "internationalisiert" werden könnte, das blieb auch nach der Diskussion in New York offen.

Das Szenarium ist ja allein rechtstechnisch kompliziert. Wie könnte denn ein solcher Vertrag verhandelt werden? Durch eine UN-Kodifikationskonferenz? Durch ICANNs beratenden Regierungsausschuss (GAC)? Durch individuelle Verhandlungen der US-Regierungen mit interessierten anderen Regierungen? Und selbst wenn dann ein vertragsähnliches Arrangement erreicht werden könnte, müsste dieses anschließend von den Parlamenten aller beteiligten Regierungen, d.h. auch den beiden Häusern des US-Kongresses, ratifiziert werden. Der US-Kongress hat sich in dieser Frage aber bislang eher anders herum positioniert. Vor drei Jahren wollte er z.B. untersuchen lassen, ob beim Internet amerikanisches Eigentum entstanden sei, da Forschung und Entwicklung ja mit amerikanischen Steuermitteln finanziert worden seien. Damals ging es um die Frage, ob die Clinton-Administration überhaupt berechtigt gewesen war, einige Kontrollfunktionen an ICANN abzugeben. Wie der Kongress auf eine "Internationalisierung der Root-Server-Kontrolle" reagieren würde, ist momentan eine reine Spekulationsfrage.

Zu erwarten, dass die Kofi Annans Arbeitsgruppe bis 2005, wenn der zweite WSIS-Gipfel in Tunesien stattfindet, schon probate Antworten bereit haben könnte, ist daher wohl unrealistisch. Im Übrigen muss sich die US Regierung auch erst 2006 positionieren, wenn der Vertrag mit ICANN ausläuft. Ob dann in einem Aufwasch für das ganze System ein neues Regime gefunden wird - durch die Gänge schwirren Begriffe wie GAC+ oder die Schaffung eines neuen Sektors bei der ITU, eine "ITU-I" - ist im Moment jedoch reine Kaffeesatzleserei. Und in den USA geht es erst einmal um die Präsidentschaftswahlen. Dann gibt es eine neue Administration. Und dann wird sich zeigen, was zwischen dem Weißen Haus und dem Kapitol politikfähig ist.

Insofern glich die Übung beim "Global Internet Governance Forum" in New York dem chinesischen Schattenboxen. Sie war kräftigend für Körper und Geist, bewegt aber wurde nichts. Auffällig war allenfalls, dass der große Antipode, die chinesische Regierung, sich weitgehend in Schweigen hüllte. Kein einziger der rund 100 Diskussionsbeiträge von Regierungsexperten, Wirtschaftsvertretern, Technikern, Akademikern und Netzaktivisten der Zivilgesellschaft kam von einem Chinesen. Immerhin, so die Prognosen, wird im Jahr 2010 jeder zweite Internetnutzer in der Welt ein Chinese sein. Die chinesische Vizeministerin für Wissenschaft und Technologie, Song De, schaute der Diskussion schweigend zu und verließ den Raum, ohne sich zu äußern.

Konsens von unten?

Nichtsdestotrotz verfestigen sich durch den kontinuierlichen Fortgang der Diskussion einige Eckpunkte. Zumindest bei den folgenden drei Themen wächst gewissermaßen von unten ein globaler Konsens.

  1. Erstens wird es wohl nicht dazu kommen, dass eine einzige Organisation für das gesamte Internet zuständig sein wird. Das Konzept eines dezentralen Netzwerkes von verschiednen Organisationen entspricht auch am ehesten der dezentralen Architektur des Internet. Ein solches Netzwerk benötigt kein einheitliches Entscheidungszentrum, Entscheidungen werden dort gefällt, wo Sachfragen auftreten. Ein solches System benötigt aber viel Konsultation, Koordination und Kooperation (Consultation, Coordination, Cooperation/C3). Dies hat bislang ganz gut funktioniert. Ob dieses System durch eine Art Institutionalisierung, einen "Internet Koordinierungsrat", verbessert werden kann, ist dabei eine offne Frage.
  2. Zweitens wird ein zukünftiges globales Internet Governance System auf dem sogenannten "Multistakeholder Approach" basieren, d.h. es werden daran sowohl Regierungen als auch der private Sektor und die Zivilgesellschaft beteiligt sein. Wie selbstverständlich mischten sich im ECOSOC-Plenarsaal, ansonsten den Botschaftern vorbehalten, staatliche und nicht-staatliche Vertreter selbst bei der Sitzordnung und den Namensschildern. Einige Regierungen mussten sich sogar mit Plätzen in den hinteren Reihen begnügen, während Mitglieder des zivilgesellschaftlichen Internet Governance Caucus mit persönlichem Namensschild in der ersten Reihe saßen. Die offene Frage hier wiederum ist, wie, wenn es zur Sache geht, die Gewichte zwischen den "Stakeholdern" verteilt werden.
  3. Drittens schließlich wird es keine "endgültige" Lösung geben. Die Lösung selbst ist ein Prozeß, der sich ändernden Rahmenbedingungen und neuen technischen Entwicklungen flexibel anpassen kann. Der Weg entsteht quasi beim Gehen.

Wie also weiter? Kofi Annan hat zunächst einen diplomatischen Schritt zur Seite gemacht. Umzingelt von Lobbyisten aller Art, die "ihre Leute" in die Arbeitsgruppe hineinbekommen wollen, hat er erst einmal ein Sekretariat für die noch gar nicht vorhandene Arbeitsgruppe gebildet und den Schweizer Diplomaten Markus Kummer, der seine Geschick in der Endphase des Genfer Weltgipfels bewies, zu dessen Leiter berufen. Kummer muss nun erst einmal sein Sekretariat aufbauen, Leute anheuern und einen Arbeitsplan aufstellen. Und dann wird Kofi Annan wahrscheinlich Markus Kummer fragen, wie er denn sich die Komposition der Gruppe vorstellen könnte. Und dann wird er entscheiden. Da geht Zeit ins Land.

Ungeduld ist aber fehl am Platze. Ob die Arbeitsgruppe nun noch vor der Sommerpause oder nach der Sommerpause das Licht der Welt erblickt, ist zwar nicht ganz egal, aber wichtiger ist fast, dass der begonnene seriöse Dialog online und offline fortgesetzt wird. Dieser Dialog könnte zum eigentlichen Politikentwicklungsprozess werden. Hier kann "von unten" wachsen, was dann "von oben" nur noch wenig verändert werden kann. Und so zieht die Expertenkarawane weiter, in den Cyberspace zum Online-Forum von "wsis-online.net" oder zum nächsten Weltkongress der "Internet Society", der im Mai 2004 in Barcelona dem Thema "Internet Governance" einen ganzen Tag widmet. Von dort geht es weiter nach Tunis. Ende Juni 2004 gibt es die erste Vorbereitungskonferenz für WSIS II. Und dann, im Juli 2004, auf nach Kuala Lumpur zur nächsten ICANN-Tagung. Panta Rei, alles fließt.

Chinesisches Schattenboxen ist die Bezeichnung einer Abfolge traditioneller chinesischer Körperübungen, die durch ihren fließenden Bewegungsablauf, ihre ausgeglichene Atmung und geistige Konzentration gekennzeichnet sind. Die im Westen geläufigen Namensformen für Chinesisches Schattenboxen sind die altchinesischen Schreibweisen Tai-Ji-Quan und Tai Ji Quan. Gemeinsam benennen sie alle das 'höchste Prinzip', das im Werden, Sein und (Ver-) Gehen von Ying und Yang - den elementaren Kräften des Universums - das Spiel der entgegengesetzten Polaritäten und deren Abhängigkeit voneinander widerspiegeln. Durch den harmonischen Fluss der Kräfte in den Bewegungen und seine meditative Wirkung auf den Geist trägt Chinesisches Schattenboxen zur Kräftigung des gesamten Organismus und zur Vorbeugung gegen Krankheiten bei.